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Geschichten, die das Leben schrieb
Texte aus der Werkstatt für biografisch-kreatives Schreiben
Wie kann man dem eigenen Leben auf die Spur kommen? Biografisch-kreatives Schreiben ist dafür eine Möglichkeit. Letzten Sommer begannen wir mit unserer Schreibwerkstatt, die dann in verschiedenen Formen bis April dieses Jahres fortdauerte. Die Teilnehmer:innen schrieben Geschichten aus ihrem Leben, es wurden immer wieder neue Aspekte und Aufgaben gegeben. Wir Kursleiterinnen vermittelten „Erzählelemente“, wie man beispielsweise Dialoge einbaut, Szenen ausführt, in bildhaft-sinnliche Beschreibungen eintaucht, aus verschiedenen Perspektiven schreibt und vieles mehr. Jede:r hatte eine begrenzte Zeit für die jeweilige Geschichte, im anschließenden Gespräch vertieften wir die Erfahrungen.
Wir begannen mit der Kindheit („Eine Kinderfreundschaft“), wir erinnerten uns an eine wichtige Lehrerpersönlichkeit, an einen „besonderen Ort“, an ein „Wagnis“. Beim erwachsenen Leben haben wir beispielweise geschrieben über Umbrüche, prägende Impulse, eine Reise oder einen Lieblingsort, „Wo habe ich Heimat erlebt?“ „Wann ist mir Welt begegnet?“ Schreibend tauchten Erinnerungen und scheinbar Vergessenes wieder auf. Manches erschien in einem neuen Licht und konnte durch das Schreiben wie „befreit“, neu eingeordnet und mitunter sogar versöhnt werden.
In dieser Werkstatt sind manchmal tiefgehende, manchmal humorvolle, erstaunliche oder abenteuerliche kleine literarische Kunstwerke entstanden. Sie sind es wert, veröffentlicht zu werden.
Vielleicht, liebe Leser:innen, werden Sie durch diese Lektüre inspiriert, an einem freien Sommertag auch in Ihre biografischen Erinnerungen einzutauchen.
Die Blumenbilder des Hamburger Malers Patrick Hanke mögen Sie in dieser (hoffentlich) launigen Sommerzeit ebenfalls anregen und erfreuen.
(Leitung der Werkstatt: Christine Pflug und Maria Schulenburg)
Lieblingslehrer
Unser neuer Lehrer war ein Mann.
Mit Bart und wuscheligem Haar folgte er auf unsere graugewellte Frau A.
Er kam mit einem verschmitzten Lächeln.
Wenn ich schummelte oder schwindelte, durchschaute er mich. Weil ich wusste, dass er wusste und er verstand, dass ich verstanden hatte, sagte er nichts. Er tadelte mich nicht, und ich tat es bestimmt nicht wieder.
Cordhosen trug er und nach Rauch roch er. In den Pausen zog er auf dem Schulhof das „Rothändle“ Paket aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Seine Finger waren braun verfärbt und seine Zähne auch.
Gitarre spielen konnte er. Hatte er sie nicht mit, schickte er zwei Jungs zu sich nach Hause, um sie zu holen, seine Frau wisse Bescheid.
„Aber nid vergutzle“, rief er ihnen hinterher.
Zwei Jungs waren es auch, die er den einen Tag zum Nachsitzen einbestellte. Was sie nachmittags vorhätten, hatte er sie gefragt. Beide mussten zur Feldarbeit. An jenem Tag nicht. Dafür sorgte er. Nach dem Mittagessen mussten sie zurück in die Schule kommen und auf dem Schulhof Fußball spielen.
Ich bewunderte ihn für seine Schlauheit und für seinen Mut. Traurig machte es mich, wenn ich in seinem Blick Enttäuschung las, darüber, dass ich, was auch immer, nicht gewagt oder mir zugetraut hatte.
Fasching feierte er mit uns, spielte Gitarre zuerst, dann Musik vom Band, zu der wir ausgelassen tanzten. Mit „aufhören, wenn es am schönsten ist“, setzte er den Schlusspunkt viel zu früh.
Am traurigsten aber war, dass es unser letzter Fasching vor dem Schulwechsel war.
Dass ich zum Gymnasium wechselte, verdankte ich ihm, der mehr in mir las, als ich ahnte.
„Wenn nicht sie, ja wer denn dann?“, schimpfte er mit meiner Mutter und so durfte auch ich das Gymnasium besuchen.
Mein Lieblingslehrer Herr E., der auf dem Bazar mein Hinterglasbild kaufte, das doch gar nicht schön geworden war.
Von G K
Ein Wagnis
Auf dem Weg nach Marokko.
Anfang der 1980er Jahre trampten wir, zwei junge Frauen Anfang zwanzig, von München nach Marokko. Große Teile des Weges verliefen unspektakulär. Aber irgendwo zwischen Valencia und Alicante stockte unsere Reise und zwar nachts. Wir standen also lange in einem kleinen Ort auf dem Weg in Spaniens Süden. Unsere Laune war noch gut. Aber wir hatten auch keine Idee, wo wir die Nacht verbringen könnten.
Nach etwa anderthalb Stunden des Wartens, es kam kaum ein Auto vorbei, und es war inzwischen nach Mitternacht, hielt mitten in diesem kleinen spanischen Küstenort ein großer beiger amerikanischer Straßenkreuzer. Ein Buick.
Darin saßen zwei Männer. Älter als wir. Zwei Marokkaner, wie sich herausstellte. Die Verhandlung war schnell geführt. „Do you speak English? French? Do you drive?“, fragte der Fahrer. Ja, wir sprachen Englisch, Französisch und hatten auch beide einen Führerschein.
Ihre Reise ging zunächst bis Malaga und wir fuhren mit. Das heißt, ich fuhr dann erstmal dieses riesige amerikanische Auto durch die spanische Nacht.
Ein Wagnis, könnte man meinen. Abdel, der Fahrer, vertraute mir Auto und Leben an.
Ein Wagnis auch für uns. Zwei junge Frauen fahren mit zwei fremden Männern durch die Nacht.
Wir haben es gemacht, weil Abdel, der in den USA lebte – deshalb der Buick – so herzlich und freundlich und besorgt war. Und wir haben es gemacht, obwohl sein Freund und Beifahrer, der selbst nicht Auto fuhr, das ganze Gegenteil von Abdel war. Wir fuhren also bis Malaga, dort schliefen wir ein paar Stunden in der Sommerwohnung von Abdels Schwester. Und am nächsten Tag setzten wir unsere gewagte Reise alleine fort. Abdels Freund bezeichnete uns beim Abschied nachdrücklich als naiv. Er hatte recht, aber es war uns keine Warnung.
Als wir später in Marokko unterwegs waren, hatten wir zu unserer großen Beruhigung die Adresse und Telefonnummer von Abdels Familie bei uns. Und wir hatten viel Glück und Schutz in unserer Naivität.
Von SHe
Was bedeutet Heimat für mich?
Ich ging über den Markt, „Gemüse zu suchen, das war mein Sinn“.
Das Gemüse wog schwer in meiner Tasche, einen Croissant würde ich mir noch gönnen, für den Heimweg.
Stehtische umgaben den Stand, zwei Menschen, mit einer Tasse Kaffee vor sich, waren in ein Gespräch vertieft. Ich musste warten, neben den beiden Stehenden, während der Herr vor mir wählte, während sein Kaffee bereitet wurde, während er Münzen aus seinem Portemonnaie klaubte.
Ich hörte die beiden am Stehtisch mit vielen rauen „Ch“ und diphtongierten „ue“, wie „ie“ sprechen und freute mich darüber, ihre Sprache verstehen zu können.
Ich schmunzelte in mich hinein und versuchte dabei, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ihrem Gespräch, in der vertrauten Sprache meiner Kindheit lauschte, denn natürlich ging es mich nichts an, worüber sie sich unterhielten, ich kannte sie noch nicht einmal. Längst war aus dem „warten müssen“, ein „warten dürfen“, geworden und ich musste mich beherrschen, nicht in ihr Gespräch einzuschwenken und mitzureden, vor lauter Freude.
So freute ich mich still. Der Herr vor mir trat zur Seite, ich bestellte meinen Croissant und verließ den Markt.
Das Schwizerdytsch wirkte noch lange nach.
Ja, Vater, ich weiß, du hast es mir 100 Mal erklärt, wieder und wieder, dass Schwizerdytsch zum alemannischen Sprachraum gehört, der sich erstreckt von,… bis… , ja ich weiß.
Denn eigentlich ist Alemannisch meine Muttersprache, somit die Sprache der Mutter meiner Kinder. Mit ihr habe ich sie begrüßt, mit ihr sind sie aufgewachsen und groß geworden. Alemannisch ist deren Mutter Sprache.
Mir ist diese Sprache Heimat. Urige und lebendige Heimat in mir, wo immer ich bin. Sie lebt neben dem viel häufiger praktizierten Hochdeutsch, neben Französisch und Englisch und unzähligen, eher rudimentären Gedächtnisbrocken anderer Sprachen, in mir. Unbewusst schwenkte ich in sie ein, immer wenn ich die mir anvertrauten Babys versorgte, wie dann auch später meine eigenen Kinder.
Auch mit Tieren höre ich mich in dieser Sprache reden, immer. Und kehre ich aus einer Fremdsprache in die eigene zurück, so lande ich im Alemannischen, wenn ich nicht mit Bedacht und Konzentration, Hochdeutsch bewusst ansteuere. Oft genug habe ich es erlebt.
In dieser Sprache bin ich verwurzelt, ja, aber, frage ich mich, was ist mit Französisch?
Französisch ist Heimat eines anderen Winkels meines Selbst.
Eindeutig.
Gedichte in Französisch begleiten mich, Lieder, Seite um Seite füllte sich das Tagebuch in Französisch. War ich im Land, träumte ich in dieser Sprache.
So verstehe ich heute die radikale Ablehnung meines Sohnes, französisch zu lernen anders. Es lag nicht an komplizierter Grammatik oder fremden Vokabeln. Es lag an mir, seiner Mutter. Sprach ich Französisch, änderte sich meine Stimme, lebte ich einen ganz anderen Teil meines Selbst und wurde ihm fremd. Diese Sprache raubte ihm als Kind die vertraute Intimität. Er mochte sie nicht. Viel lieber war ihm unsere alemannische Geheimsprache.
Ich muss revidieren.
Es ist nicht nur die Muttersprache allein.
Sprache überhaupt ist mir Heimat! Sich in den Rhythmus, welcher Sprache auch immer, geben, in deren Klang eintauchen, ihre Wirkung spüren. Dort bin ich zu Hause.
Sprache als Möglichkeit von Ausdruck.
Sprache als Möglichkeit von Austausch.
Sprache als Möglichkeit, zu denken, denken zu teilen.
Ja, ich komme zum Schluss, dass mir Sprache Heimat ist.
Von G K
Wo habe ich Heimat?
Heimat ist für mich kein physischer Ort. Würde man mich fragen, wo meine Heimat ist, würde ich antworten, dass ich eine Heimatlose bin. Ich empfinde diese Erkenntnis nicht als einen Mangel, sondern sogar als eine große Freiheit und Ungebundenheit, die mich frei empfinden lässt, in jedem Augenblick, wo ich mich zuhause fühle. Und dass ich jeden erlebten Ort auch wieder verlassen kann, ohne sehnsuchtsvoll zurückzublicken.
Und so war und ist mein Leben von Geburt an: ein Leben von Ort zu Ort, Notwendigkeiten folgend, oder Wünschen oder Illusionen. Oder Schicksal?
„Aber irgendeine Zugehörigkeit musst du doch benötigen und spüren“, so fragt man mich. Ein loses Blatt im Lebenswind?
Nein, ich spüre und vertraue auf eine Führung, und im Zurückblicken auf mein bisheriges Leben erkenne ich, dass der Sinn dieser Führung ist, mich selbst zu finden, zu der Heimat in mir. Zu dem Ort, der von Beginn an da war und auf mich wartet.
Der Ort der Orte.
Von Inke Antonio, 90 Jahre alt
Wo habe ich „Welt“ erlebt?
Ich war alleine auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking gegangen. An der einen Seite des riesigen Platzes gab es ein Gebäude oder eine Sehenswürdigkeit – was genau, weiß ich gerade nicht mehr – ich erinnere aber, dass davor eine große Gruppe Menschen stand.
Ich mischte mich unter die Leute und wurde nach einer Weile von zwei chinesischen Frauen auf Englisch angesprochen und gefragt, ob ich zum ersten Mal hier sei. Ja, erzählte ich ihnen. Ob ich die Gegend schon kennen würde, fragte mich die eine. Ich sei gerade dabei, sie zu erkunden, antwortete ich. Wir unterhielten uns eine Weile und schließlich luden mich die beiden ein, mit ihnen in der nächsten Straße einen Tee trinken zu gehen. „Warum nicht?“, dachte ich, aber in mir meldete sich eine leise, warnende Stimme. Ich ging mit und blieb wachsam.
Wir kamen an einem Flüsschen vorbei, über den eine kleine verzierte Brücke führte. Ich gab der einen meinen Fotoapparat und bat sie, ein Foto von mir zu machen. Kurz hatte ich das Gefühl, dass sie es nicht gerne tat, aber dann knipste sie mich.
Wir gingen weiter und kamen in eine Gasse, in der winzig kleine Holzhütten neben einander standen. Zu einer der ersten führten sie mich, öffneten die Tür und sagten: „Hier ist es.“
Ich sah die geöffnete Tür, blickte in einen Teesalon, der gefühlt die Größe eines Schuhkartons hatte und wusste in diesem Moment: „Da geh ich nicht rein!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt, sagte schon im Weggehen: „Entschuldigt bitte, aber ich möchte doch nicht mit euch Tee trinken“ und eilte über die kleine Brücke zurück zum belebten Platz.
Es folgte mir niemand, mein Herz pochte bis zum Hals: „Was war das gewesen?“
Als ich abends von meinem Ausflug zurück ins Studentenwohnheim kam und meinem Freund davon erzählte, konnte er sich gar nicht wieder beruhigen: „Oh Mann, wie dumm von mir! Wieso habe ich dir nichts gesagt? Wie konnte ich nur so unachtsam sein, dir nichts davon zu erzählen? Vor diesen Banden wird in jedem Reiseführer gewarnt: Wenn du in so eine Teebude rein gehst, kannst du sicher sein, dass du ohne einen einzigen Cent, ohne deine Kreditkarte, ohne alles, was du hast, wieder rauskommst. Die Leute werden dort einfach festgehalten, bis sie alles rausgerückt haben, was sie besitzen.“
Bis heute erinnert mich das Foto, das unmittelbar hinter dem Platz des himmlischen Friedens von mir entstand, daran, einer Schicht im Menschen begegnet zu sein, in der wir unsere Absichten unabhängig von Sprache kommunizieren.
Auch wenn mir beim Anschauen des Bildes immer noch ein leichter Schauer über den Rücken läuft, so erinnert es mich doch auch daran, dass ich in mir eine Instanz habe, die diese Schicht wahrnehmen kann und an ein Gefühl, sehr gut beschützt gewesen zu sein, bzw Glück gehabt zu haben.
Von T. S.
Eine besondere, eindrückliche Reise
In den 70iger und 80iger betrachtete ich die Indien-Begeisterung meiner Generation mit staunender Distanz. „Was fanden die da bloß?“ Ich befasste mich eher mit Anthroposophie und griechischer Mythologie. Nach Indien zu reisen kam mir nicht in den Sinn. Aber Yoga praktizierte ich etwa seit 1986, allerdings sehr moderat ohne allzu schwierige Verrenkungen. Besonders gut war ich auch nicht. Mitte der 90iger Jahre besuchte ich dann eine Yoga-Gruppe gemeinsam mit meinem Mann. Heidi, die Leiterin sprach eines Tages davon, dass sie eine Gruppenreise nach Tamil Nadu in Südindien organisiere. Kurz: Wir waren dabei.
Die Reisegruppe bestand aus 10 Leuten, die Jüngste etwa 25 Jahre, die Älteste um die 60 Jahre. Die Reise war in vieler Hinsicht besonders. Durch Heidis Ortskenntnisse kamen wir den Menschen und der Kultur sehr nahe. Unser Hauptquartier befand sich in Auroville. Eine Zukunfts-Stadt von Sri Aurobindo und der sogenannten „Mutter“, in den 50iger Jahren begründet, nahe bei Pondischeri.
Besonders waren Licht und Luft. Sie fühlten sich irgendwie spirituell an. Sehr besonders waren die Besuche in den Hindu-Tempeln Mahabalipuram und Tschitamberam. Wir fuhren jeweils mit mehreren kleinen Autos viele Stunden über Land. In allen Städten und Dörfern berauschten die Farben der Kleidung und der Natur und die Gerüche, die waren süßlich-schwer und eben indisch.
Tschitamberam. Dort wird in einer gigantischen Tempelanlage mit mehreren Innenhöfen ein unsichtbarer Lingam des Gottes Shiwa verehrt. Er befindet sich im innersten kleinen Tempelgebäude, das mit mehreren tausend Goldenen Dachziegeln gedeckt ist. Das Tempelchen ist umlärmt von Priestern, Pilgern, Familien und einigen wenigen Touristen.
Vor der gigantischen Tempelanlage kauften wir auf Geheiß von Heidi kleine Opferschalen mit Früchten und Kokosnüssen und Blumen. Recht unbedarft stürzten wir uns in das quirrlige und laute Treiben in den verschiedenen Tempelbereichen. Im Innersten angekommen stellten wir uns mit großen Augen und etwas irritiert von all dem fremden, lauten Treiben in die kurze Schlange derjenigen, die die Opfergaben an Shiwa darbrachten. Drinnen hockten oder rannten von einer Ecke zur anderen junge Brahmanen mit einer dünnen Schnur diagonal über dem freien Oberkörper und wuschen kleine Götterfiguren mit Kokosmilch und Wasser. Sie riefen sich ständig etwas zu. Geklapper, Geschrei und überhaupt: alles andere als andächtige Stille umgab uns.
Ein hochgewachsener Brahmane, mittleren Alters, nahm die Opfergaben entgegen und brachte sie in den Raum, in welchem der unsichtbare Lingam verehrt wurde.
Durch ein Holzgitter mit großen Rauten konnten wir sehen, dass der Lingam-Raum leer war. Der sakrale Gegenstand war eben unsichtbar. Ich übergab dem Brahmanen meine Schale und harrte ohne jegliche Erwartung, dass er wie bei den Menschen vor mir, die Opfergaben zum Lingam bringt und mit einer kleinen Flamme auf einem Teller zurückkommt. So geschah es auch. Wie alle vor mir legte auch ich meine Hände kurz auf die Flamme und führte sie über meinen Scheitel. Völlig überrascht spürte ich eine unendlich wohltuende Energie. Beseligendes Licht strömte von meinem Kopf zu meinen Füßen. Vom Scheitel bis zur Sohle war ich erfüllt davon und eine unendliche Herzenswärme breitete sich in mir aus. Ein unvergessliches Erlebnis. Der größte Segen, der mir bis dahin zuteil wurde.
Seither haben alle Weltreligionen für mich ihre Berechtigung und meinen Respekt.
Von E. M.
Die Geschichte meiner Kleider
Peter nannte mich „Zuckerstange“. Wir alle lachten. Unsere Clique wusste sofort was gemeint war und ich auch. Mitte der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts hingen die Ständer der Läden voller rosa Hosen, Shirts, Mäntel, Strümpfe und was sonst noch so gefiel. Rosa bis Pink gab es überall. Ebenso meine zweite Lieblingsfarbe türkis. Ich war mit der Ausbildung zu Ende und konnte mich, zumindest im günstigen Segment, ausstatten. Wobei ich sehr wählerisch war. Verschwenderisch nicht, aber es machte mir so viel Spaß, endlich mal alles nach meinem Gusto anzuziehen und einzurichten. Ich holte wohl auch ein ungestilltes Bedürfnis meiner Kindheit nach… Auch meine Stuttgarter Single-Wohnung strahlte von Rosa, Pink und Türkis. Die Grundausstattung bestand aus weißen Wänden und Kiefernholz-Möbeln, aber Vorhänge, Decken, Geschirr, Kissen und vieles mehr war rosa, pink oder türkis. Ließ ich die Türen meines Kleiderschranks offen stehen, passte der Inhalt perfekt zum Rest der Wohnung.
Ich hatte einen regelrechten Rosa-Türkis-Tick und viel Freude daran. Daher nannte mich Peter mit Fug und Recht Zuckerstange. Wir hatten uns in Spanien beim Surfen kennengelernt. Unsere Clique wuchs und setzte sich aus lauter Singles zusammen. Wir lebten in verschiedenen Städten über Deutschland verteilt und trafen uns regelmäßig mal in Stuttgart, Frankfurt, Hannover oder Husum. An die „Zuckerstange“ erinnere ich mich unter anderem so gut, weil ein Foto aus dieser Zeit existiert, auf welchem ich in rosa Mantel, rosa Hose, rosa Shirt und rosa Schuhen auf einer weiten Grünfläche am Nordsee-Deich bei Husum mit ausgebreiteten Armen einen Bumerang werfe.
Durch Peter lernte ich Wolfgang kennen – beide ursprünglich aus Hannover – und durch Wolfgang hatte ich eine Einladung zu einer Party nähe Fruchtallee in Hamburg. Ich war 1988 umgezogen nach Hamburg, um an einer Waldorfschule als Theaterpädagogin und Sprachgestalterin zu arbeiten.
Meine neue Wohnung war natürlich in den Farben Weiß, Kiefer, Rosa, Türkis und Pink eingerichtet. Von hier aus starteten Peter, der zu Besuch war und ich zur Party. Ich trug ungewöhnlicher Weise ein petrolfarbiges Kleid und pinkfarbene Schnürstiefelchen. Bester Laune betraten wir ein Atelier, das schon gut mit Gästen gefüllt war. Getanzt wurde teilweise auch schon. Die verwinkelten Räume waren recht niedrig, an den Wänden standen große farbenfrohe Gemälde. Die lebhafte Stimmung sprang sofort auf mich über.
Dann entdeckte ich sie: lange schwarze Haare, ein pinkfarbenes, bodenlanges, schulterfreies Prinzessinnenkleid, Gläser polierend. Mitten drin und doch unübersehbar in dem ganzen Gewühl stand Iris! Sie sprach laut und fröhlich in klarstem Stuttgarter Schwäbisch. Wir kannten uns nicht, waren uns aber sofort sympathisch. Bald stellten wir fest, dass wir gemeinsame Bekannte haben und beide Rosa und Türkis lieben. Bis heute sind wir beste Freundinnen.
Einige Monate vor der Party – die mir mehrere freundschaftliche Bekanntschaften eintrug – bewarb ich mich an der Waldorfschule in vollem „Zuckerstangen-Outfit“. Rosa Mantel, rosa Hose, rosa Pumps. Während des Vorstellungs-Gesprächs wurde viel gelacht und eine Woche später erhielt ich die Nachricht, dass ich nach den Sommerferien anfangen kann. Ein bisschen erstaunlich fand ich es schon, dass sich das Kollegium von meinem ungewöhnlichen Kleidungsstil nicht abschrecken ließ. Etwa ein Jahr später meinte dann eine Kollegin: „Wir hatten uns gerade an den Waldorfwallewalle-Kleiderstil und Birkenstockschuhe gewöhnt, und dann kommst Du und bringst mit Deinem Rosa und Deinen Pumps alles durcheinander.“
Auch in der Schülerschaft blieb mein spezielles Styling nicht ohne Kommentar. Als die zweite oder dritte Abiturs-Klasse, die unter meiner Regie ihr 12. Klass-Theaterstück geprobt hatte, ihre Abschiedsfeier vor der gesamten Schüler- und Lehrerschaft auf der Bühne zelebrierte, wurde jede Lehrerin, jeder Lehrer einzeln aufgerufen und bekam ein Geschenk überreicht; liebevolle und etwas provokant-humorvolle kleine Ansprachen inbegriffen. Mir wurde rosapinkfarbene Reizwäsche überreicht: ein BH und ein Slip. Die Ansprache war wohl sehr lustig. Meine Verblüffung aber so groß, dass ich keine Ahnung mehr habe, was gesagt wurde. Es war wohl frech und respektvoll in einem. Hoffentlich.
Mein Kleidungsstil hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mehrfach gewandelt. Sogar Phasen in konservativen Anzügen mit Krawatte, oder lange geblümte Seidenröcke gab es. Auch Jeansoutfits und rote oder schwarze Minikleider waren dabei. Meine Kleidung entsprach meinem jeweiligen Lebensgefühl. Das wird mir immer mal an der Tatsache klar, dass ich manche Kleidungsstücke – obwohl sie mir nach wie vor gefallen – einfach nicht mehr tragen mag. Sie passen dann eben nicht zum aktuellen Lebensgefühl. Wie gut, dass es den Secondhand-Laden gibt.
Hamburg, den 10. Januar 2022 E. M.
Die Geschichte eines Kleidungsstückes
Es begann an einem Samstagabend im Dezember 1980 in Elmshorn.
Ich war dabei mich für einen Junggärtnerball chic zu machen; hatte schon einige Sachen anprobiert und auf meinem Bett drapiert.
Ich entschied mich für meine Lieblingshose; knalleng, waldgrün, Samt mit leichtem Schlag.
Sie saß einfach top, und ich war sehr zufrieden.
Ich wurde von einem Freund mit dem Auto abgeholt, und wir waren bester Laune auf dem Weg nach Ellerhoop zur Dorfkneipe.
Dort war es eng und voll, laute Musik, Rauch in der Luft, eine gut besuchte Sektbar und jede Menge junger ausgelassener fröhlicher Leute auf dem Tanzboden.
Die Disco spielte Rock`n Roll und es ging auf die Tanzfläche ab.
Ausgelassen, dynamisch wiegend fetzten unsere Körper nach der lauten Musik.
Plötzlich wurde mir ganz anders … ich hatte auf einmal ganz viel Luft im Bereich des hinteren Gesäßes … meine wunderbare superenge Samthose war in der Naht vom Steiß bis zum Schritt geplatzt !!!! Mir wurde gleichzeitig heiss und kalt.
Ich winkte meinen Tanzpartner mit dem Zeigefinger zu mir und bat ihn, ohne Fragen zu stellen im Entenschritt ganz dicht hinter mir den Saal zu verlassen, um mir möglichst unauffällig Deckung zu geben.
Er fuhr mich nach Hause, ich zog schnell eine andere enge Jeans an, und wir fuhren wieder zurück zur Disko.
Dort warteten meine Freunde an der Sektbar auf eine Erklärung, und diese Geschichte sorgte an dem Abend noch für sehr viel Gelächter.
Sonja Maier
Ein Lieblingsort
„Gehen wir wieder mal Törtchen essen?“ fragt mich mein Freund Gustav. Er ist ein gut aussehender Mann mit sympathischen Lachfältchen, voller Empathie und Aufmerksamkeit im Gespräch, elegant und gleichzeitig sportlich gekleidet, um die Augen einen dezenten Kajalstrich. Ein Verlust für die Frauenwelt!
Die Törtchen, die er meint, gibt es im Café Gnosa, ein schillernder Ort mit wundervollem Gebäck und augenzwinkernder Selbstironie. Mitten im St. Georg, einem Viertel nahe dem Hamburger Hauptbahnhof, zwischen Künstlern und Kunsthandwerkern, zwischen Drogenstrich und exklusiver Alternativszene und auf der Straße flanierenden schönen Männern. Einmal im Sommer sah ich einen mit nacktem Oberkörper, weißem Jackett und goldener Fliege um den Hals. Ich war hingerissen. Im Winter konnte ich in eine hell erleuchtete Küche schauen – der Herd ist mitten im Raum, so wie man das in Life-Style-Magazinen sieht, grandios ausgestattet, alles vorhanden für eine exquisite Kochkunst. „Bestimmt laden die Jungs hier ihre Freunde ein und zelebrieren ein Candellight-Dinner mit vier Gängen, dazu gekühltem Champagner Dom Perignon Vintage. Und dann erzählen sie von ihren neu erstanden Bilder aus einer New Yorker Galerie“ – meine Phantasie malt alle Details dieses geselligen Abends aus.
Geht man in diesem Viertel diagonal an den teuren Szene-Restaurants vorbei auf die andere Seite, kommt man zum Hansa-Platz mit dem opulenten Hansa-Brunnen in der Mitte. Tags ein großer, leerer Platz. Aber nachts funkeln rundherum die Reklameschilder der verschiedensten Imbisse, aus Persien, der Türkei, Indien, aus dem Libanon. Richtet sich der Blick weg von diesen Lichtern in die etwas dunkleren Ecken, sieht man dort die Mädchen stehen. Und wenn man nicht zielstrebig und schnell läuft, bekommt man auch anderes angeboten.
Mitten in all diesem sind die Törtchen vom Café Gnosa. In Wirklichkeit sind sie ausgewachsene Torten. Gustav und ich stehen vor dem Glastresen mit den verlockenden, mehrfach geschichteten Teilchen. Wir wählen Birne in Nussteig und Johannisbeeren mit Schmand – die Auswahl macht uns die Entscheidung nicht leicht. Neben den Kuchenstücken liegen aus Marzipan detailgetreu geformte Penise. „Soll man die nun lutschen oder reinbeißen?“, frage ich mich innerlich, getraue mich aber nicht, diese Bemerkung auszusprechen. Obwohl die reizenden Bedienungen das sicherlich mit viel Humor aufnehmen würden …
Wir setzen uns an einen freien Tisch, widmen uns den Törtchen und tauschen unsere jüngsten Lebensereignisse aus.
Der Raum ist eingerichtet wie in den 50-zigern, oder sind es die 30-er? Die Wände sind golden gestrichen, auf rauem, rissigem Untergrund, an manchen Stellen blättert die goldene Farbe ab. In der Mitte schwebt ein riesiger Lampenschirm. Den kenne ich von meiner Oma, der war aber damals viel kleiner. An der einen Wand hängt ein großes, mit Patina bedecktes Gemälde von Hamburg aus früheren Zeiten, in bräunlichen verblichenen Farben. Es hängen aber auch moderne Kunstwerke an den Wänden, manchmal Aktzeichnungen von Männern.
Um die Tische stehen alte, lederne Sessel. Die Besucher, meist sind es Männer, sitzen zusammen, plaudern – viele scheinen sich zu kennen – trinken Café, oder man liest eine der vielen Zeitung, die am Zeitungsständer hängen.
Ich stelle mir den Raum vor, wie er ohne Menschen wäre. Da entsteht in mir das Bild, dass hier Zarah Leander hereinschreiten könnte, in langem weißem Perlenkleid, mit schwungvoll gezogenen Augenbrauen und von tragischer Liebe singen würde.
Manchmal komme ich auch alleine hierher. Weil es ein wunderbarer Ort ist, um mich zu therapieren. Immer wenn ich in Selbstmitleid zerfließe: „Ich bin doch einfach nicht normal! Alle anderen haben die üblichen Standards des Lebens geschafft – nur ich nicht!“ – dann setze ich mich ins Café Gnosa. Ich feiere das Leben mit einem Törtchen, höre im Geiste Zahra Leander singen und weiß, dass auch auf rissigem Grund eine goldene Farbe hält.
Und danach ist alles wieder zurechtgerückt. „Bunt ist die Welt und alles hat seinen Platz auf ihr! Darauf kommt es an!“
Konnte ich einem anderen Menschen Licht geben?
Zum Jahresrückblick: Wann habe ich Licht bekommen? Wann habe ich Licht gegeben?
Als ich neulich auf die Straße trat, rief mir ein Bekannter, der dort in einem Gespräch mit einer Person stand, zu: „Die Sonne scheint!“, mit einer weit ausholenden Geste. Und ich: „Aber es ist doch ein grauer, düsterer Tag!“. „Die Sonne sind Sie, Sie strahlen Helligkeit aus“, war seine überraschende Antwort. Also ohne es zu wissen oder zu planen, ging Licht von mir aus. Ich freute mich!
Ich habe mir vorgenommen, Menschen, wen auch immer, anzulächeln. Und fast immer kommt ein Lächeln, mit den Augen, mit dem Mund, ja sogar mit ein paar Worten, zurück. Ich werde „zurückgelächelt“: Und schon wird es Licht, an diesen grauen Novembertagen besonders.
Die Erkenntnis, dass es keiner großen Taten bedarf, anderen Licht zu bringen, einen Augenblick vielleicht nur die eigene Düsterheit zu durchbrechen, lässt mich nachdenklich werden. Es ist ja nicht das Licht meiner Persönlichkeit, sondern eine Kraft, die durch sie hindurch scheint, angefacht wohl von meinem Willen, angefacht ohne Absicht, ohne Erwartung. Licht, das auch mir geschenkt wird, aber nicht mir gehört, sondern durch mein Menschsein sich verströmen möchte.
Inke Antonio, 90 Jahre alt