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„Sei allem Abschied voran …“ Gedanken über das Sterben
Interview mit Franziska Hilmer, Bestatterin und Ulrich Meier, Pfarrer
Franziska Hilmer, Foto: AngieNordlichtFotografie
Jetzt im November werden wir mit dem Thema Sterben konfrontiert, sei es in der Natur, durch bestimmte Feiertage, vielleicht durch eine innere Stimmung. Für viele ist das Thema Sterben etwas, womit man sich nicht unbedingt beschäftigen möchte. Aber eigentlich ist es ständig in unserem Leben gegenwärtig. Wie kann man die eigenen Ängste und Vorbehalte überwinden und sich dem Sterben aktiv und gestaltend gegenüberstellen?
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.
Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dampfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.
Rainer Maria Rilke. Aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil
Interviewpartner:in: Franziska Hilmer, Jahrgang 1967, Abschiedsrednerin, Seelsorgerin, Sterbe- und Trauerbegleiterin, Bestatterin. www.seitenwechsel-bestattung.de
Ulrich Meier, Pfarrer der Christengemeinschaft seit 1990. Davor Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher und zwei Jahre Tätigkeit im Landschulheim Schloss Hamborn. 16 Jahre Gemeindepfarrer in Hannover, seit 2006 in Hamburg Mitarbeit in der Leitung des Priesterseminars und Gemeindepfarrer in Hamburg-Mitte. Redakteur der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“.
Christine Pflug: Ihr haltet im November jeweils einen Vortrag, bzw. Seminar zu dem Thema Sterben und Sterbekultur. Was ist Eure Botschaft?
Franziska Hilmer: In meinem Seminar geht es um den Umgang mit dem eigenen Sterben, dessen man sich zu jeder Zeit im Leben gewahr werden kann und vielleicht sogar sollte – „was steht mir da bevor? Wie kann ich mich vorbereiten?“ Ich habe mein Unternehmen Seitenwechsel genannt, weil es das Ereignis in richtiger Weise beschreibt, wir gehen nicht weg, wir wechseln die Seite. Eine bewusst vorbereitete spirituelle Verfügung kann helfen, den Übergang in einer Weise zu gestalten, dass „ich“ „mich“ sicher fühle und besser begleitet als es heute oftmals der Fall ist. Heute wird vielfach über die Patientenverfügung gesprochen, die ja Regelungen für den schlimmsten Fall beinhaltet, in dem man nicht mehr entscheidungsfähig ist. Wenn ich aber vorher mit einem wachen Bewusstsein an die Sache herangehe, verläuft der Prozess ganz anders.
die Kunst des Sterbens
Ulrich Meier: Ich habe die Rilke-Zeile „Sei allem Abschied voran“ gewählt, weil es mir um die Kunst des Sterbens geht. In meinem Vortrag werde ich u.a. von meiner Erfahrung mit der „Sterbehütte“ in meiner Männergruppe erzählen: Jeder sitzt im dunklen Wald in einem eigenen Steinkreis, hat seine Kerze bei sich und sonst gar nichts. Die Fragestellung ist: Wenn es jetzt ans Sterben ginge, was möchte ich noch aussprechen oder jemandem sagen? Ich selbst habe bei der letzten Sterbehütte eine Rede an meinen verstorbenen Vater und auch an andere Personen gehalten, und zwar das, was mir wichtig ist zu sagen. Es hat ja keinen Sinn, bis zum letzten Moment zu warten und zu glauben, dann könnte man noch etwas hinbekommen. So verstehe ich dieses „Sei allem Abschied voran“ – wenn heute der Tod in mein Zimmer tritt, was würde ich meinem Vater, meiner Partnerin, meinen Kindern gerne noch sagen oder was würde ich gerne noch tun? Sowohl bezogen auf Lebende als auch die Verstorbenen.
C. P.: Wenn sich die Menschen durch so eine Schwitzhütte oder durch ein Seminar vorbereiten – was ist dann hinterher anders?
F. Hilmer: Möglicherweise hat man weniger Angst; diese entsteht oft durch Nicht-Wissen oder durch Diffusität. Wenn ich mir bewusst mache, was da eigentlich auf mich zukommt, impliziert das die Auseinandersetzung mit dem Sterben. Wenn man es, wie es heute meist passiert, sieht im Sinne von, „ich weiß nicht was da auf mich zukommt“ oder „dann ist alles aus und vorbei“, macht es Angst.
C. P.: Das setzt doch aber voraus, dass man nicht nur ein Wissen, sondern eine profunde Einstellung hat, dass nach dem Tod etwas kommt?!
wie die eigenen Lebens- und Sterbeprozesse verlaufen und wie Sterben in der Natur geschieht …
F. Hilmer: Nicht unbedingt. Ein profundes Wissen haben nicht viele Menschen. Zunächst ist es wichtig, über die Möglichkeit zu sprechen und Erfahrungen auf diesem Gebiet zu machen, überhaupt erstmal Bewusstsein hineinzugeben in das Leben zwischen Hier und Dort. Also nicht mit einem theoretischen Konzept oder vorangestellten Thesen beginnen. Das kann man üben, indem man beobachtet, wie die eigenen Lebens- und Sterbeprozesse verlaufen und wie Sterben in der Natur geschieht.
U. Meier: Ich möchte die Menschen dabei unterstützen, zu diesem ganzen Thema eine souveräne Haltung zu bekommen. Der Tod ist ein Teil des Lebens, er löst Angst aus, ist aber der größte Verwandler, den wir haben. Ich wünsche mir, dass die Menschen aus so einer Veranstaltung herausgehen und merken: Ich habe eine andere Möglichkeit, den Tod in mein Leben hereinzulassen. Das Tragische ist, dass man den Tod so weit wie möglich wegschiebt in der Hoffnung: dann tut er mir auch nichts. Stattdessen kann ich mich selber fragen: Was kann ich denn jetzt schon verwandeln und nicht auf die lange Bank schieben?
Die Ohnmacht ist im Umfeld des Todes das stärkste Gefühl.
F. Hilmer: Die Ohnmacht ist im Umfeld des Todes das stärkste Gefühl. In dem Moment, wo ein Mensch die Seite wechselt, ist der Tod mit voller Wucht und Wirklichkeit da. Auch als Angehöriger kann man erleben, dass dann nichts mehr so ist, wie es eben noch war. Es „wirkt“ eben etwas. Mein Anliegen ist die Sterbekultur, d. h. zum Beispiel, dass wir wieder lernen, unsere Verstorbenen aufzubahren und sie ein Stück des Weges zu begleiten. Wenn man sich Zeit nimmt, dem Verstorbenen seinen weiteren Weg „abzulauschen“, kommt man möglicherweise in ein neues Wahrnehmen und lernt dabei noch viel über seinen eigenen Tod. Die Totenwache ist im anthroposophischen Kontext üblich und war auch in früheren Zeiten selbstverständlicher Bestandteil der Bestattung in Deutschland. Seit den Weltkriegen wurde der Tod in einer traumatisierten Weise tabuisiert und der vorherrschende Materialismus hat dazu beigetragen, dass der Umgang mit Verstorbenen sehr diesseitig behandelt wird, sprich Menschen nicht selten geradezu „entsorgt“ werden und eben im Umfeld des Bestattungswesens der Leib sofort zu einer „Sache“ wird.
Der Leichnam ist Saatgut.
C. P.: Wenn der verstorbene Leib nicht als „Sache“ verstanden wird – wie dann?
U. Meier: Es gibt heute eine ganz merkwürdige archaische Angst, jenseits aller wissenschaftlichen Erkenntnis, der Tod sei ansteckend. Das war nicht immer so. Zum Beispiel hatten die ältesten Steinzeitkulturen einen großen Totenkult: Die Leiber wurden bemalt und mit reichem Blumenschmuck versehen. Die Menschen waren damals in dieser Hinsicht kultivierter als wir heute. Auch in der Bibel hat der Apostel Paulus ein hilfreiches Bild gegeben: Der Leichnam ist Saatgut. Er wird in die Erde gelegt und geht in der anderen Welt auf. Es geht dabei auch um die Achtung vor der Schönheit und Erhabenheit eines Leichnams, der sein Leben ausgehaucht hat, aber die Spuren des Lebens noch an sich trägt. Es gibt keinen Grund, dass wir uns vor diesem Anblick schützen müssten.
F. Hilmer: Man muss die Menschen aber erstmal in die Lage versetzen, dass sie an das Totenbett eines anderen Menschen kommen wollen. Meist wird gesagt: Wir wollen ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Wenn ein Mensch geht, ragt die geistige Welt schon herein. Wenn ich als Angehöriger dabei bin, spüre ich das und bin berührbar. In meiner beruflichen Tätigkeit ist es wichtig, den Menschen einerseits frei zu lassen und ihm andererseits die Möglichkeit zu vermitteln, dass sich eine Frage bilden kann; die entsteht erst im Wahrnehmen und Erleben. Wenn sich die Angehörigen wagen, dicht an den Verstorbenen heranzugehen, möglicherweise ist er sogar zuhause aufgebahrt, sind sie danach regelrecht beglückt. Durch dieses dichte Dabeisein können wir erleben, dass der Verstorbene noch etwas durchmacht. So wird z.B. sein Gesicht jünger und er scheint noch zu atmen– das alles sind interessante Wahrnehmungen. Dafür kann man wach werden und merken: „So schlimm ist das ja gar nicht.“ Etwas, was weg ist, ist eben jetzt woanders.
U. Meier: Man braucht für einen Abschied einfach auch Zeit. Es ist eine reine Vorstellung, den letzten Augenblick, den man erinnert, festhalten zu wollen und damit den Verstorbenen in guter Erinnerung zu behalten. Man verkürzt sich damit die eigene Wahrnehmung. Auch in der nachfolgenden Trauerphase ist zu bemerken, dass Menschen an die Zeit der Aufbahrung zurückdenken, weil sie „den Anfang des neuen Lebens“ ihres Angehörigen für sich auch mit ihren Sinnen realisiert haben.
F. Hilmer: Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn wir an ein Leben nach dem Tode denken und wir erleben diese Phase, dann ist das eine Brücke, über die wir gehen können. Ich kann mich dem Gedanken des Nachtodlichen annähern – wenn ich mich darauf einlasse, dabei zu sein und den letzten Weg zu begleiten. Sonst weiß ich nur abstrakt, dass mein geliebter Mensch gestorben ist und ich ihn nie wieder sehen werde.
U. Meier: Hilfreich finde ich hier einen Gedanken aus der Anthroposophie: Die Seele und der Geist des Verstorbenen sind zunächst noch dem Leib nahe. Das kann man an der ganzen Atmosphäre spüren, vor allem wenn eine Aufbahrung zuhause gewagt wird. Ich erinnere noch eine Situation, als eine Mutter aufgebracht zu mir kam, weil ihre 14-jährige Tochter für eine Nacht bei dem verstorbenen Vater im Bett liegen wollte: Sie wollte ihm nah sein und diese Atmosphäre spüren.
F. Hilmer: Das hat eine Qualität von „be-greifen“. Wenn ich den Verstorbenen anfasse, ereignet sich in mir etwas, was ich vorher gar nicht weiß. Es gibt Menschen, die dann von ihren eigenen Gefühlen überrascht und überwältigt werden, wenn sie es wagen, den verstorbenen Angehörigen zu berühren. Zunächst kommt der Schreck, dass dieser Mensch, den man kannte, jetzt kalt ist. Dann kann Trauer kommen, auch Trauer darüber, was sich in der Beziehung zu dem Verstorbenen nicht erfüllt hat. Es ist eine Begegnung mit dem Verstorbenen, mit dem Verhältnis, das man miteinander hatte und mit mir selbst. Wo ist er jetzt? Wo geht er hin? Das alles kann in einem großen Gefühlsschwall hochkommen und erfordert viel Mut. Es wirkt aber wie eine kleine Katharsis, wenn man die eigenen Gefühle zulässt und nicht davor wegläuft – sprich, sich ermutigt, den Verstorbenen noch eine Zeit zu begleiten.
C. P.: Ich selbst hatte einmal das Erlebnis, bei einer mir gut bekannten Verstorbenen am dritten Tag der Aufbahrung bei ihr sein zu können. Ich fand es viel mehr beeindruckend, was bei ihr als was bei mir geschah. Es war viel Lebendigkeit und Farbigkeit um sie herum. Kennt Ihr so etwas?
… sondern ich stehe vor einem großen Wandel
U. Meier: Das kennt jeder, der sich darauf einlässt. Trauer bedeutet ja nicht: Ich bin traurig, weil du nicht mehr da bist, sondern ich stehe vor einem großen Wandel. Die Strecke des Sterbens hat auch Nöte, und in dem Augenblick, in dem jemand aushaucht, sind diese Nöte vorbei. Wenn man mit älteren Sterbenden zu tun hat, ist das oft stärker. Und manche Enkelkinder sagen: Es ist doch gut, dass gerade diese letzte, so herausfordernde Strecke sich jetzt löst. Diese Zeit zu erleben kann als heilend erlebt werden. Das kann man verpassen, wenn man über diese Phase hinweggeht.
F. Hilmer: Die meisten Menschen möchten zuhause sterben. Das gelingt aber heutzutage immer seltener, überwiegend wird in Krankenhäusern und Altenheimen gestorben, sehr viele sogar auf dem Weg ins Krankenhaus im Ambulanzwagen. Aber der Wunsch, zuhause zu sterben, ist ernst zu nehmen. Ich habe immer wieder erlebt, wie Verstorbene zuhause gewaschen, gekleidet und in der Wohnung aufgebahrt werden. Das ist ein Prozess, und es entsteht für alle, Angehörige wie für den Verstorbenen selbst etwas Schönes und fast Freudiges. Man hat das Gefühl: der ist ja noch da!
In der Corona-Zeit ist praktiziert worden, dass man die Verstorbenen sofort nach Eintritt des Todes in einen Plastiksack legt. Ich habe mich mit dem Abholen dann besonders beeilt, um den Verstorbenen so schnell wie möglich aus dem Sack herauszuholen. Dabei konnte man noch stärker als sonst die Verwandlung erleben, die auch mit einem bereits gestorbenen Menschen noch vor sich geht. Ganz besonders eine Frau ist mir sehr in Erinnerung geblieben. In diesem Sack sah sie ausgesprochen kläglich aus. Gemeinsam mit einer anderen Frau haben wir sie dann schön gemacht, gewaschen, eingekleidet – und sie fing regelrecht an zu strahlen. Wir beide waren völlig verblüfft.
wenn jemand aufgeschrieben hat, was er im Sterben möchte
U. Meier: Noch ein Gedanke zu dem Wunsch, zuhause zu sterben. Oft haben alle Beteiligten die Scheu, sich darüber rechtzeitig zu verständigen. Man braucht nicht nur eine Bestattungsverfügung zu schreiben, sondern man kann regelrecht in Prosa schreiben, wie man persönlich über den Tod denkt. Ich habe gehört, dass auch die Mitarbeiter im Krankenhaus dankbar sind, wenn so etwas vorliegt. Wenn man aus Unsicherheit den Notarzt holt, ist der verpflichtet zu handeln, und dann geht es in die Klinik, wo nach Vorschriften verfahren wird. Wenn jemand aufgeschrieben hat, was er im Sterben möchte, wird kaum ein Arzt widersprechen.
F. Hilmer: Eben das werden wir in meinem Kurs „Gespräche über den Seitenwechsel“ erarbeiten. Sehr frühzeitig sollte man mit Angehörigen oder Menschen, die sich zur Verfügung stellen, Gedanken machen und aufschreiben, wie man über den Tod denkt und was man konkret möchte. Das ist eine Bestattungsverfügung; ich nenne das „spirituelle Verfügung“.
U. Meier: Eine schöne Formulierung! Ich würde gerne noch dazufügen „Sei allem Abschied voran …“ – das klingt zunächst wie ein Appell, den man mögen kann oder auch nicht. Aber Rilke schreibt weiter: „Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung.“ Für mich heißt das: Lebe und sei dir des Todes gewiss. Der Tod ist die große Bedingung, und ich weiß, dass alles auf diesem Tod ruht, aber ich lebe. Es geht nicht um Sterbenssehnsucht, im Gegenteil, sondern darum, das Sterben in das Lebenskonzept aktiv zu integrieren.
F. Hilmer: Nirgendwo ist mehr Wandlung erlebbar als im Tode, wir sehen es deutlich in der Natur. Den Tod als biografisches Wandlungsereignis zu begreifen, finde ich sehr attraktiv. Auch der Begriff Himmelsgeburt lässt die ganze Sache doch in einem schönen Licht erstrahlen. Geburt und Tod sind nicht zweierlei Zustände, sie sind zwei Aspekte desselben Zustands, soll Gandhi gesagt haben. Schon als Angehörige können wir ungeheuer viel lernen, auch über unseren eigenen Tod. Die Sterbenden gehen uns voran.
Gespräche über den Seitenwechsel. Vom Umgang mit dem eigenen Sterben.
Seminar mit Franziska Hilmer
Sa., 16. November 10:00 – 18:00 Uhr,
Rudolf Steiner Haus
„Sei allem Abschied voran …“ Gedanken über die Sterbekunst
Ulrich Meier, Vortrag in der Johannes-Kirche, Rittelmeyersaal.
Donnerstag, 7. November 19:00