Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Nachgefragt: Anthroposophie
Vier Beiträge aus dem gleichnamigen Buch von Wolfgang Müller
„Viele tun sich schwer mit Rudolf Steiners Schriften. Tatsächlich sind sie voller faszinierender, aber auch anspruchsvoller Gedanken. Hinzu kommen Vorwürfe, manches an Steiners Weltbild sei fragwürdig, ja sogar rassistisch. Der Publizist Wolfgang Müller nähert sich diesen Themen über ‚Häufig gestellte Fragen‘. Mit kurzen, prägnanten Antworten geht er sozusagen einmal durchs anthroposophische Gelände: Steiners zentrale Ideen kommen dabei ebenso zur Sprache wie ihre praktische Umsetzung in Waldorfpädagogik oder biodynamischer Landwirtschaft; Steiners Lebensgeschichte wird ebenso thematisiert wie sein politischer Ansatz und seine Ausblicke auf die Zukunft.“
In dieser Hinweis-Ausgabe drucken wir exemplarisch vier seiner Antworten ab.
Wolfgang Müller wurde 1957 in Heidelberg geboren und wuchs in Speyer am Rhein auf. Er studierte Geschichte und Germanistik in Heidelberg und Hamburg. Anschließend war Müller Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in den Ressorts Wissenschaft und Zeitgeschichte. Veröffentlichungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Die Zeit, der taz und im Merkur. 2021 erschien sein Buch „Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart“. Es erreichte innerhalb kurzer Zeit mehrere Auflagen und wurde auch ins Französische übersetzt. Müller lebt er als freier Autor in Hamburg.
Wie konnte Rudolf Steiner das alles wissen?
Sehr schwierig, darauf eine konkrete Antwort zu geben! Vielleicht könnte man so ansetzen: Wenn bestimmte grundlegende, zentrale Fähigkeiten erreicht sind, dann kann dies sehr wohl ein neues Licht auf ganz unterschiedliche Felder der Erkenntnis werfen. Um es in einem Bild zu sagen: Wenn ich mich über lange Zeit und unter großen Schwierigkeiten durch eine unübersichtliche Landschaft bewegt habe und dann eines Tages von einem Berg aus das Ganze überblicken kann, dann wird mir eben – fast wie auf einen Schlag – vieles klar werden; manches, das ich „unten“ mühsam erforschen musste, und wohl auch manches, das gar nicht auf meinem Weg lag, aber von diesem Standort aus vollkommen deutlich vor Augen liegt.
Ist das dann ein „Wunder“? Oder ist es nicht die schlichte Folge einer günstigeren Erkenntnisposition? Diesen besonderen inneren Ort zu erreichen, ist im Grunde seit Urzeiten der Inhalt aller spirituellen Bemühungen und ist auch Inhalt dessen, wovon die Anthroposophie auf neue Weise zu sprechen versucht. Und ja, es ist ein steiler Berg …
Eine andere Antwortmöglichkeit: Steiner hatte eine Begabung, über die im Prinzip jeder Mensch verfügt, in einem besonderen Maß und in größter Bewusstheit ausgebildet: die Begabung, sich in Dinge und Menschen hineinzuversetzen, sie gleichsam in ihrer inneren Gestalt zu „lesen“. So konnte er – in einer Art tiefer Hingabe und Anverwandlung – in ungewöhnlicher Weise aus dem Wesen einer Sache oder eines Menschen heraus sprechen. Letzteres müssen wohl auch viele Menschen – nicht alle – in der Begegnung mit ihm erfahren haben; anders wäre die Ausstrahlung dieses eher leisen Geisteslehrers kaum erklärbar.
Manche spirituell versierten Menschen werden vielleicht auch eine kürzere Antwort geben: Steiner konnte so vieles wissen, weil er ein hoher Eingeweihter war. Das ist natürlich ein Begriff, der in unserer Zeit kaum noch verständlich ist und dem einiges Misstrauen entgegenschlägt. Manche werden es wohl überhaupt problematisch finden, bestimmten Menschen „höhere“ Einsichten zuzuschreiben. Aber tun wir das nicht im Alltag in gewisser Weise ständig? Kennt nicht jeder in seiner Umgebung Menschen, deren Weltsicht einem fundierter, interessanter und eigenständiger erscheint als die vieler anderer? Man wird solchen Menschen deswegen noch lange nicht blind folgen, ihnen aber doch – aus guten Gründen! – aufmerksam zuhören. Etwa so, um etliche Grade verstärkt, erlebten und erleben wohl viele Menschen Rudolf Steiner.
Problematisch würde die Sache nur, wenn aus solchen Erkenntnisdifferenzen ein Herrschaftsanspruch abgeleitet oder wenn eine Art Unfehlbarkeit beansprucht würde. Beides hat Steiner immer scharf abgelehnt. „Da werden gewiss mancherlei Irrtümer drinnen sein“, sagte er über die von ihm initiierte Geistesforschung. Und überhaupt: „anregen möchte ich, nicht überzeugen“.
Was ist dran an den Nationalismus-Vorwürfen gegen Steiner?
Nicht viel. Da werden in der Regel zwei Dinge verwechselt.
Das eine: Ja, Steiner war überzeugt, dass die mitteleuropäische und gerade auch die deutsche Kultur eine Art Aufgabe in der Welt habe. Mit ihrem Zug ins Geistige, wie er etwa in großen philosophischen Vorstößen zum Ausdruck kam, mit ihrem ausgeprägten Interesse an Fragen innerer Entwicklung, gelegentlich auch ihrer Weltfremdheit, hätte sie der notwendige Gegenpol zu den pragmatisch-nüchternen Talenten insbesondere der angelsächsischen Welt sein können. Tatsächlich lebten ja die Deutschen, während die Briten schon ihr Weltreich aufbauten, noch in verschlafenen kleinen Fürstentümern. Letztlich aber, so Steiner, hätten die Deutschen ihre eigentliche, tiefere Rolle nicht erkannt und ergriffen und seien (nach der Reichseinigung 1871) ebenfalls auf die Bahn äußerer Machtentfaltung gegangen. „Die Deutschen sind daran zugrunde gegangen, dass sie es auch mitmachen wollten mit dem Materialismus, und weil sie kein Talent haben zum Materialismus.“ So Steiner schon mehr als ein Jahrzehnt vor Hitlers Machtübernahme. Er hatte eben einen Blick dafür, dass ein Verkennen der eigenen Aufgabe in einen inneren Niedergang führt; und letztlich auch (nach seinem Tod) in die äußere Katastrophe.
Damit wird also die andere Seite deutlich: So bedeutsam Steiner den geistigen Impuls aus der deutschen Kultur fand – als „Sauerteig“ für Europa –, so verhängnisvoll erschien ihm dessen machtstaatliche Ausprägung. Er war, im historischen Kontext gesehen, ein deutlicher Kritiker eines deutschen Nationalismus.
Noch grundsätzlicher: Steiner wandte sich überhaupt gegen ein (für Nationalisten typisches) Staatsverständnis auf ethnisch-„völkischer“ Grundlage. Dass es auch anders geht, hatte er selbst im alten Österreich-Ungarn noch erlebt, wo zahlreiche Völker mit einem Dutzend unterschiedlicher Sprachen unter einem staatlichen Dach lebten. Dieses passable und vergleichsweise tolerante Modell wurde gerade durch den aufkommenden Nationalismus blutig zerstört: Jetzt beanspruchte jedes Volk „seinen“ Staat, was angesichts gemischter Bevölkerungen nichts anderes bedeutet als Krieg und Vertreibung (bis hin zu den Jugoslawien-Kriegen der 1990er-Jahre).
Steiner trat demgegenüber für ein Staatsverständnis ein, das sich – von ethnischen Zugehörigkeiten gelöst – auf ein freies und gleiches Zusammenleben der Menschen gründet. Zukunftsweisend! In einer globalisierten Welt sind humane Gesellschaften gar nicht anders möglich.
War Steiner feindlich gegenüber der Technik eingestellt?
Nein. Diese Vermutung könnte daher kommen, dass manche Waldorfschulen den Ruf haben, eher technikfeindlich eingestellt zu sein; also nicht nur die (völlig berechtigte) Frage zu stellen, in welchem Alter und welchem Maß Kinder etwa digitale Medien nutzen sollten, sondern überhaupt eine Art Grundaversion gegen die technische Moderne zu pflegen.
Auf Rudolf Steiner könnten sie sich dabei allerdings nicht berufen. Er war an technischen Dingen höchst interessiert. Allen Erfindungen seiner Zeit – vom Telefon bis zu elektrischer Straßenbahn und Automobil, vom Dia-Projektor bis zu den ersten Radioapparaten – stand er aufgeschlossen und erstaunlich kenntnisreich gegenüber.
Dennoch, das ist richtig, ist es in der Anthroposophie ein wichtiges Thema, wie man als Mensch zu seiner Epoche steht, heute also insbesondere zum kühlen, analytischen, „technischen“ Geist der Moderne. Grundsätzlich kann es dabei zwei problematische, einseitige Tendenzen geben. Die eine geht dahin, vor dieser Kälte der Epoche ausweichen zu wollen und sich quasi spirituelle Schutzräume zu suchen. Die entgegengesetzte Gefahr liegt darin, sich den technischen Möglichkeiten mehr oder weniger besinnungslos und bedingungslos auszuliefern. Das eine – die Flucht vor den Realitäten der Gegenwart – nannte Steiner „luziferisch“; das andere – diesen Realitäten zu verfallen – „ahrimanisch“. Beides hielt er für Irrwege. Der Mensch, so Steiner, müsse sich unbedingt seiner Epoche auf ihrer vollen Höhe stellen, auch ihrem Materialismus, „der ja seine Berechtigung hat“. Aber er müsse zugleich Kräfte in sich entwickeln, um diesen Herausforderungen standzuhalten und geistig gewachsen zu sein.
Konkreter heißt das: Wenn man in Teilen der Anthro-Welt mit Hochmut auf die schnöde Außenwelt blickt, aber, wie Steiner spitz anmerkte, „von dem, was außerhalb ist, nicht viel versteht“ – dann ist das eben weltflüchtig, „luziferisch“. Zugleich ist aber auch klar, dass sich die Anthroposophie den krassen Fehlentwicklungen unserer Epoche entgegenstellen muss. Sie muss ein Gegenpol sein, nur auf die richtige Weise. Das ist ja ihr ganzer Sinn, innere Möglichkeiten lebendig zu halten, die heute wie gelähmt sind, eine Sprache zu finden für das, was in Sprachlosigkeit gesunken ist, und notwendige Entwicklungen anzubahnen, die heute noch kaum in Ansätzen gesehen werden. Noch in seinem letzten Lebensmonat notierte Steiner: „Der Mensch muss die Stärke, die innere Erkenntniskraft finden, um von Ahriman in der technischen Kultur nicht überwältigt zu werden.“
Trotz aller Unzulänglichkeiten der anthroposophischen Bewegung – ihr Grundimpuls ist aktueller denn je. Und wenn unsere Zeit das gar nicht mehr erkennen kann, dann ist sie wohl schon in hohem Maß „überwältigt“ worden. Letztlich, so Steiner, sei es so, „dass eine Anzahl von Menschen die Kraft aufbringen muss, der brandenden Woge des Materialismus wirklich sich mit allem Persönlichsten entgegenzustellen“.
Was dachte Steiner über die Zukunft der Menschheit?
Rudolf Steiner hielt unsere heutige nüchterne, diesseitig orientierte, sozusagen spiritualitätsferne Zivilisation für eine notwendige Phase in der Menschheitsentwicklung. Während sich die Menschen in früheren Epochen eigentlich überall in der einen oder anderen Form in eine höhere geistig-göttliche Welt integriert fühlten – in ihr geborgen oder auch von ihr bedroht –, musste die Menschheit eines Tages, so Steiner, aus diesem quasi von höheren Mächten betreuten Dasein heraustreten. Wenn man so will, hat Friedrich Nietzsche mit seinem „Gott ist tot“ der alten Welt die Sterbeurkunde ausgestellt. (Steiner besuchte den bereits umnachteten, geistig zerbrochenen Philosophen noch in dessen winzigem Krankenzimmer in Naumburg.)
Und jetzt? Ein bloßes Wiederanknüpfen an die alten Weltbilder hielt Steiner letztlich für unmöglich und sogar für entwicklungsfeindlich. Der Schritt in die Freiheit und Autonomie des modernen Daseins sei unumkehrbar. Aber, so Steiner, was heute noch kaum erkannt werde: Jene geistigen Welten, von denen sich das moderne Bewusstsein abkoppelte, seien durchaus real. Auch wenn sich diese Realitäten etwa mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht erfassen lassen, sind sie, so Steiner, „doch da“. Entsprechend sah er die Zukunftsaufgabe darin, sich an sie ganz neu heranzutasten und heranzuarbeiten, jetzt jedoch im Modus unserer Epoche, also frei und eigenständig.
Aber sind nicht Steiners Aussagen über diese geistigen Realitäten zunächst bloße Behauptungen? Genau. Er hat auch nirgendwo in seinem Riesenwerk dazu aufgefordert, dies (im Stil früherer Epochen) nur zu glauben oder als Offenbarung hinzunehmen. Unter anderem spricht er davon, man möge seine eigenen Mitteilungen als „Arbeitshypothesen“ und „Lebenshypothesen“ betrachten, die es zu prüfen gelte. – Allerdings: Diese Prüfung erfordert Aktivität. Der Mensch muss, um sich jenen Realitäten nähern zu können, überhaupt erst die inneren Voraussetzungen in sich schaffen. Es gelte, so Steiner, „die in der Seele schlummernden höheren Erkenntnisorgane zu entfalten“. Welche innere Arbeit dies bedeutet, hat er in vielen Variationen beleuchtet. Aus den bequemen Sesseln des heute gängigen Bewusstseins wird in der Tat nichts davon in Sichtweite kommen.
Im Grunde sah Steiner darin die Entscheidungsfrage der Menschheit: Ist der Wille da, sich der Wirklichkeit in all ihren Dimensionen neu und unvoreingenommen zu stellen, oder weist man das in einer Art Hochmut zurück, ganz gefangen in den scheinbar so überlegenen neuzeitlichen Denkweisen? Diese bescherten der Menschheit in der Tat glänzende Erfolge, sie sind aber – wenn Steiner Recht hat – gewissermaßen stumpf und untauglich, sobald es um die nicht-materielle, unsichtbare, geistige Seite der Wirklichkeit geht. Steiners ganze „Geisteswissenschaft“ ist im Kern nichts anderes als der Versuch, auf eine zeitgemäße Weise ein volleres Weltverständnis zu erreichen. Es sei die große Forderung der Zeit, „nun eine Kultur zu begründen, die mit dem rechnet, was hinter dem Sinnesschleier liegt“.
Darin sah Steiner keinen philosophischen Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit. Jedenfalls werde die Menschheit, wenn sie weiterhin mit einem so verkürzten Weltbild und entsprechend unzulänglichen, weltfremden „Programmen“ operiere, von einer Katastrophe in die nächste taumeln.
Eigentlich, so könnte man interpretieren, hat die Menschheit bislang nur die Hälfte der neuzeitlichen Aufgabe hinbekommen: den Abschied aus der einstigen Anlehnung an höhere geistig-göttliche Mächte. Die Verantwortung dagegen, die mit diesem Schritt auf sie zukommt, hat sie nicht wirklich übernommen. Diese Verantwortung könnte auch nur – das ist eben die Signatur der Epoche – in freier Entscheidung übernommen werden. Was durchaus auch düstere Optionen offenlässt: „Alles, was in Zukunft geschehen kann, ist in gewissem Grade in den Willen der Menschheit gestellt, so dass die Menschen auch verfehlen können, was zu ihrem Heile ist.“ An anderen Stellen klingt Steiner zuversichtlicher und betont, ein tieferes Weltverständnis werde sich – letztlich – doch mit innerer Notwendigkeit durchsetzen. Selbst „durch die engsten Spalten der Felsen von Vorurteilen“ werde die Wahrheit ihren Weg finden.
Wolfgang Müller „Nachgefragt: Anthroposophie. Häufig gestellte Fragen zu Rudolf Steiner und seinem Werk“
112 Seiten, Klappenbroschüre, EUR 12,90
ISBN 978-3-95779-193-1
Kapitel u. anderen:
Was glauben Anthroposophen?
Wo wurde Rudolf Steiner geboren?
Was war Steiner eigentlich von Beruf?
Steiner nennt die Anthroposophie eine Geisteswissenschaft. Was heißt das?
War Steiner der Erfinder der Waldorfschulen?
Was will die Waldorf-Pädagogik anders machen?
Welches Steiner-Buch eignet sich als Einstieg?
Universaler Geist oder Dilettant: Wollte Rudolf Steiner zu allem etwas sagen?
War Steiner Rassist?
War Rudolf Steiner für seine Anhänger eine Art spiritueller Meister?
War Steiner Antisemit?
Wie verhielten sich die Anthroposophen in der Hitlerzeit?
Wie steht die Anthroposophie zu Menschen mit Behinderung?
Was ist der Sinn der Eurythmie?
Was hatte Steiner gegen rechte Winkel?
Welche Rolle spielt der Gedanke von Wiedergeburt und Karma in der Anthroposophie?
Betrachten Anthroposophen Krankheit als Schicksal?
War Rudolf Steiner ein Impfgegner?
Warum gab und gibt es so viele jüdische Anthroposophen?
Wo stand Steiner politisch?
Ist die biodynamische Landwirtschaft eine anthroposophische Erfindung?
Was unterscheidet die biodynamische Landwirtschaft von anderen Öko-Ansätzen?
Wie stand Steiner zum Christentum?
Was ist die der Anthroposophie nahestehende Christengemeinschaft?