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Wenn Grenzen verletzt werden …
Interview über Gewalt und Gewaltprävention
mit Roswitha Willmann und Annette Willand vom Bernard Lievegoed Institut
„Gewalt“, „Gewaltprävention“ und „Kinderschutz“ sind Themen, die in Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Heimen zunehmend bewegt werden. Das Bernard Lievegoed Institut beschäftigt sich seit vielen Jahren innerhalb der Elternberatung und Diagnostik, in Weiterbildungen und Kollegiumsfortbildungen für Pädagogen und Sozialtherapeuten mit dieser Thematik.
Interviewpartnerinnen:
Roswitha Willmann ist Mitglied in der Fachstelle für Gewaltprävention von Anthropoi und Dozentin im Bernard Lievegoed Institut. Sie macht darüber hinaus Entwicklungsdiagnostik und -beratung für Schulkinder, Kindertherapie, Biografie- und Paarberatung, Rhythmische Massage, Mediation und Supervision.
Annette Willand ist Diplompsychologin und Dozentin im Bernard Lievegoed Institut. Außerdem macht sie dort Entwicklungsdiagnostik und -beratung für Babys, Krippen- und Kindergartenkinder, Kindertherapie, Embodiment-Concept sowie Psychologische Diagnostik und Gutachten.
Ihr bietet im nächsten Jahr eine neue Fortbildung an: „Gewaltprävention und Kinderschutz“ in Institutionen wie Schule, Kindergarten, Heimen.
„Gewalt“ ist ja ein großer Begriff. Was umfasst dieser Begriff? Wo beginnt Gewalt gegenüber Kindern?
Annette Willand: Woran die meisten Menschen bei Gewalt gegenüber Kindern denken, ist körperliche und sexualisierte Gewalt. Das ist das, was bekannt ist; gerade in den eindeutigen Formen. Was weniger bekannt ist, aber dennoch stattfindet – in Familien, Einrichtungen wie Kindergarten, Schule, Heimen – sind ja auch seelische Übergriffe, wie z.B. abwertende Äußerungen oder Gesten oder das Bloßstellen vor anderen. Und es gibt strukturelle Gewalt, etwa wenn Regeln nicht klar sind, willkürlich geändert werden oder aber wenn sie zu streng und einengend sind.
ein Bewusstsein und eine Wahrnehmung dafür entwickeln, wo bereits eine Grenzverletzung stattfindet
Ebenso ist vielen nicht bewusst, wo eigentlich körperliche oder sexualisierte Gewalt bereits beginnt, d.h. es geht auch darum, ein Bewusstsein und eine Wahrnehmung dafür zu entwickeln, wo bereits eine Grenzverletzung stattfindet. Das erleben Kinder wie auch Erwachsene im Grauzonenbereich (also da, wo Gewalt beginnt) durchaus unterschiedlich.
Roswitha Willmann: Im Grunde genommen kann man sagen: Gewalt fängt immer da an, wo jemand das Gefühl hat, seine Grenze wird von einem anderen überschritten oder verletzt. Und das erleben Kinder wie auch Erwachsene im Grauzonenbereich (also da, wo Gewalt beginnt) durchaus unterschiedlich. Es gibt bei körperlicher Gewalt ja z.B. nicht nur das Schlagen, was allgemein als grenzverletzend erlebt wird, sondern auch ein Zu-Fest-Anfassen. Und da kann das, was für den einen angenehm oder zumindest noch vertretbar ist, für den anderen bereits eine schlimm sein.
Was genau macht Gewalt mit Kindern?
Willmann: Wenn Kinder Gewalt erfahren, erleben sie sich nicht mehr sicher in sich selbst. Sie können dann oftmals ihre eigenen Grenzen und die der anderen nicht mehr gut wahrnehmen. Das sieht man dann z.B. in einem auffälligen Nähe-Distanz-Verhalten.
Dann lebe ich in permanenter Angst.
Willand: Wenn ich Gewalt erlebt habe, dann fühle ich mich schutzlos, insbesondere, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Übergriffe wiederholen. Dann lebe ich in permanenter Angst. Und das macht ungeheuer Stress. Die Kinder können oft schlecht schlafen, sich schlechter konzentrieren, sind schneller aggressiv oder traurig, eventuell ziehen sie sich auch zurück. Wenn es Bezugspersonen wie Eltern, Erzieher oder Lehrer sind, von denen die Übergriffe ausgehen, dann kommt der enorme Vertrauens- und Bindungsverlust hinzu, was die Kinder noch weiter verunsichert.
Es gibt Handlungsbedarf.
Woraus entstand der Impuls, diesen Kurs jetzt anzubieten?
Willmann: Wir hören in der Elternberatung immer wieder von Situationen in Schulen, aber auch in Kindergärten, wo Kinder Gewalt und Übergriffe von Seiten der Pädagog*innen erleben. Wir sehen Kinder, die von anderen Kindern gemobbt werden und die Erwachsenen tun nichts. Wir sprechen mit Eltern, die nicht wissen, wen sie in der Schule oder im Kindergarten ansprechen können. Wir sprechen mit Pädagog*innen, denen „es passiert“ und die es gerne stoppen möchten. Und wir erleben immer wieder Einrichtungen, die Übergriffe nicht beenden und bearbeiten. Es gibt also Handlungsbedarf.
von den Behörden aufgefordert, Kinderschutzkonzepte zu entwickeln
Willand: Darüber hinaus ist das Thema ja auch deswegen akut: Kindergärten und allgemeinbildende Schulen sind von den Behörden aufgefordert, Kinderschutzkonzepte zu entwickeln. Gerade in Waldorfkollegien wirft das gerne mal die Frage auf: Erstellen wir jetzt ein Konzept, lediglich um die Vorgaben der Behörde zu erfüllen, da wir meinen, Waldorfpädagogik braucht keine (weitere) Gewaltprävention? Oder wollen wir die geforderten Bausteine zur Gewaltprävention wirklich umsetzen und leben? Und das ist ein ganz spannender Punkt, wo der Prozess der Selbstreflektion beginnt – sowohl als einzelner, als auch als Kollegium – beginnend mit: Auch wir Pädagogen in der Waldorfpädagogik brauchen Gewaltprävention und zwar auch in Bezug auf unser eigenes Verhalten!
Dann kommen einige Erfordernisse der Gewaltprävention in Konflikt mit den Traditionen.
Na, und dann geht es erst richtig los, denn dann kommen einige Erfordernisse der Gewaltprävention in Konflikt mit den Traditionen, den selbstverwalteten Strukturen und/oder der Gesprächskultur der Einrichtung. Da gibt es oft viel Angst und Widerstände. Ja, und da beobachten wir dann eben auch immer wieder, dass der Entwicklungsprozess stoppt und Kolleg*innen, denen das Thema eigentlich sehr am Herzen liegt, irgendwann aufgeben. Und da würden wir gerne unterstützen.
Was ist Euer Ziel mit dem Kurs?
zunehmend mit sogenanntem „herausforderndem Verhalten“ konfrontiert
Willmann: Pädagog*innen sind ja heutzutage unglaublich gefordert und zunehmend mit sogenanntem „herausforderndem Verhalten“ konfrontiert. Mit dem Kurs möchten wir also nicht nur sensibilisieren in Bezug auf übergriffiges Verhalten, sondern auch Hilfestellung für einen pädagogischen Umgang mit Kindern geben, die ein solches Verhalten den Pädagogen oder anderen Kindern gegenüber zeigen.
Willand: Und wir möchten, dass Gewalt in den Kollegien besprechbar wird, dass das Thema aus der Tabuzone herauskommt. Erst dann kann man Gewalt benennen und beenden; erst dann kann man Hilfe holen und helfen.
Natürlich würden wir auch über die Teilnehmer gerne Impulse in die Kollegien bringen, Gewaltprävention in ihren Einrichtungen tatsächlich weiterzuentwickeln und umzusetzen.
Was genau könnt Ihr denn da den Teilnehmern weitergeben, wie kann das funktionieren?
Willand: Es beginnt mit Wissen. Und mit Worten für das, was wir da erleben.
Willmann: Und mit Selbstreflektion: Dass ich wahrnehme, wenn ich übergriffig bin und meine Haltung nicht mehr pädagogisch, sondern emotional ist. Und dass ich mitbekomme, wie die Kinder oder Betreuten auf mein Verhalten reagieren: Ob sie sich erschrocken haben, Angst zeigten, sich zurückgezogen haben o.ä. Also wahrzunehmen, was mir da eigentlich passiert, um mich selber und auch die Kinder zu schützen.
Willand: Zur Selbstreflektion gehört auch, mich ein Stück weit mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, also zu erkennen, wo meine wunden Punkte sind, an denen mich das Verhalten von Kindern „triggert“.
Strukturen reflektieren und verändern
Ebenso ist es natürlich wichtig, Strukturen zu reflektieren und zu verändern, die Pädagog*innen regelmäßig in Überforderung bringen und dadurch Übergriffe befördern, oder aber, die eine Beendung und Bearbeitung und damit auch die Prävention von Gewalt erschweren.
Was würdet ihr ganz konkret Menschen als ersten Schritt raten, die sensibler in Bezug auf eigene Übergriffigkeit gegenüber Kindern werden möchten?
Willmann: Sich abends zurückbesinnen: Hatte ich heute in allen Situationen die Kontrolle? War ich immer in einer pädagogischen Haltung? Wann habe ich vielleicht auch aus dem Affekt heraus reagiert? Nicht bewerten, nur wahrnehmen! Und das vier Wochen lang!
Nur wahrnehmen und annehmen, was ist.
Willand: Genau, das ist der allererste Schritt: Nur wahrnehmen und annehmen, was ist. Denn erst dann können wir Worte dafür finden und anfangen, darüber zu reden.
Und vielleicht noch ein Zweites: Man braucht Mut! Mut, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Mut, Gewalt und Übergriffe, die Notwendigkeit von Gewaltprävention in Kollegien anzusprechen. Mut, sich für so einen Kurs anzumelden und damit zu sagen: „Ja, das ist ein Thema für mich!“ Und: „Ja, das ist auch ein Thema hier bei uns!“
Das Interview führte Catharina Fleckenstein