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Europa – wohin?
Interview mit Kai Ehlers, Autor und Vortragsredner
In Europa befördern sich derzeit die zentrifugalen und zentralistischen Kräfte gegenseitig. Verschiedene Nationalstaaten streben auseinander, abgesehen vom Brexit gibt es Autonomietendenzen in Katalonien, in Schottland, in Oberitalien, Ungarn, Polen. Das ist zum einen Ausdruck davon, dass der europäische Koloss zu monopolistisch wird, zum anderen entstehen diffuse nationalegoistische Vorstellungen von „Wir“ und „Die“. Das ist der Kern des Populismus.
Was ließe sich aus der Geschichte lernen? Wir hatten zwei Weltkriege, die durch Konkurrenz und das Aufeinanderprallen der europäischen Nationalstaaten entstanden sind. Es war ein Kampf um die Weltressourcen. Heute werden die Ressourcen immer knapper und die Nationalstaaten, die darauf zugreifen wollen, sind vielfältiger geworden. Diese Entwicklung ist Katastrophen-, Krisen- und Kriegs-trächtig.
Wie können wir alle kooperativ, grenzüberschreitend an den Ressourcen teilnehmen und die Zivilisation so gestalten, dass wir miteinander eine neue Welt entwickeln und uns nicht gegeneinander abschotten? Wie können wir dabei den Staat in seiner übermächtigen Monopolmacht auf das reduzieren, was er sein sollte, nämlich das Zusammenleben hier vor Ort zu organisieren?
Kai Ehlers, geb. 1944, studierte Geschichte, Publizistik und Theaterwissenschaften in Göttingen und Berlin, war aktiver Teilnehmer der außerparlamentarischen Opposition von 1968 (APO) in Berlin, lebt seit 1971 als politischer Journalist in Hamburg. Seit 1983 ist er zunehmend unterwegs in der Sowjetunion/Russland, darüber hinaus auch in Zentral- und Innerasien. Er ist als Buchautor tätig, als selbstständiger Radio- und Pressejournalist sowie Veranstalter von Vorträgen, Seminaren und Projekten rund um die Frage der nachsowjetischen und eurasischen Wandlungen und deren soziale, politische und kulturelle Folgen innerhalb Russlands, aber auch in den internationalen Beziehungen. In den letzten Jahren beschäftigte er sich zunehmend mit der Frage, was aus der russischen Transformation für die Diskussion um Alternativen in Deutschland, bzw. auch im Prozess der Globalisierung zu lernen sein könnte. Dabei konzentriert er sich in zunehmendem Maße auf die Frage, was Menschenwürde in unserer globalisierten Welt von heute und in Zukunft bedeuten und wie sie gewahrt und entwickelt werden kann. www.kai-ehlers.de; E-Mail:
Christine Pflug: Was ist unter „Europa“ zu verstehen?
Kai Ehlers: Was heute unter Europa verstanden wird, ist nur eine politische Organisation, die „Europäische Union“, knapp: EU, mit konkreten Zielsetzungen. Europa hat natürlich eine viel längere Geschichte, gut 2.000 Jahre, es ist mehr als die EU – Europa ist eine kulturelle „Gewordenheit“.
Viele meinen, dass die Entwicklung der EU nach 1945 ein demokratisches Projekt sei – Stichwort: „Nie wieder Krieg“. Ja, mit der EG, später EWG, sollte eine Form gefunden werden, Konflikte zwischen Nationalstaaten durch wirtschaftliche Verflechtungen zu überwinden, die über die Grenzen hinausgehen. Zugleich war das Projekt allerdings auch Bollwerk gegen den Kommunismus.
Die “großdeutsche“ oder die „kleindeutsche“ Variante?
C. P.: Bevor wir auf die Gegenwart schauen: Was waren die markanten Ereignisse in der Entwicklung Europas? Und in Bezug auf die zwei Weltkriege: Welche Versäumnisse gab es?
K. Ehlers: Wir hatten zwei Weltkriege, die durch das Aufeinanderprallen der europäischen Nationalstaaten entstanden sind. Wie konnten diese Nationalstaaten mit ihrer gegenseitigen Konkurrenz und Monopolmacht, die das gesamte Leben bestimmten, entstehen?
Ein wichtiges Datum ist der westfälische Frieden 1648. Nach dem 30-jährigen Krieg wurde so etwas wie eine überstaatliche Ordnung hergestellt. Nach wie vor blieb Europa eine in Fürstentümer aufgegliederte Entität, aber mit dieser Rechtsgrundlage. Mit der französischen Revolution wurde diese Ordnung durchgefegt. Napoleon schob die Kleinteiligkeit des Feudalismus beiseite. Die großen Fürstentümer wie Preußen und Österreich-Ungarn überstanden diese Zeit. In dieser Umbruchphase Mitteleuropas lebten die deutschen Idealisten Goethe, Schiller, Fichte, Novalis und ihre Kultur. Diese Situation hielt bis zur deutschen Revolution von 1848. Damals erstarkte auch im deutschen Raum der Kapitalismus, für den die Zölle eine Beschränkung waren. Man suchte nach großräumigen Formen, die dieser neuen Wirtschaftslage Raum geben konnten. Das Bürgertum wehrte sich gegen die Zölle – das war der Inhalt der Revolution. In der Frankfurter Paulskirche wurde diskutiert: Welche Entwicklung wählen wir – die “großdeutsche“ oder die „kleindeutsche“ Variante? Die großdeutsche hätte Österreich, Preußen und die noch existierenden kleineren Fürstentümer in einem Großraum Deutschland zusammengeführt. Die kleindeutsche bedeutete, Trennung zwischen dem Vielvölkerstaat Österreich und einem starken Nordeuropa unter preußischer Führung. Für diese Variante fiel dann die Entscheidung. Das hieß Ausschluss Österreichs aus einer gemeinsamen mitteleuropäischen Entwicklung. Die pluralen Elemente, die sich in Mitteleuropa hätten entwickeln können, wurden zugunsten eines starken Deutschen Reiches gekappt. Man hatte dem preußischen König sogar die Kaiserkrone angeboten, die er aus der Hand des „Pöbels“ anzunehmen ablehnte. Sein Kanzler Bismarck nahm dann die Sache in die Hand; er führte die Vereinigung der norddeutschen Fürstentümer mit Gewalt durch – Kriege gegen Dänemark, Hannover, Österreich, Frankreich. Es war die ‚Politik der eisernen Faust‘, mit der er das Deutsche Reich geeinigt hat.
Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachen, Ethnien, Kulturen
C. P.: Wurde durch diese kleindeutsche Lösung versäumt, dass die Menschen in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachen, Ethnien, Kulturen das Zusammenleben erlernten?
K. Ehlers: Das ist der eigentliche Kern des Geschehens. Österreich-Ungarn stand ja für diese Vielvölkerpluralität; außerdem war dort Verwandlung angesagt, wie man diesen in die Krise kommenden Föderalismus in ein starkes Mitteleuropa hätte einbringen und da neu entwickeln können. Von dieser Pluralität hat man sich im Interesse einer ökonomischen Effektivität getrennt. Stattdessen wurde die Vereinheitlichung des deutschen Nationalstaates mit militärischer Gewalt und Repression vorangetrieben. Am Ende dieser Entwicklung stand die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Ferdinand, der Vorstellungen zur Umwandlung der österreich-ungarischen Monarchie hatte. Er stand damit den Kräften im Wege, die kein lebendiges Mitteleuropa wollten. Seine Ermordung war der Startschuss für den Ausbruch des ersten Weltkrieges.
C. P.: War die kleindeutsche Entwicklung dann verbunden mit einem starken Nationalgefühl?
K. Ehlers: Ja, für ein einheitliches Deutsches Reich. Verbunden damit war ein wirtschaftlicher Aufschwung in Nordeuropa. Diese neue Zentralmacht wurde für die anderen Länder schnell zur Konkurrenz: Die Briten und Russen fühlten sich bedrängt, die Franzosen waren geschlagen. Anfang des 20. Jahrhunderts wollte sich das Deutsche Reich noch als Imperialmacht in die Aufteilung der Welt einklinken, obwohl die meisten Gebiete schon kolonisiert waren. Grundlage dafür war die rasante Entwicklung des Kapitalismus und der Industrialisierung. Die Deutschen wollten an der Verteilung der Ressourcen teilhaben. Letztlich war der erste Weltkrieg dann ein Kampf um die Ressourcen.
dieser Krieg war entstanden durch den Zusammenprall der imperialen Nationalstaaten, in ihrem Zugriff auf die Weltressourcen
C. P.: Und wieso kam es dann noch einmal zu einem weiteren Weltkrieg?
K. Ehlers: Nun ja – nach 1918 war klar, dass dieser Krieg entstanden war durch den Zusammenprall der imperialen Nationalstaaten, in ihrem Zugriff auf die Weltressourcen. Und es war auch klar, dass sich das nicht hätte wiederholen dürfen. Dafür gab es nach Kriegsende verschiedene Vorstellungen:
Der Plan von Woodrow Wilson, Präsident des eigentlichen Kriegsgewinners USA, sah vor, dass man die überkommene Kolonialstruktur, samt der Vielvölkerreiche auflösen und eine neue Völkerordnung herstellen müsse unter dem Stichwort der nationalen Selbstbestimmung der Völker. Diese neue Völkerordnung sollte die Friedensordnung sein. Real verbarg sich dahinter nur der Anspruch, die Welt auf eine andere Weise zu beherrschen als vorher, denn die neuen Nationalstaaten waren abhängig von ihren ehemaligen Imperialmächten. Die Grenzen zwischen den neuen Nationalstaaten wurden zudem ohne Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten mit dem Lineal gezogen. Das ließ ethnische Säuberungskriege, Abhängigkeiten usw. entstehen, die praktisch zum nächsten Weltkrieg führten. Hitler griff dann auf die ungeklärten Grenzfragen im deutschen Osten oder im Ruhrgebiet zu. Die scheinbar fortschrittliche Entwicklung nach 1918 hatte das, was man überwinden wollte, gerade zum Prinzip erhoben: den einheitlichen Nationalstaat; die „Großen“ hatten das Sagen, die „Kleinen“ mussten sich danach richten und alle standen in Konkurrenz zueinander.
Einen anderen Weg schlugen die russischen Revolutionäre ein: Sie wollten diese Art von kapitalistischem Imperialismus überwinden und eine Gesellschaft der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit errichten. Was ist geschehen? In der Sowjetunion hat sich das gleiche Prinzip durchgesetzt: Das nationalstaatliche Prinzip wurde auf den Vielvölkerpluralismus drauf gesetzt. Lenin hatte die Selbstbestimmung der Völker mit übernommen, aber Stalin hat die Grenzen genauso mit dem Lineal gezogen und verschoben, wie es in der westlichen Welt geschehen war. Es wurde derselbe Fehler gemacht, nämlich eine Nationalstaatskonstruktion aufzubauen, die in Konkurrenz zu anderen Nationalstaaten um die Ressourcen der Welt kämpft. Mehr noch: Das Nationalstaatskonzept wurde durch den Weltkrieg zum Totalstaat erhoben; die Entdemokratisierung der Verhältnisse war damals allgemein, die Wege Hitlers und Stalins waren nur das Extrem. Anstatt die Nationalstaatskonstruktion abzubauen, die schon einmal zu Krieg geführt hatte, wurde sie noch mal erhöht.
das wirtschaftliche, das kulturelle und das politische Leben sollten in eine Unabhängigkeit voneinander gebracht werden
C. P.: Zu dieser Zeit kam Rudolf Steiner auch mit der sozialen Dreigliederung …
K. Ehlers: Ja, das war die dritte Lösungsvariante. Sie wurde damals von Rudolf Steiner vorgeschlagen. Nach der Katastrophe von 1918, trug er vor, angesichts der globalen Entwicklung der Weltwirtschaft, der weltumspannenden geistigen und kulturellen Entwicklung, sei es notwendig, diesen Umständen Rechnung zu tragen und diese nationalstaatliche Begrenzung zu überwinden. Das wirtschaftliche, das kulturelle und das politische Leben sollten in eine Unabhängigkeit voneinander gebracht werden, zwar miteinander verbunden, aber so, dass sie sich unabhängig voneinander entwickeln könnten; dadurch sollte der Monopolstaat entflochten werden. Es gab großen Beifall für diese Vorstellung in deutschen und auch österreichischen Regierungskreisen, nur leider fehlte der Mut zur Umsetzung. Es gab auch konkrete Ansätze, die mit der Dreigliederungs-Bewegung „von unten“ gewachsen waren, aber sie konnten der Restauration, der Repression und der kriegerischen Entwicklung ebenso wenig standhalten wie die anderen beiden Varianten. Alle drei Versuche, Folgerungen aus dem Weltkrieg zu ziehen, endeten in der Totalisierung des Staates.
Nie wieder Nationalismus! Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
C. P.: Wie war es nach 1945?
K. Ehlers: Damals war alle Welt davon überzeugt: Nie wieder Nationalismus! Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Die Überzeugung war tief, der Schock war groß. Die EG, EWG, die Vorläufer der EU wurde in der Einsicht gegründet, dass eine Konkurrenz zwischen den Nationen vermieden werden könne, wenn man eine wirtschaftliche Verflechtung einleitet, die über die nationalen Grenzen hinausgeht. Das war der Grundgedanke der EG und EWG. Das war ein sehr guter Schritt! Die andere Seite dieses Schrittes war, dass die EWG, wie schon gesagt, aus amerikanischer Sicht als Bollwerk gegen den Kommunismus gedacht war; dadurch wurde schon wieder eine Blockbildung, ganz anderer Art, inszeniert.
Das deutsche Grundgesetz ist das beste Grundgesetz, das es gibt
Ganz konkret auf Deutschland bezogen: Das deutsche Grundgesetz ist ein guter Wurf, es ist das beste Grundgesetz, das es gibt. Es hat Elemente, die durchaus mit einer Entflechtung staatlicher Allmacht zu tun haben, z. B. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, die Sozialverpflichtung des Eigentums, die Freiheit von Forschung und Lehre. Es sind Elemente, als wären sie eine Fortsetzung der Gedanken, die seinerzeit von Steiner und auch von anderen entwickelt worden sind. Aber was ist draus geworden?
C. P.: Wo stehen wir heute?
K. Ehlers: Heute haben wir beispielsweise Emmanuel Macron, den überaus aktiven neuen französischen Präsidenten, der großen Beifall findet; er will eine „souveräne europäische Union“. Die EU ist aber kein Staat, sondern eine plurale Vereinigung verschiedener Nationalstaaten, die zudem gegenwärtig auseinanderstreben – Brexit, Katalonien, Schottland; auch in Oberitalien, Ungarn, Polen gibt es Autonomietendenzen. Das ist ein Ausdruck davon, dass dieser europäische Koloss zu monopolistisch wird. Da befördern sich die zentrifugalen und zentralistischen Kräfte gegenseitig. In dieser Situation, in der wir alle von der Krise Europas reden, gibt Macron das Stichwort der „souveränen europäischen Union“. Aber diese kann gar nicht souverän sein, weil Souveränität per Definition ein Element des Nationalstaates ist. Was meint er also? Er hat einen europäischen Zentralstaat vor Augen, und genauso argumentiert er auch, d. h., die Vereinheitlichung der Europäischen Union als Block, der in der Welt wieder etwas darstellt. Das ist das Konzept, das auf allen herrschenden Ebenen bejubelt wird: eine zentralistische europäische Union, die Schluss macht mit den Eigenmächtigkeiten ihrer Glieder. Aber das ist ein Widerspruch in sich: Es kann keine Souveränität der EU geben, solange die Souveränität bei den Nationalstaaten liegt und diese ihre Souveränität nicht abgeben wollen. Danach strebt aber derzeitig dieser Brüssel-Koloss angesichts der zentrifugalen Tendenzen, die nicht zu übersehen sind. Es ist eine widersprüchliche Bewegung.
C. P.: Ist das unter anderem auch der Grund, warum derzeit die populistischen Tendenzen zunehmen?
K. Ehlers: Das Wort „Populismus“ erklärt nichts; es ist ein Euphemismus, der die Tatsachen, um die man sich kümmern müsste, verschleiert und auf eine schwarz-weiß-Skizze einschränkt.
diffuse nationalegoistische Vorstellungen von „Wir“ und „Die“
Es gibt alle möglichen Tendenzen: Zum einen haben Menschen Angst, zentral vereinnahmt zu werden, nicht zu ihrem Recht zu kommen, etwas abgeben zu müssen – also diffuse nationalegoistische Vorstellungen von „Wir“ und „Die“. Das ist der Kern des Populismus. Zum anderen gibt es eine berechtigte Kritik an dem monopolistischen Anspruch Brüssels; auch eine berechtigte Kritik daran, dass mit der Ausländerfrage ganz verlogen umgegangen wird. Im Zuge der Regierungsbildungskrise traten verschiedene Leute auf und meinten, dass das ein Problem der Flüchtlingsfrage sei. Es wird auf die Regierung eingetrommelt, dass sie zu viele Flüchtlinge rein ließe. Zur gleichen Zeit aber machte der Chef des Unternehmerverbandes klar: „Wir brauchen mehr Zuwanderer. Unsere Wirtschaft boomt!“. Es geht also darum, qualifizierte Flüchtlinge ins Land zu lassen, nicht-qualifizierte sollen draußen bleiben! Und uns wird vorgemacht, dass es ein „Flüchtlingsproblem“ gäbe. … Abgesehen davon, dass dieses Flüchtlingsproblem ein Produkt dieser Regierung ist, die in die Länder, wo die Flüchtlinge herkommen, ihre Waren und Waffen exportiert und damit dort die Wirtschaft zerstört. Vor diesem Hintergrund ist das ganze Gerede, dass man an dem „Flüchtlingsproblem arbeite“, unheimlich verlogen. Wenn unsere Bundeskanzlerin nach Nigeria geht, wird darum verhandelt, dass nicht alle kommen, sondern nur die Ausgebildeten. Und diese Länder dort müssen dann noch die Ausbildungskosten tragen.
C. P.: Die AFD-Wähler, vorwiegend in den neuen Bundesländern, sagen im Prinzip, dass die Flüchtlinge versorgt werden und sie selbst zu kurz kommen.
K. Ehlers: Es ist eine wirtschaftliche Angst und auch eine kulturelle. Das Problem ist die nationalistische Wurzel: „Wir müssen dafür sorgen, dass es uns besser geht als den anderen.“ Es wird eine Konkurrenzsituation hergestellt, statt die Ressourcen so zu organisieren, dass wir alle kooperativ, grenzüberschreitend daran teilnehmen können und die Zivilisation so zu gestalten, dass wir miteinander eine neue Welt entwickeln – und uns nicht gegeneinander abschotten. Wir müssen den Staat von einem monopolistischen Monster auf das reduzieren, was er kann, nämlich das Zusammenleben hier vor Ort zu organisieren.
wir haben die totale Vernetzung, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig
C. P.: Wären wir damit wieder bei der Dreigliederung?
K. Ehlers: Ja, notwendigerweise! Aber welche Formen könnten solche Vorstellungen, wie sie Steiner damals hatte, heute annehmen? Man kann keine Eins-zu-eins-Übersetzung vornehmen, wohl aber die Grundidee, die Wirtschaft nach ihren eigenen Gesetzen arbeiten zu lassen, grenzüberschreitend, mit Rückbindung an die regionale Wirtschaft und dem Blick auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen. Wir haben heute eine globale geistige, zivilisatorisch-wissenschaftliche Situation – da gibt es keine nationalen Wissenschaften mehr, bis hin zur Ökologie, Biogenetik, Biotechnik etc. Wir haben die totale Vernetzung, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig. Das jetzt verstärkt national abzugrenzen – „Make America greater, make Britain greater, make Russian greater…“ – ist ein Schritt in die falsche Richtung.
diese Entwicklung ist Katastrophen-, Krisen- und Kriegs-trächtig
C. P.: Und wie man am Brexit sieht, schadet sich die Bevölkerung selbst …
K. Ehlers: Es ist zum Scheitern verurteilt, alleine aus wirtschaftlichen Gründen. Der erste Weltkrieg war eine Ressourcen-Konkurrenz im Sinne der imperialen Aufteilung, der zweite Weltkrieg war ebenfalls ein Ressourcenkrieg – „Volk ohne Raum“. Und jetzt? Die Ressourcen werden immer knapper, die Nationalstaaten, die darauf zugreifen wollen, sind vielfältiger geworden. Diese Entwicklung ist Katastrophen-, Krisen- und Kriegs-trächtig.
Die Einsicht müsste da sein, dass eine lebensförderliche Entwicklung nur stattfinden kann, wenn die Ressourcen gemeinwirtschaftlich und global bewirtschaftet werden. Wenn das nicht passiert, fahren wir direkt gegen die Wand.
Meine Frage dazu: Reichen zweimalige historische Erfahrungen, oder muss erst noch die nächste Katastrophe kommen damit die Menschheit erkennt, dass es so, wie es jetzt läuft, nicht weitergehen kann?
Überall wird aufgerüstet, eine neue Rüstungsspirale beginnt. Selbst Russland, das eine krisenabwehrende Rolle einnehmen möchte, sieht sich gezwungen aufzurüsten; auch die Chinesen rüsten auf. Alles andere sind Worte. Wenn wir Frieden haben wollen in der Welt, muss diese Nationalstaatskonstruktion überwunden werden. Das ist das Kernproblem: Unsere Gesellschaft ist heute einfach falsch, angesichts der Notwendigkeiten könnte man auch sagen, rückständig organisiert.
C. P.: Und wie kommt man aus dieser Sackgasse heraus? Jeder kann nur in seinem eigenen Umfeld anfangen …
K. Ehlers: Da kommen wir in den Bereich der geistigen Ertüchtigung, um das mal etwas altbacken zu formulieren. Jeder muss darüber nachdenken: Wo ist mein Ort in dieser auf Konkurrenzkampf orientierten Welt? Wie kann ich selbst dem entgegenwirken, soll heißen: jede Form von Konkurrenz und Nationalismus aufdecken, die Gefahr dieser Entwicklung aufdecken und mich selber anders verhalten? – Einfach gesagt: Ich muss meine Arbeit so tun, dass sie anderen nützt. Das ist die Formel, die Steiner schon vor hundert Jahren entwickelt hat.
C. P.: Es gibt heute in vielen Bereichen Solidargemeinschaften, z. B. im Gesundheitssystem, Regionalgeldwährungen, Wohnprojekte etc.. Sind das Ansätze?
K. Ehlers: Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, wo etwas getan werden kann, selbst im kleinsten Dorf, das seine eigene Wirtschaft in die Hand nimmt, ökologischen Anbau betreibt, aber nicht nur für sich, sondern im Interesse der regionalen Konsumenten. So kann von unten, vom Eigenen her mit Blick auf das Ganze, auf die anderen etwas aufgebaut werden, was Elemente der solidarischen Zukunftswirtschaft enthält.