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Wer bin ich? Was ist mein Weg?
Die zweite Geburt in der Biografie (Teil I)
Vortrag von Dr. med. Michaela Glöckler
Wir leben drei Leben: unser ganz persönliches Leben, unser soziales Leben und unser Leben als Zeitgenosse*in, durch das wir am Schicksal der ganzen Menschheit Anteil haben. Allen drei Wege provozieren die Frage nach der eigenen Identität: Wer bin ich? Wie werde ich von den Menschen in meinem Umkreis gesehen? Was ist der Mensch – was heißt es für mich, ein Mensch zu sein oder besser: ein Mensch zu werden? Wie kann man ein Selbstverständnis finden, das einen festen Mittelpunkt in sich selber hat, der nicht mehr zu verunsichern ist, der so stabil ist, dass man ihn sogar durch die Todespforte tragen kann? Es gibt in den spirituellen Traditionen und auch im Christentum die wunderbare Lehre von zwei Geburten und von zwei Toden, man kann zweimal geboren werden und zweimal sterben.
Vorliegender Text ist eine Zusammenfassung eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß «Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis».
Dr. med. Michaela Glöckler, Kinderärztin; bis 1987 am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke und schulärztliche Tätigkeit an der Rudolf Steiner Schule Witten; 1988 bis 2016 Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum/Schweiz; Mitbegründerin der Alliance for Childhood und der Europäischen Allianz von Initiativen angewandter Anthroposophie/ELIANT; internationale Vortrags- und Seminartätigkeit; diverse Publikationen zu Fragen der Medizin, Pädagogik, Erziehung, u.a. Mitautorin der bekannten Erziehungsratgeber «Kindersprechstunde» und «Elternsprechstunde»; mit der Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie seit deren Initiierung in den 1980er-Jahren durch den Psychiater Bernard C. Lievegoed verbunden.
„Biografiearbeit als ein Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“. Wenn man diesen Titel des Vortrages bedenkt, kann man das Wort „neu“ irritierend finden: Wieso müssen wir unser Selbstverständnis in ein altes und ein neues gliedern?
Wenn wir unsere menschliche Lebenszeit, die heute ungefähr 80 Jahre dauert, vergleichen mit der Lebenszeit von Tieren und Pflanzen, können wir einen deutlichen Unterschied beobachten. Die Lebenszeit bei Tieren und Pflanzen ist von der Natur wunderbar geregelt, d. h. wer nicht lebensfähig ist, geht in den Kreislauf der Natur zurück. Da gibt es keine Geburtshilfen oder Kliniken, keine erzieherischen und entwicklungsfördernden Maßnahmen; es gibt nur die natürliche Zuwendung der Muttertiere zu den Jungen. Alles ist großartig vom Instinkt her gesteuert. Und wenn keine Katastrophen oder andere Eingriffe passieren, haben die verschiedenen Arten eine für sie typische Lebenszeit. Tieren sterben in der Regel, wenn sie sich nicht mehr ernähren können, oder sie werden gefressen, weil sie in der Nahrungskette für andere Lebenswesen Futter sind.
weil alles davon abhängt, welche Lernprozesse uns ermöglicht werden
Und das ist bei uns Menschen vollkommen anders: Die Lebenszeiten sind verschieden, durch Krankheit, Unfälle und Schicksalseingriffe ist unser Leben individuell begrenzt. Der Hauptunterschied, und das hat schon Platon in seinem Dialog Timaios ausgeführt, besteht darin, dass wir als Menschen defizitär sind. Wir haben im Vergleich zu Tieren ein enormes Instinktdefizit, d. h. von Natur aus können wir nur wenig zu unserer Entwicklung beitragen, weil alles davon abhängt, welche Lernprozesse uns ermöglicht werden durch ein mehr oder weniger entwicklungsförderndes menschliches Umfeld. Mit dieser Tatsache des Defizitären gliedert sich die menschliche Biografie von vorneherein in drei wesentliche Grundorientierungen, man könnte auch sagen: Wir leben drei Leben. Das ist als erstes ein persönliches Leben: wie wir uns selbst erleben, welche Identität wir uns im Laufe des Lebens zusprechen. Wir erleben uns als Kind oder in der Pubertät völlig anders, auch anders, wenn wir verliebt sind und geliebt werden oder gerade von jemand verlassen werden; wir erleben uns verschieden je nach unserem Beruf und auch, wenn wir diesen wechseln; das Selbsterleben geht bis dahin, dass manche ihre eigenes Geschlecht infrage stellen. Wenn wir im Laufe unserer Entwicklung zurückblicken, haben wir dieses alte Selbstverständnis geändert, umdefiniert, gewandelt, und wir stellen uns immer wieder neu infrage und unsere Identität ist nicht sicher. Sie ist abhängig davon, wo wir gerade stehen.
Wir erleben ein zweites Selbstbild, das auch wechselt und wandelbar ist, je nachdem, wie das soziale Umfeld auf uns reagiert. Wenn wir viel Bejahung bekommen, entwickeln wir ein kräftiges Selbstgefühl und es geht uns gut, aber wir machen uns auch abhängig von dieser Bejahung. Man kann feststellen, welche riesige Angst man vor Anerkennungsentzug hat und vielleicht Dinge macht, um anderen zu gefallen, die man aber vor dem eigenen Gewissen nicht verantworten kann. In der Psychologie würde man sagen, dass dieses Selbstbild von einer Außensteuerung abhängig ist.
unser „provisorisches Ich“
Diese persönliche und soziale Unsicherheit, die zunächst unsere Biografie prägt, würde ich als ein „altes Identitätserleben“ verstehen. Dieses ist ambivalent, unsicher, störbar, es ist im Prozess. Rudolf Steiner prägte für dieses alte Selbstverständnis zwei Ausdrücke: „Vorläufiges Ich“, und an einer anderen Stelle spricht er vom „provisorischen Ich“. Letzteren Begriff finde ich ein stückweit besser; provisorisch macht deutlich, dass man „etwas“ hat, beispielsweise den eigenen Namen kennt, die Familie, den Beruf etc. Aber wenn mich jemand fragt: „Wer bist du wirklich? Lebst du wirklich das Leben, das du willst oder das du musst?“, komme ich schon eher ans „Eingemachte“ und sage vielleicht: „Ich bin unterwegs, in Entwicklung oder bei mir ist gerade Baustelle, ich funktioniere äußerlich noch ganz prima, aber weiß nicht ein noch aus.“ Man kommt an eine andere Schicht, wenn man Menschen fragt: Wie geht es dir denn wirklich? Wer bist du denn eigentlich?
Deshalb gibt es in den spirituellen Traditionen und auch im Christentum die wunderbare Lehre von zwei Geburten und von zwei Toden, man kann zweimal geboren werden und zweimal sterben. Die zweite Geburt wird im Johannes-Evangelium im dritten Kapitel geschildert „ … man wird aus Wasser und Geist neu geboren.“ Nikodemus, ein weiser, angesehener Mann aus dem Bereich der priesterlichen Juden und Schriftgelehrten, kommt zu Jesus in der Nacht und fragt ihn: „Was muss ich denn tun, um in das Reich Gottes zu kommen und die Ewigkeit zu erwerben?“ Er fragt im Grunde nach seinem ewigen Ich, nach dem Göttlichen in sich selbst. Da wundert sich Jesus und erwidert: “Du bist doch ein Meister in Israel, weißt du das nicht? Der Mensch muss zweimal geboren werden. Einmal aus der Mutter Schoß und einmal aus Wasser und Geist.“
Wasser ist Träger des Lebendigen, Grundlage alles Zirkulierenden und Prozessualen, auch Grundlage der Lebenszeit
Wasser ist Träger des Lebendigen, in der anthroposophischen Menschenkunde wird das der Flüssigkeitsorganismus genannt. Wir bestehen aus ca. 70% Flüssigkeit, die ständig in Zirkulation ist, und sie ist Träger all der Gesetze, die in ihrer Summe das Leben ausmachen. Leben ist eine sehr komplexe Erscheinung, die aus unglaublich vielen Gesetzmäßigkeiten besteht, alleine wenn wir die Biochemie betrachten, alles, was an Stoffumwandlung im menschlichen Organismus stattfindet, Wachstum, Entwicklung, Regeneration, die Überwindung von Krankheitsprozessen in Heilprozesse etc.. Diese komplexe Lebenstätigkeit nennt Rudolf Steiner „ätherische Organisation“. Wir brauchen ein Verständnis der ätherischen Organisation, um diese Stelle der zweiten Geburt im Johannes-Evangelium zu verstehen. Wasser ist Träger des Lebendigen, Grundlage alles Zirkulierenden und Prozessualen, auch Grundlage der Lebenszeit. Aber was ist Geist? Rudolf Steiners stellte die grandiose Frage: Was passiert, wenn alle Lebensgesetze, die im Körper wirksam sind und die Wachstum ermöglichen, im Körper nicht mehr gebraucht werden, z. B. weil die Regeneration nachlässt oder weil das Wachstum beendet ist? Diese Kräfte, die der Körper für seine eigene Regenerationstätigkeit nicht mehr braucht, gehen aus dem Körper wieder heraus und bilden die gedankliche Aura, in die jeder Mensch eingebettet ist. Das Gedankenleben umgibt unseren Kopf und unsere Gestalt, es reflektiert sich am Gehirn. Das Gehirn ist ein Gedankenreflexionsapparat, wenn es gesund ist; wenn es erkrankt, kann es die Gedanken nicht mehr reflektieren. Aber es ist auf keinen Fall ein Gedankenproduktionsapparat – das konnte noch kein Mensch nachweisen. Denn die Gesetze des Lebens kommen ja nicht aus der Substanz, sondern sie bilden Substanz. Das kann man wunderbar sehen am Übergang vom Mineralreich zum Pflanzenreich: Die Elemente, die das Mineralreich konstituieren, sind die chemischen Elemente, die sind in ihrer Menge überschaubar. Wenn man sich aber die sekundären Pflanzenstoffe anschaut – davon ist der größte Teil heutzutage biochemisch erforscht – ist das völlig anders: Täglich werden neue sekundäre Pflanzenstoffe entdeckt. Diese ganze Stoffes- und Substanzfülle wird aus den Lebensprozessen heraus gebildet – sie kommt nicht aus den Molekülen des periodischen Systems mit seinen Elementen, sondern sie sind ein Ergebnis der Lebensgesetzlichkeit, von der sie gebildet werden. Ebenso bilden Tiere ihre ganz arteigenen Substanzen. Und noch spezieller ist das bei dem Menschen: Jeder ist eine Art für sich, weil er sein ganz individuelles, spezifisches Eiweiß hat.
Die Weisheit, die uns bildet, ist die reflexive Weisheit, mit der wir die Welt verstehen können
Es gibt diese Lebensgesetzlichkeit, diese haben wir in der Weisheit unseres Denkens, und deshalb stimmt auch unser Denken mit der Weisheit unserer Schöpfung überein. Sonst wären wir nicht in der Lage, die Naturgesetze, alle Regeln und kosmischen Gesetzte mit unserem Denken zu erklären. Die Gedanken sind Teil dieser Schöpfungsweisheit, und in unserem Körper wirken diese Naturgesetze wie in einem Mikrokosmos zusammen. Die Weisheit, die uns bildet, ist die reflexive Weisheit, mit der wir die Welt verstehen können.
Das ist in dem Johannes-Evangelium gemeint mit „aus dem Geist geboren“. Im Grunde ist das Gedankenleben schon aus dem Körper „heraus-gestorben“, denn Denken ist eine außerkörperliche Erfahrung. Diese zweite Geburt, aus Wasser und Geist, findet im Ätherischen und im Denken statt.
einen ganz festen, neuen Mittelpunkt in mir aufbauen, der nicht mehr zu verunsichern ist
Diese Erfahrung kann jeder Mensch machen, der sich diese Fragen vorlegt: Wer bin ich? Wie hat sich mein Selbstbewusstsein gebildet? Und dann die entscheidende Frage: Will ich so bleiben? Oder gibt es in mir etwas, was so ewig, unwandelbar, unzerstörbar ist, dass ich im Geiste einen ganz festen, neuen Mittelpunkt mir aufbauen kann, der nicht mehr zu verunsichern ist, der so stabil ist, dass ich ihn sogar durch die Todespforte tragen kann, weil er im Denken lebt und nicht im Körper? Denn im Denken haben wir ja die unwandelbaren Gesetze, da ist die Ewigkeit zuhause. In den Lebensprozessen sind wir vergänglich, da müssen wir ständig auf die Zeit achten. So lange wir unser Selbstbewusstsein auf dieses vergängliche, prozessuale Auf- und Ab des täglichen Lebens und unserem an die Lebenszeit gebundenen Körper stützen, können wir nicht von einem neuen, ewigen Selbst sprechen, und schon gar nicht von einem Selbst, dem wir zur Geburt verholfen haben. Vielleicht lehnen wir dieses alte Selbst sogar ab und sagen, dass dafür die Eltern oder die Natur oder der „liebe Gott“ verantwortlich sind. Wenn man durch eine Identitätskrise geht, ist es auch folgerichtig, dass man sich fragt: Will ich dieses Geschöpf, von dem die anderen sagen, dass ich es sei und zu dem ich auch „Ich“ sage, überhaupt akzeptieren?
„Ich suche nicht, ich finde.“
In der Biografiearbeit arbeiten wir in diesem Spannungsfeld zwischen dem alten und dem neuen Selbstbewusstsein, und im Durcharbeiten der eigenen Biografie sollen die Fragen so gestellt werden, dass dieser Punkt leichter zu finden ist: Wer bin ich eigentlich? Wie kann ich mir ein neues, ewiges stabiles Ich und Selbstbewusstsein erringen?
Picasso hat in einem Gedicht gesagt: „Ich suche nicht, ich finde.“ Wenn man ständig nur sucht, dann findet man nicht. Wenn man aber finden will, dann sucht man anders. Picasso hatte die Frage: Wer bestimmt meine Suche und meine Sehnsucht? Ist das nicht bereits das Ziel? Ist diese Sehnsucht nur dadurch möglich, dass ich im Grunde weiß, was ich suche? Ich suche mich, die Menschlichkeit, eine bessere Welt – alle unsere Sehnsüchte, Hoffnungen, Ideale sind doch reine Zukunft. Und wir suchen, weil wir wissen, was wir finden wollen. So wie es Christian Morgenstern sagt in einem Gedicht: „Wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht haben, wird im selben Kreis all sein Leben traben. Kommt am Ende hin, wo er hergerückt, hat der Menge Sinne nur noch mehr zerstückt.“ Oder wie man es im Zen-Buddhismus sagt: Der Weg ist das Ziel. Es ist wichtig, sich klarzumachen: Im Grunde wissen wir, wohin wir wollen. Jede menschliche Biografie ist der Weg, und das Ziel ist in ihr klar veranlagt, deshalb haben wir Sehnsucht nach einem guten, schönen, menschenwürdigen, wahren Leben und fühlen uns traurig und verzweifelt, wenn wir uns von diesem Ideal entfernen. Wir haben in uns den Maßstab, worauf es ankommt. Der wird durch die Biografiearbeit bewusst gemacht und frei gelegt.
In wesentlichen Schritten möchte ich die Stufen dieses „provisorischen Selbstbewusstseins“ schildern. Es erwacht rein auf Gedankenebene im dritten Lebensjahr. Da denkt das Kind zum ersten Mal: Ich bin ich. Diesen Gedanken, diese Logik machen wir uns alle selbst klar, die Umwelt kann helfen, kann fragen, aber wirklich verstehen bedeutet, es immer selber zu machen. Das macht das Kind im dritten Lebensjahr ganz aus sich selbst heraus. Alles, was das Kind vorher erlebt hat, hat es vergessen, das ist die Amnesie vor dem ersten Ich-sagen. Unser bewusstes Gedankenleben reicht nur bis zu unserer ersten Erinnerung. Aber ab da halten wir den Identitätsfaden im Denken, der „Ich-bin-Ich-Gedanke“ ist ab dann immer dabei. Das ist die Steuerungszentrale.
Das gleiche Bedeutungsvolle passiert im 9. Lebensjahr mit dem Fühlen. Jetzt erwacht das Weltgefühl, die Kinder erfühlen den Gedanken ihres Ich. Dieses „Ich bin Ich“ bedeutet Einsamkeit, Einmaligkeit. Fast jedes Kind stellt die Frage: Bin ich wirklich das Kind meiner Eltern oder bin ich vielleicht adoptiert? Denn sie fühlen sich missverstanden, alleine gelassen, ausgegrenzt. Deshalb ragen Drogensucht, Internetsucht, aggressives Verhalten, Depression in dieses 9. Lebensjahr herunter.
Manche Jugendliche erleben es wie einen Schock: “Ich bin für mich selbst verantwortlich.“
Im 16. Lebensjahr gibt es im Selbstbewusstsein noch mal eine Revolution, weil jetzt der Wille dazu kommt. Manche Jugendliche erleben es wie einen Schock: “Ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Bis jetzt konnte man die Verantwortung noch delegieren, auf das Umfeld, die „blöde Familie“; in der Pubertät lehnt man die Verantwortung meist ab, aber jetzt ist man ein junger Erwachsener. Man erlebt den eigenen Willen als Teil der eigenen Identität. „Ich denke nicht nur mich, ich fühle nicht nur mich, sondern ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Dann erwacht der Idealismus: Für was will ich verantwortlich sein, für welche Werte will ich mich einsetzen? Man sucht Vorbilder, überlegt, welchen Beruf man ergreifen möchte etc.
Diese drei Ich-Erfahrungen sind dennoch alle vorläufig. Normalerweise beginnt es erst im 22. bis 24. Lebensjahr, dass man wirklich neu fragt: Wer bin ich? Es ist die Frage nach dem ewigen Ich, die man so klar stellt, dass man sie bewusst fassen und verfolgen kann. Später ist es so, dass man angeregt durch Lebenskrisen, Begegnungen, auch durch spirituelle Krisen diese Frage stellt.
Man hat einen festen Bezugspunkt gefunden
Bei der zweiten Geburt bestimme ich selbst im Denken, welchem Wertekontext ich mich mit meinem Ich widmen möchte. Um ein Beispiel zu nennen: Welche Art Mensch möchte ich werden? Da stößt man auf die Frage: Was ist eigentlich menschlich? Es gibt dabei drei grundsätzliche Ideale. Wichtig unter Menschen ist, dass es ehrlich zugeht, dass man sich darauf verlassen kann, dass der andere einen nicht anlügt. Das ist das Ideal der Wahrheit. Das zweite Ideal ist die Liebe, dass man auch die Schönheit dieser Beziehung fühlt. Und das dritte ist die Freiheit, dass jeder sich frei entscheiden kann, wie er/sie leben will; dazu gehört auch, den anderen frei zu lassen. Diese drei Kernideale kann man anstreben, und dann ist die weitere Biografie der Ort, wo sich diese Ideale realisieren. Jeder Tag ist eine neue Aufforderung, ehrlich, liebevoll, freilassend und selbstbestimmt zu sein. Jeden Abend kann man eine kleine Revue machen: Wie war das heute? Habe ich doch wieder eine kleine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwiegen, wo ich hätte was sagen sollen? Man hat einen festen Bezugspunkt gefunden, nämlich das eigene Ideal, welches man dann in allen Lebenslagen evaluiert. Die Konzeption dieser zweiten Geburt ist das Fassen der Idee und die Realisierung ist quasi die Embryonalentwicklung. Bis zum Tod kann man das dann täglich üben und dann beim Sterben dieses „Kind“ mit über die Schwelle nehmen und diese Geisteswachheit auch „drüben“ bewahren.
Der zweite Tod wurde immer gesehen als „Einschlafen“ nach dem Tod. In der Apokalypse des Johannes kommt „Fürchtet nicht den Tod des Leibes, sondern den Seelentod“, das heißt den Bewusstseinstod, dass ihr euch nicht bewusst in der nachtodlichen Welt halten könnt, dass man zwar da ist, aber nichts von sich weiß.
Insofern kann man unter diesem Aspekt der ersten und zweiten Geburt die menschliche Biografie als Ganzes wie zweifach betrachten: einmal die physische Biografie – der Körper baut sich auf, hat seine beste Zeit, dann seine Involution und dann stirbt er. Der ätherische Aspekt der Biografie ist, dass man heranwächst und sich entwickelt, ab einem bestimmten Zeitpunkt geistig die weitere Entwicklung in die eigenen Hände nimmt und die eigene Identität bestimmt und diese durch den Tod trägt. Und das ist die individuelle Voraussetzung für mein nachtodliches Leben und die Vorbereitung meiner nächsten Inkarnation auf der Erde. Denn wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie defizitär der Mensch wirklich ist und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, kann man nicht daran zweifeln, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist. Es braucht individuell unterschiedlich Zeit, bis sich der Mensch selbst zum Menschen macht. Das ist auf große Zeiträume angelegt.
Zusammenfassung des Vortrages: Christine Pflug
Teil II erscheint in der Juni-Ausgabe