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Der Zukunft zur Gegenwart verhelfen
Interview mit Ulrich Meier, Pfarrer der Christengemeinschaft
Die Zukunft kommt uns nicht entgegen,
sie liegt nicht vor uns,
sondern sie strömt von hinten über unser Haupt.
Rahel Varnhagen, Berliner Salondame des ausgehenden 18. Jahrhunderts
Wie kann ich mir als Einzelner und wie können wir uns als Gesellschaft einen positiven Zugang zur Zukunft verschaffen? Diese Frage ist gerade in der jetzigen Zeit drängend. Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat mit der Regnose einen Weg gefunden, wie man zum Akteur der eigenen Zukunft werden kann. Dabei ist es wichtig, die Vergangenheit so zu integrieren, dass man an ihr die Ressourcen entdeckt, um einen offenen, freien Blick für die Zukunft zu finden.
Interviewpartner: Ulrich Meier, Pfarrer der Christengemeinschaft seit 1990. Davor Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher und zwei Jahre Tätigkeit im Landschulheim Schloss Hamborn. 16 Jahre Gemeindepfarrer in Hannover, seit 2006 in Hamburg Mitarbeit in der Leitung des Priesterseminars und Gemeindepfarrer in Hamburg-Mitte. Redakteur der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“.
Christine Pflug: Das Thema „Zukunft“ steht zurzeit besonders im Fokus. Bedingt durch die Epidemie merken wir, dass irgendetwas anders werden muss, sonst wären wir nicht in diese Lage hineingeraten. In verschiedenen Branchen und Berufen sind wirtschaftliche Krisen entstanden, die zwingen, etwas neu zu fassen. Der Klimarat hat seinen Bericht vorgelegt mit der Botschaft, dass etwas anders werden muss. Änderung für die Zukunft betrifft die ganze Menschheit, die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Wie kann man einen positiven Zugang zur Zukunft schaffen?
Ulrich Meier: Die Frage ist, wie man aus den Blockaden herauskommt und einen freien Blick für die Zukunft findet. Einen Blick, in dem man selbst tätig wird und der dem eigenen Inneren wirklich entspricht. Dazu gehört, dass man die vier Ängste bewältigt, die in der Pandemie wirksam wurden: Angst vor Krankheit und Tod, Angst vor Fremdbestimmung – was uns derzeit stark erwischt hat –, Angst vor Existenzverlust und Angst, schuldig zu werden, indem man jemanden anderen ansteckt.
Man kann die Zukunft ihrem Wesen nach nicht berechnen
C. P.: Es gibt in der Zukunftsforschung seit einiger Zeit den Begriff Regnose. Was ist das?
U. Meier: Re-Gnose ist ein Gegenentwurf zur Pro-Gnose. Bei der Prognose versucht man in die Zukunft vorauszublicken, was natürlich eine Möglichkeit ist. Aber wenn dabei die Angst mitspielt, verdunkelt sich das Bild. Man versucht, die jetzige, womöglich schlechte Lage hochzurechnen, inklusive der Trends, die dazu geführt haben. Aber man kann die Zukunft ihrem Wesen nach nicht berechnen, auch wenn einem die Prognose zunächst die Illusion verschafft, wir hätten sie schon fest im Griff. Wenn in der jetzigen Situation die Entwicklung der Pandemie eingeschätzt werden soll, geschieht das nach prognostischen Methoden: „… wenn das noch so weitergeht, dann passiert das und das.“ Diese Sprache des Hochrechnens spricht nicht zum freien Ich, sondern spricht zur Angst, die als Blockade zur Lähmung führt. Albert Einstein hat den schönen Satz formuliert: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Das klingt natürlich zunächst absurd. Aber Einstein wusste, wovon er sprach: In der Quantenphysik stieß er auf die Tatsache, dass sich durch unseren Blick auf die Welt etwas in der Welt verändert. Die Welt ist eben niemals fertig und wir brauchen uns nicht in die Rolle des passiven Zuschauers drängen lassen, der tatenlos ansehen muss, wie die vermeintlichen Räderwerke der Natur oder des Schicksals mechanisch ablaufen. Darin liegt auch der Ansatz der Regnose, die Matthias Horx entwickelt hat.
So geschieht Wandel: Wenn wir uns selbst als Zukünftige begreifen
C. P.: Wie geht die Regnose?
U. Meier: Regnose ist eine Rückschau aus einer innerlich für wirklich genommenen Zukunft, evtl. bis zurück in die Gegenwart. Horx beschreibt sie einmal so: „Stellen Sie sich vor, Sie könnten einfach in die Zukunft springen. Sie träfen dort auf eine Person, die Ihnen selbst ähnelt. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie könnten mit diesem neuen Selbst in Verbindung treten. Sich soweit in dieses zukünftige Ich hineinfühlen, dass Sie mit ihm sozusagen verschmelzen. So funktioniert Re-Gnose. So geschieht Wandel: Wenn wir uns selbst als Zukünftige begreifen – und uns auf diese Weise mit uns selbst verbünden.“
C. P.: Bei der Prognose würde man also nicht einbeziehen, dass sich der Mensch oder die Umstände in unterschiedliche Richtung verändern können. Vorhandene Trends werden mathematisch hochgerechnet. Es gibt nichts Neues, Unerwartetes und keine Freiheit …
U. Meier: Das kann passieren Ich kenne diese Art Hochrechnen aus der Pädagogik: Wenn der Fünfjährige mit einer Spielzeugpistole spielt, bekommt man Angst, weil er in 20 Jahren mit einer echten Waffe einen Banküberfall macht. Deshalb muss ihm jetzt das Spiel verboten werden. Ich kann Verbote und Erlaubnisse aber auch aus meiner eigenen Verantwortung begründen. Das Kind ist ein eigenständiges Wesen, das sich der Berechenbarkeit und einer solchen Prognose entzieht.
C. P.: Was könnte jede/r Einzelne in seinem persönlichen Lebensplan machen? Muss man sich selbst so vorstellen, wie man beispielsweise in fünf Jahren sein möchte, und zwar im positiven Sinne?
U. Meier: Horx schildert ein Beispiel, bei dem nur kurz in die Zukunft gesprungen wird: Ich habe heute Mittag einen Zahnarzttermin und es wird mir immer mehr bange. Ich denke daran, wie ich auf dem Zahnarztstuhl sitze und das Unheil über mich hereinbricht. Die Prognose sagt mir, dass es beim Zahnarzt früher schon mal etwas Schlimmes gab und es jetzt vielleicht noch schlimmer kommt. Nun kann ich mir aber auch sagen: Der Termin ist um 12 Uhr, und ich stelle mir vor, wie ich um 14 Uhr in meinem Lieblingscafé oder auf meinem Balkon sitze, einen leckeren Kaffee genieße und auf den Zahnarztbesuch zurückblicke. Dieses „ich war dort bereits, blicke zurück und stelle fest, dass es gar nicht so schlimm war“ hilft, dass man mit anderer Gelassenheit zum Zahnarzt geht. Es ist ein Empfinden, etwas bewältigen zu können, das sogenannte Coping-Gefühl.
der Strom, der mir aus der Zukunft entgegenkommt
C. P.: In welchem Verhältnis steht die Vergangenheit zur Gegenwart und zur Zukunft?
U. Meier: Rudolf Steiner hat uns das Bild von zwei Zeitströmen ans Herz gelegt: Den einen fühlbaren Strom aus der Vergangenheit, der mich in die Zukunft trägt, muss ich mir spirituell ergänzen durch den Blick auf den anderen Strom, der mir aus der Zukunft entgegenkommt, so dass ich in der Gegenwart immer in zwei Strömen stehe. Wolfgang Schad hat das in seinem Buch über die Zeit dargestellt: Unser Erleben findet immer in der Gegenwart statt, und insofern es sich auf die Vergangenheit richtet, integrieren wir eine zurückliegende Erfahrung in die Gegenwart. ¹ Das nennen wir Erinnerung. Wir meinen, dass die Erinnerung sicher ist – was aber gar nicht stimmt. Man kann Dinge auch einseitig oder sogar falsch erinnern. Und mit der Angst fixieren wir uns nur auf eine Seite des Erinnerten. Ein persönliches Beispiel dazu: Ich sollte mich in einem Coachinggespräch an eine schwierige Situation meiner Schulzeit erinnern. Ich erlebte dabei meine Ängste von vor 50 Jahren wieder. Die Coachin sagte mir: Aber der kleine Schüler von damals, etwa 10 Jahre alt, ist doch aus dieser Situation gut herausgekommen! In dem Moment gelang es mir, von außen auf die Situation zu schauen, und ich habe diesen kleinen Schüler als ängstlich und kraftvoll erleben können. In der Erinnerung hatte ich aber die Kraft nicht gespürt und war wieder gefangen und blockiert in der alten Angst.
Für mich ist später eine der wesentlichen Entdeckungen für den freien Blick auf die Zukunft geworden, dass wir in der schöpferischen Kraft der Fantasie mit dem gleichen fließenden und offenen „Stoff“ umgehen wie im Erinnern. Erinnerung ist eine Integration des schon Erlebten in mein gegenwärtiges Ich. Mithilfe der Fantasie können wir versuchen, auch die Zukunft ins Heute zu integrieren. Die Konvention behauptet, dass Fakten die Grundlage der Erinnerung seien und die Fantasie nur eine subjektive Fiktion der Zukunft. Im Erinnern und Fantasieren lebt aber als das Verbindung schaffende Wesen auch das Ich mit seinen schöpferischen und gesundenden Potentialen.
die Ressourcen des Erlebten erinnern
C. P.: Diese Integration des Vergangenen hat ja dann einen Sinn, wenn man die Ressourcen des Erlebten erinnert. Man kann die Vergangenheit auch so ansehen, dass sie etwas zerstört hat. Das kann so weit gehen, dass man sich als Opfer betrachtet der Menschen oder Umstände, die einem geschadet haben. Das wäre dann keine Integration!?
U. Meier: Die bleibt eben einseitig und führt nicht wirklich in die selbstbestimmte Zukunft. Es ist ein innerer Reifeprozess, den wir hoffentlich allein oder mit der Hilfe anderer schaffen, dass wir die Ohnmachtserlebnisse und Traumata unserer Vergangenheit irgendwann für uns soweit durchlässig gemacht haben, dass wir sie als Teil unserer Biografie an- und mitnehmen können. Wenn man so weit gekommen ist, dass man sie nicht mehr nur „loswerden“ will oder sich gegen sie zur Wehr setzen muss, wird der Blick fast von alleine frei für das, was auch schon damals Ressource war.
wir brauchen dafür therapeutische Prozesse, die in tiefe Erlebnisse gehen
C. P.: Es ist eine große Leistung, die Biografie so durchzuarbeiten, dass man bei allem sehen kann, was man daran entwickelt und gelernt hat!
U. Meier: Es hat aber wenig Sinn, wenn man das nur vom Kopf aus versucht. Das Gefühl lässt sich dann „vom Kopf bequatschen“, aber verändert sich letztlich nicht. Deshalb brauchen wir dafür therapeutische Prozesse, die in tiefe Erlebnisse gehen, z. B. Kunst, Dramatisierung, Schreiben oder ähnliches, um auch das Herz und sogar den Leib zu beteiligen.
C. P.: Wenn man diese Arbeit gemacht hat, und zwar mit Freude, kann man sich dann als Akteur der eigenen Biografie sehen?!
U. Meier: Das ist der Schlüssel: Wie mache ich mich so frei, dass ich auch für die Zukunft der Akteur bin und ich nicht nur Ängste vor dem nächsten Elend habe?
C. P.: Haben Sie für so eine Übung Beispiele?
U. Meier: Ich habe einen einwöchigen Workshop mit Claus Otto Scharmer mitgemacht über seine „Theorie U“. Da ist ja auch das Thema, wie man offen und auch handlungsfähig wird für eine sich entwickelnde Zukunft. Er benennt dabei drei innere Stimmen, die das blockieren: mein Denken schließt sich, wenn ich urteile; mein Gefühl schließt sich, wenn ich zynisch werde; mein Wille schließt sich, wenn ich Angst habe. Wir kamen bei diesem Workshop eines Abends in Kleingruppen zusammen und sollten uns gegenseitig ein Ereignis erzählen, von dem wir das Gefühl hatten, dass es etwas mit unserer Zukunft zu tun haben könnte. Ich erzählte von dem Augenblick, in dem ich als Schulanfänger einmal beinahe ertrunken wäre. Ich realisierte damals nach der ersten Panik mit einem Teil meines wachen Verstandes, dass ich im Wasser mit der Situation alleine nicht klarkommen und nicht wieder herausfinden würde. Dann stand die Zeit still. Währenddessen erwischte mich ein zauberhafter Farbeindruck von einer grünen Pflanze im Wasser mit einer Intensität, wie ich sie nie wieder erlebt habe. Und ich war in diesem Augenblick kaum noch ängstlich, sondern ziemlich eins mit mir und der Welt im Wahrnehmen dieses Grüns. Das zu erinnern und zu erzählen, wurde für mich eine Auflösung eines solchen Vergangenheitserlebnisses: Höre auf, ängstlich daran zu denken, dass du beinahe ertrunken wärst, sondern folge deinem vitalen Erleben der grünen Farbe und frage dich, was dir diese Farbbegegnung geschenkt hat.
„Da habe ich einen Vertrag geschlossen mit meinem späteren Ich.“
C. P.: Das heißt, dass man auf ganz neue Weise an diese vergangenen Erlebnisse herangeht und sich von bekannten und festgelegten Vorstellungen lösen muss?!
U. Meier: Ein eindrückliches biografisches Beispiel dafür ist die Geschichte von Natascha Kampusch, dem Mädchen aus Wien, das 1998 im Alter von zehn Jahren auf dem Schulweg in einen Lieferwagen gezerrt und über acht Jahre in einem Kellerverlies eingemauert und festgehalten wurde. Der Täter brauchte selber mehr als eine Stunde, um in dieses Verlies zu kommen. Sie hatte außer diesem einen Menschen keine weiteren Kontakte. Nach ihrer Selbstbefreiung schildert sie in einem ihrer ersten Interviews, wie sie, ohne es so zu nennen, eine Regnose-Übung gemacht hat. Der Täter hatte ihr Video-Bänder und einen Fernseher in das Verlies gestellt, und sie schaute Sciencefiction-Filme – das war der Stoff, aus dem ihre Fantasie gespeist wurde. Sie fing an, in dieser Gefangenschaft eine Fantasie auszubilden, nämlich einen Zeitstrahl: Hier bin ich in der Gegenwart im Alter von 12 Jahren, dann gibt es auf diesem Zeitstrahl eine 13, 14 usw. Sie stellte dann eine 18-jährige Natascha auf diesen Punkt des Zeitstrahls und ließ die Achtzehnjährige zu der 12-Jährigen sprechen. Und diese Achtzehnjährige gab ihr das Versprechen: „Ich werde dich befreien.“ Im Interview nennt sie es so: „Da habe ich einen Vertrag geschlossen mit meinem späteren Ich.“
Von ihrem achtzehnten Geburtstag an begann sie aktiv darauf zuzuarbeiten, diesen Vertrag einzulösen. Sie sagte, dass sie dadurch die Kraft fand, die Gelegenheit zur Flucht zu suchen, als der Täter einmal nicht aufmerksam war. Das ist ein Beispiel, wie so etwas funktioniert: Ich mache mir eine Fantasie meiner selbst in einer zukünftigen Form, und dann schaue ich von dort zurück.
C. P: Welche Erfahrungen haben Sie mit Regnose-Übungen in Gruppen?
U. Meier: Ich habe Erinnerungs- und Regnose-Übungen in verschiedenen Gemeinschaften ausprobiert, z. B. im Zugehen auf den 100. Jahrestag der Gründung der Christengemeinschaft: 100 Jahre in die Zukunft (in das Jahr 2122) reisen, sich einen konkreten Ort wählen und dann 10 Minuten schauen, was sich dem inneren Blick der Fantasie darbietet. Zunächst mag das für manche der Teilnehmenden etwas verstörend gewirkt haben: Man versetzt sich z.B. in ein Gemeindehaus, auf die Kirchenbank oder wohin auch immer, und bekommt nach einer Weile Fantasiebilder von Formen, Bewegungen, Farben, manchmal auch von Gestalten oder Worten. Das ist meist nicht begrifflich fassbar und kommt ohne konkrete Deutung daher.
Man hat dabei das Gefühl, Teil eines umfassenderen Bewusstseins zu sein
C. P.: Muss es nicht so sein, dass dieses Zukunftsbild sprachlich nicht zu fassen ist? Denn wenn man es in Worte fassen kann, gelingt das nur mit dem Bewusstsein, das man bis jetzt hat. Die Regnose würde doch beinhalten, dass ich darin etwas erfahre, was mir bis jetzt noch gar nicht bekannt ist!?
U. Meier: Ja, das ist ein guter Gedanke. Ich erkläre es mir anthroposophisch so: Wir leben vom morgendlichen Aufwachen bis zum Einschlafen in unserem Zentrums-Ich. Wenn man solche Übungen macht, erscheint vielleicht konkret so etwas wie eine Bewegung aus dem peripheren Ich, aus unserem wahren Selbst, das im Umkreis, im Kosmos ausgebreitet ist. Man kann es als „künstlerische Urqualität“ erleben, die nicht kopfig, sondern rein und sozusagen kindlich ist. Um dahin zu kommen, muss es mit der offenen Seele eines Kindes erwartet werden – auch mit der Furcht, dass vielleicht nichts passiert – um dann schließlich zu erleben, dass doch etwas kommt. Man hat dabei das Gefühl, Teil eines umfassenderen Bewusstseins zu sein. Der Schriftsteller Patrick Roth schilderte sein persönliches Gotteserlebnis, das ihn im Traum erreichte, einmal mit den Worten: „Ich werde gewusst.“
C. P.: Könnte man für sich im stillen Kämmerlein eine solche Erfahrung machen, bzw. welche Voraussetzungen und Bedingungen braucht man?
U. Meier: Ich glaube, es ist einfacher, wenn man solche Übungen in einer Begegnung, in einer Gemeinschaft hat. Die beschriebene Qualität des Nicht-Berechenbaren, Wundervollen ereignet sich ja eigentlich sowieso im Zwischenraum der Begegnung, den wir zu zweit oder als Gemeinschaft bilden. Die meisten kennen das von einem guten Gespräch: Man merkt, dass man plötzlich eine Frage geschenkt bekommt, die man vorher nicht hatte, und man hat den Mut, diese Frage zu äußern. Man bekommt eine Antwort, die zunächst fremd ist, und später realisiert man, dass beides Teil der eigenen Zukunft war. Es ist auch eine tiefere Erfahrung, das mit jemand anderem teilen zu können. Auch im Erzählen wird es manchmal erst bewusst, erreicht das Gefühl oder zieht in den Willen ein. So eine „spielerische“ Herangehensweise hat den Anteil einer Epiphanie, einer „Erscheinung von oben her“. Es offenbart sich darin etwas, das größer ist als die kleine Wirklichkeit, die einem schon bekannt ist. Im Grunde ist Regnose ein Spiel; Horx sagt dazu „Schöpfung“.
einer gelingenden Zukunft „Landeplätze“ in sich selbst bereiten
C. P.: Und wenn man diese Übungen der Regnose auf die jetzige Zeitlage bezieht, könnte das weiterhelfen?
U. Meier: Es könnte momentan schlicht darum gehen, der möglichen guten Zukunft, einer dem Leben dienlichen und fruchtbar gelingenden Zukunft „Landeplätze“ in sich selbst und in den Gemeinschaften zu bereiten, mit denen man verbunden ist. Stellen wir uns die Zukunft wesenhaft vor: Nicht nur etwas will hilfreich in die Lebenswirklichkeit eintreten, sondern ein Jemand, ein geistig-physisches Zukunftswesen – so wie ein Kind in das Leben der Eltern und der Menschengemeinschaft eintritt mit allem Zukünftigen, das es aus seinem vorgeburtlichen Sein mitbringt.
Als Priester habe ich während der Pandemie darüber nachgedacht, wie die Religionen konstruktiv zur Überwindung der aktuellen Krisen beitragen könnten. Die Hebräische Bibel und das Neue Testament sind ja schließlich voll Geschichten über Katastrophen und deren Abwehr bzw. Überwindung. Hiob zum Beispiel erfährt seine Katastrophen in Armut und Krankheit, ringt sich aber dazu zu zwei religiösen Befreiungen durch: Er löst das Eintreten der Leiden in sein Leben von der Frage nach seiner Schuld und er bezeugt mit seinem „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ aktive Beteiligung an seiner Zukunft mit Gott.
C. P.: Und was kann Hiobs Erlebnis für uns heute bedeuten?
U. Meier: Wenn ich mich von der Frage nach den Schuldigen für Katastrophen und deren Folgen im sozialen Miteinander fesseln lasse, verschließe womöglich gerade die Augen für die Chancen, die in jeder Katastrophe auch liegen. Wenn ich meine, dass ich selbst zur Lösung der Not nichts beitragen kann, lähme ich mich für die Mitverantwortung, die ich für das Ankommen der Zukunft in unserer Kultur übernehmen kann. Es gilt, den Stillstand des Lebens in eine neue Kreation umzuwenden. Horx formuliert das so: Wenn wir die Düsternis der Prognosen haben wollen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass es dann auch schlecht wird. Beginnen wir jedoch mit diesen einfachen Übungen, mit dem seelisch-geistigen Muskeltraining der Offenheit und Fantasie, eine Zukunft vorzubereiten, in der wir selbst positiv vorkommen wollen, gibt es vielleicht gute oder wenigstens bessere Aussichten.
¹Wolfgang Schad: Zeitbindung in Natur, Kultur und Geist, Stuttgart 2016