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Was kann das Anthroposophische Menschenbild zum Verständnis der Welt beitragen?
Zusammenfassung eines Vortrages von Helmut Eller, Vortragsredner und ehem. Waldorflehrer
„Wir leben in einer apokalyptischen Zeit“, so wurde der Vortrag von Herrn Eller vorgestellt. „Wie gut, dass wir in einer apokalyptischen Zeit leben. Dann sieht man die Dinge. Und nur, wenn man die Dinge sieht, kann man daran arbeiten. Apokalypse ist jugendhaft, da ist immer viel Sturm und Drang, dann hat man auch die Jugendkräfte, neu anzufangen und etwas zu ändern.“
Diese Sichtweise, die sich auf die Chancen richtet, war die Einleitung zu der Vortragsreihe der Lukas-Kirche Volksdorf: „Umkämpftes Menschenbild“. In dieser Reihe hielt Helmut Eller am 1. September seinen Vortrag, in dem er besonders auf die Dreiheit in dem anthroposophischen Verständnis über das Bild des Menschen einging.
Helmut Eller war 40 Jahre lang Waldorflehrer; während dieser Zeit hatte er parallel 25 Jahre an der Universität einen Lehrauftrag für Waldorfpädagogik. Bis heute gibt er Seminare in unterschiedlichen Zusammenhängen, hält anthroposophische Vorträge und u. a. war er dafür zehnmal in Japan. Er hat verschiedene Bücher geschrieben, u.a. ein Buch über die Entwicklung des Kindes.
Wie kann die Dreiheit, also die Dreigliederung, dazu beitragen, dass man die Welt anders verstehen kann?
Die göttliche Schöpfung war der Anfang, und die Welt war in einer Einheit mit dem Göttlichen. Aus dieser Eins wurde die Zwei, und mit der Drei kam und kommt ein neuer großer Aspekt in die Menschheitsentwicklung.
In meinem Beruf als Lehrer durfte ich oft mit Elternpaaren sprechen. Ihre Kinder hatten diese vorgeburtlich ausgesucht und die Mutter ganz besonders geliebt. Die Mutterliebe war dann gleichsam die Antwort.
Wir alle kommen durch Planetensphären der Erde näher und haben aus dieser Sphäre eine Fülle von Impulsen mitgenommen. Das alles lebt geheimnisvoll in uns, wenn wir von der geliebten Mutter geboren werden. Wir kommen bereits mit einer Dreiheit auf die Welt.
Fähigkeiten, die wir von alleine können
Haupt, Rumpf, Glieder und bringen in diesen drei Bereichen Fähigkeiten mit, die wir von alleine können. Das erste ist Atmen: im Rumpf besteht die Fähigkeit, die Luft einzuziehen und wieder auszuatmen. Was macht das Neugeborene als erstes? Es nimmt quasi die Außenwelt in die Lungenflügel ein und der Schrei des Kindes ist dann ein Ausatmen. Dieses Einatmen ist der Beginn eines neuen Lebens, so wie der Todesaugenblick ein endgültiges Ausatmen ist.
Die Pfeile gehen nach innen, es ist eine zentripetale Geste. (Ein- und Ausatmen mit zwei Pfeilen, nach außen und nach innen). Von diesem ersten Augenblick an können wir das: die Luft einziehen und wieder ausatmen.
Was können wir im Haupt? Es wurde inzwischen wissenschaftlich belegt, dass in dem Moment, wenn die Babyhände die Mutterbrust berühren, der Saugreflex einsetzt. Wir können von alleine ein-saugen. Später können wir mit dem Kopf die Welt, auch die Nahrung, hereinnehmen, mit dem Mund, den Augen, den Ohren, der Nase. Der Kopf ist u.a. ein Sinnesorgan, das die Außenwelt aufnimmt.
Mit den Gliedern strampelt das kleine Kind. Diese Bewegung geht von innen an die Peripherie.
Wir sind also ein Wesen, das im Haupte das Gegensätzliche macht wie in den Gliedmaßen.
die Aufrechte
Wie kommen wir in die Aufrechte? Das Haupt fängt an sich abzuheben. Gleichzeitig erlernen wir das Blicken. Das alles geschieht durch eigene Aktivität.
In einem halben Jahr sitzen wir, die Arme sind frei. Nach einem dreiviertel Jahr kommt der Augenblick, dass sich das Kind aufstellen kann. Nach einem Jahr ist damit die Senkrechte erobert und das Kind lernt das Gehen. Manche Kinder sind schneller, andere langsamer – ganz individuell.
Ab dem zweiten Jahr beginnt das Kind mit der Sprache. Zuerst kann es nur einige Hauptwörter sprechen. Als nächstes kommen die Wie-Wörter, wie man etwas fühlt – groß, klein, schnell, langsam etc. Das Herz, das in der Mitte liegt, ist das fühlende Organ. Als dritter Schritt gehen wir in die Glieder und sprechen die Tu-Wörter. Auch das ist ein Dreischritt, er geht von oben nach unten, vom Kopf zu den Gliedmaßen. In der frühen Satzbildung fehlt noch jede Grammatik: Anna sagte: „Anna Stuhl fallen – bumm!“
Kopf – Hauptworte
Herz (Mitte) – Wie-Wörter
Glieder – Tu-Wörter
In den ersten sieben Jahren bis zur Schulreife haben wir auch eine Dreiteilung. Mit 2 1/3 Jahren ergreift sich das kleine Kind und spricht „Ich“. Gleichzeitig kommt auch die Trotzphase, die man eigentlich Persönlichkeitsentwicklungsphase“ nennen sollte. Jetzt wird die Mutter geprüft, ob sie damit fertig wird, Humor hat und sich freut. Denn ein Kind, das ordentlich donnert, ist eine starke Persönlichkeit.
Die Kinder kommen ins Tun, wenn sie zu etwas Lust haben.
In der Denkphase, die im nächsten Drittel des ersten Jahrsiebst liegt, kommt das berühmte Fragealter. Es ist die Freude an der Sprache! Ein Aussagesatz ruft eine Frage hervor. Es geht gar nicht so sehr um das Inhaltliche beim Antworten.
Es sind auch die drei Seelenglieder, die bereits im ersten Jahrsiebt entwickelt werden: Wollen, Fühlen, Denken. Wollen ist gemeint im Sinne von Tun. Bei den Kindern ist immer der Wille, das Tun, an erster Stelle. Wir als Erwachsene können auch vom Denken, also von einer Einsicht in die Notwendigkeit zum Handeln kommen, aber die Kinder kommen ins Tun, wenn sie zu etwas Lust haben. Kinder lernen durch das Tun und kommen über das Fühlen dann zum Denken. Wenn die Kinder lernen, in den Fingern geschickt zu sein, werden sie auch geschickt im Denken. Deshalb lernen bspw. die Schüler in den ersten Klassen der Waldorfschule stricken: Was man geschickt mit den Händen macht, kann man später geschickt mit dem Haupt.
Die Dreiheit im menschlichen Skelett
Diese Dreiheit findet man auch in anderen Bereichen.
Ist im Skelett sichtbar, was sich im lebenden Menschen als die Seelenkräfte Denken, Fühlen, Wollen darstellt?
Typisch am Kopf ist das vorwiegend runde Bild; es ist ganz Schale, es hüllt ein.
Bei den Gliedmaßen sieht man gerade, gestreckte Linien, quasi Strahlen. Es steht im absoluten Gegensatz zum Haupt.
In der ersten Schulstunde in der Waldorfschule werden diese beiden Linien gezeichnet: eine gerade und eine krumme.
Was ist die Mitte? Der Brustkorb ist nach oben rund, nach unten offen. Er sieht nicht aus wie die Schädeldeckung, aber es ist eine Umhüllung von oben. Die Rippen setzen hinten an und kommen im Brustbein wie Arme nach vorne; sie sind einerseits wie der Kopf, andererseits wie die Arme (Gliedmaßen) – also eine Mischung von beidem. Sie sind angeordnet: da ist was, dann ist wieder nichts, dann ist was, dann wieder nichts – ein Bild des Rhythmus. Der Brustkorb umhüllt unsere Rhythmus-Organe Herz und Lunge. Auch hier zeigt sich der dreigliedrige Mensch als Skelett: gerade Linie, krumme Linie und dazwischen beides ineinander gearbeitet.
Betrachtet man genau die Wirbel, die Arme, die Handfläche oder den Fuß, findet man die Prinzipien des Kopfes, den Rhythmus der Mitte und die Streckung der Gliedmaßen auch dort wieder.
Wir wachsen, auf geheimnisvolle Weise, dank der Hilfe von hohen geistigen Wesen, zu einem solchen Gebilde heran
Es gibt noch weitere Aspekte, die man zu dieser Dreigliederung beitragen kann. Im Kopf herrscht Ruhe. Die Gliedmaßen wollen bewegt werden, sonst führt das zu Problemen. In der Mitte ist wieder beides: Wir atmen ein, es gibt einen kurzen Moment Ruhe, dann atmen wir aus. Mit diesem Augenblick des Umkehrens sind der Rhythmus und also auch die Dreigliederung da.
Schiller: Formtrieb im Haupt, Stofftrieb im Stoffwechsel, und in der Mitte gibt es den Spieltrieb
Es wirken in den drei Regionen Kräfte. Das hat Schiller bereits entdeckt: Er sprach von dem Formtrieb im Haupt, vom Stofftrieb im Stoffwechsel, und in der Mitte gibt es einen Spieltrieb. Tatsächlich strömen formende Kräfte vom Haupt herunter. Das Formen gehört auch zur Welt der Gedanken. Im Stoff-wechsel, im unteren Leib, bilden und verwandeln wir Stoffe, die von unten nach oben streben und begegnen den Formkräften. Die rhythmische Mitte wirkt in beide Richtungen. Alles, was wir durch Ernährung aufnehmen, wird restlos zerstört, ganz neu aufgebaut und in Wärme umgewandelt.
In diesem Bereich muss alles weich sein, aber im Gegensatz dazu ist der Schädel nach außen hart und fest.
In den Gliedmaßen ist auch die Wärme angebracht, bzw. gesund; jeder Sportler muss sich warm laufen. Und bekanntlich soll man einen „kühlen Kopf“ haben. Das Gesicht hält bis zu minus 50 Grad Kälte aus. Nur die Nasenspitze, die braucht Wärme; sie ist sozusagen der Stoffwechselteil unseres Riechorgans.
Auch selbst am Ohr gibt es eine Dreigliederung: das Ohrläppchen drückt den Willensteil aus, der Bogen steht für das Denken, der mittlere Teil steht mit der Formung des Rein- und Raus für die rhythmische Mitte. Das Wollen, Fühlen, Denken findet man überall, auch in den Augen, in jedem Blutstropfen kann man das anhand bestimmter Untersuchungsmethoden lesen lernen.
Die Dreigliederung bedeutet, dass sich in jedem Teil eines Organismus das Ganze widerspiegelt.
Am Kopf findet sich die Dreigliederung: die Stirn steht für das Denken, der mittlere Bereich um die Nase für das Gefühl, das Kinn drückt den Willens- bzw. Gliedmaßenbereich aus.
Je nachdem, wie groß und ausgeprägt diese jeweiligen Bereiche sind, haben die Menschen ein starkes Gefühls-, Denk- oder Willensleben. Aber auch jeder dieser Bereiche lässt sich wieder in drei Glieder unterteilen, beispielsweise sieht man an der ganzen Nase das obere Drittel vom Nasenbein umhüllt, also Kopfprinzip, die weiche Spitze das Gegenprinzip und der Nasenrücken die Mitte, das Gefühlselement eines Menschen, usw.
Bei den Zähnen gibt es Schneidezähne, die stehen für den Kopfbereich, die Backenzähne sind das Stoffwechselprinzip und die Eckzähne das rhythmische Prinzip.
Auch die Finger, die Hand, die Beine usw. – alles hat eine Dreiheit.
Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen, im Leiblichen, im Seelischen (die drei Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen) und auch im Geistigen (3 Geistesglieder wird er zukünftig entwickeln können). Die Dreigliederung spricht von 3 Systemen, die alles Gesagte zusammenfassen:
Das Kopfprinzip ist das Nerven-Sinnes-System,
die rhythmische Mitte das Rhythmische System,
das untere Prinzip, das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System
Diese findet man überall im Leib wieder bis in jede Nervenzelle, jeden Muskel und Knochen. Die Knochen sind das Feste, die Muskel das Bewegliche, das Dazwischenliegende ist die Sehne.
Man kann nur staunen – wer hat das „erfunden“ und geschaffen?
Wann man dieses Wissen auf die Pädagogik bezieht, weiß man, dass man bei Kindern nur eine bestimmte Zeit lang durch Erzählen die Kopfkräfte beanspruchen darf. Dann muss wieder das Gliedmaßensystem sein Recht bekommen, und die Kinder müssen etwas Praktisches tun. Es muss immer ein gesunder Wechsel zwischen oben und unten sein, der Unterricht muss atmen.
Dieses Bild des Menschen ist für Pädagogen und Ärzte wichtig, auch besonders dann, wenn eine Einseitigkeit vorliegt.
Wenn ein Kind die Luft nur mühsam einatmen kann, gar Wucherungen im Kopf hat und im Unterricht nicht aufpassen kann, muss man das Kind anregen zum Formenzeichnen, Formenlaufen, und dadurch den Kopf befreien. Wenn jemand Asthma hat und nicht ausatmen kann, wenn alles fest ist, d. h. das Kopfprinzip zu stark ist, lässt man denjenigen mit Wasserfarben malen, ohne Form, sodass die Farben strömen und alles gelöst wird.
Wenn beispielsweise Verstopfung vorliegt, der Stuhl aussieht wie bei einem Kaninchen – dann ist alles zu trocken, es bilden sich lauter „Köpfchen“. „Der Kopf sitzt unten im Stoffwechsel“, dann muss man auch wieder auflösen, der Kopf ist zu stark. Bei Diarrhö muss man den Gegenpol stärken. Wenn wiederum jemand Gallensteine hat, sitzt der Kopf quasi unten im weichsten Organ. Da, wo nichts Hartes hingehört, bilden sich Steine. Auch da gilt als heilendes Prinzip das Auflösen.
Auch in der Biografie mit den Siebenjahresrhythmen findet man eine Dreigliederung. In den ersten sieben Jahren entwickelt sich vor allem der physische Leib, aber wir bringen von Anfang an auch einen Lebenskräfteleib mit, dazu die Seelenkräfte im Astralleib und auch ein Ich. Wenn das Kind die Schulreife erlangt, haben die Lebenskräfte die zweiten Zähne ausplastiziert, es kommt der Zahnwechsel. Diese Kräfte, die so wunderbar die Zähne plastiziert haben, sind jetzt „arbeitslos“ und werden für die Schulreife benutzt. Im Alter von 14 Jahren entstehen die Kräfte der Liebe, die müssen sich nicht unbedingt auf das andere Geschlecht richten, sondern es geht auch um Weltliebe und Welt- Interesse. Deshalb hat die Waldorfschule so viele Fächer, um den Menschen breit aufzustellen, damit jeder findet, was er braucht. Und immer gibt es in diesen Jahrsiebten den Dreierschritt von Wollen, Fühlen, Denken.
Die Biografie geht weiter und wir durchdringen uns mit weiteren Wesensgliedern: Empfindungsseele, Verstandesseele, Bewusstseinseele. Ab dem 42. Lebensjahr haben wir die Möglichkeit, Zukunftskräfte zu entwickeln mit den sog. Geistesgliedern.
Der Vortrag lenkte nun den Blick in die Welt, um zu zeigen, wie sich auch in den Tieren und Pflanzen, im Mineralreich und auf der Erdoberfläche, ja sogar in der Wolkenbildung, in den Hierarchien und im Kosmos das Bild des dreigliedrigen Menschen wiederspiegelt. Der Mensch – ein Mikrokosmos.
Außer dieser Dreiheit gibt es auch andere zahlenmäßige Ordnungsprinzipien. Beispielsweise kann man den Menschen als Abbild des Tierkreises betrachten: damit unterliegt er einer Zwölfheit. Es gibt auch die Zahl 7, die mit den Planeten zusammen hängt, und die findet man in den Siebenjahresrhythmen des Lebens. Die Zahl 4 hängt mit den 4 Lebenskräften, den 4 Temperamenten und den 4 Wesensgliedern des Menschen zusammen, welche auch auf eine 9 erhöht werden können.
Durch das dargestellte Menschenbild können wir lernen, unsere Welt immer tiefer zu verstehen.
In unserer Biografie sind wir spätestens ab dem 27. Lebensjahr selbst verantwortlich, was aus uns wird. Alles, was wir geschenkt bekommen haben, reicht nicht aus. Die Anthroposophie kann dabei eine Lebenshilfe sein, ab diesem Alter alle Kräfte selbst zu entwickeln.
Ich möchte mit einem Zitat enden, das Rudolf Steiner anlässlich der Gründung der Waldorschulen gegeben hat und das wir aber auch für unser gesamtes Menschenbild übernehmen können.
Lebendig werdende Wissenschaft,
Lebendig werdende Religion,
Lebendig werdende Kunst:
Das ist schließlich Erziehung,
Das ist schließlich Unterricht.
Helmut Eller: „Entwicklungsstufen des werdenden Menschen . Zur Menschenkunde der Waldorfpädagogik“ Verlag Freies Geistesleben