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100 Jahre Rudolf Steiner
Interview zu seinem Todestag mit Dr. Christoph Bernhardt und Joachim Heppner, Mitglieder in der Leitung im Sophia-Zweig
2025 jährt sich Rudolf Steiners Todestag zum hundertsten Mal. Aus seinen Anregungen entstanden bis heute Schulen, Kindergärten, Kliniken, Banken, Arzneimittelhersteller, Christengemeinschaften; er inaugurierte die biologisch-dynamische Landwirtschaft, Eurythmie, soziale Dreigliederung und in Bereichen wie Medizin, Architektur, Kunst, Heilpädagogik etc. fügte er erweiterte Gesichtspunkte hinzu. Mit seiner spirituellen Weltanschauung gibt er für die Wissenschaft und Kultur eine neue Sichtweise und damit ein neues Fundament.
Auch wenn er in diesen 100 Jahren und bis heute kontroverse Meinungen hervorruft, hinterlässt er ein immenses Lebenswerk, das von vielen Menschen weltweit in die Praxis umgesetzt wurde. Wer war Rudolf Steiner? Was kann die Anthroposophie zur Lösung der gegenwärtigen Probleme unserer Zeit beitragen? Wie geht es für die Zukunft weiter?
Interviewpartner: Joachim Heppner, Leitung im Sophia Zweig am Rudolf Steiner Haus seit ca. 25 Jahren und genauso lang Leiter der Kunstakademie Hamburg.
Dr. Christoph Bernhardt: Seit 2002 als anthroposophischer Allgemeinarzt in Hamburg niedergelassen, seit über einem halben Jahr in der Leitung des Sophia Zweiges tätig.
Christine Pflug: Rudolf Steiner – was waren seine wichtigsten Ideen und Impulse? Was war seine Lebensleistung?
Christoph Bernhardt: Das historische Verdienst von Rudolf Steiner ist, dass er in Reaktion auf den Materialismus des 19. Jahrhunderts eine neue, zeitgemäße spirituelle Weltanschauung begründet hat. Durch den Siegeszug der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert wurde das Vertrauen in die traditionellen religiösen Glaubensinhalte erschüttert und untergraben. Da musste ein neuer Ansatz für eine spirituelle Weltanschauung kommen, der vor dem kritischen naturwissenschaftlichen Bewusstsein bestehen kann. Rudolf Steiner legte daher der Anthroposophie die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaft zu Grunde und erweiterte ihre Anwendung auf die seelisch geistige Dimension der Welt. Er schuf eine moderne Wissenschaft vom Geistigen, die streng logisch und wissenschaftlich aufgebaut ist, so dass sie jeder kritische Zeitgenosse, wenn er nur vorurteilslos genug ist, mit dem eigenen gesunden Menschenverstand nachvollziehen kann.
Joachim Heppner: Mir erscheint Steiner für die damalige Zeit und bis heute noch wie ein geistiger Gigant. Er hat so viele Menschen in Lebensfragen und Berufen inspiriert und oft sich vor Fachleuten als Experte mit Erneuerungsimpulsen erwiesen. Es ist riesig, welche Entwicklungen er ausgelöst hat. Ich würde es als eine rationalspirituelle Weltanschauung bezeichnen; man kann sie verstehen, denken und nachvollziehen. Darin unterscheidet sich die Anthroposophie von kirchlichen Glaubensanschauungen.
C. P.: Und sie verifiziert sich ja auch in der Medizin, der Landwirtschaft, Pädagogik etc.
Steiner hat beinahe auf jedem Gebiet reformierend gewirkt.
C. Bernhardt: Unabhängig davon, wie man inhaltlich zur Anthroposophie steht, muss man zugestehen, dass es kaum eine Persönlichkeit in der Neuzeit gegeben hat, die so viele und so unterschiedliche Lebensgebiete nachhaltig beeinflusst hat wie das bei Rudolf Steiner der Fall ist.
Es gibt viele berühmte Persönlichkeiten, die auf ihr jeweiliges Fachgebiet einen bedeutenden Einfluss hatten; Freud hat die Psychologie reformiert, Einstein die Physik. Aber Steiner hat nicht nur auf ein Fachgebiet, sondern beinahe auf jedem Gebiet reformierend gewirkt von der Landwirtschaft über die Medizin und Pädagogik bis hin zu Kunst und Religion. Und er hat in seinem umfangreichen Vortragswerk beinahe zu allen Wissensgebieten neue Aspekte hinzugefügt.
eine allgemein-menschliche, völkerverbindende und kulturelle Differenzen überbrückende Kraft
Der Universalität von Steiners Geist entspricht die globale Ausbreitung seiner Ideen.100 Jahre nach seinem Tod haben diese Ideen auf allen Kontinenten Fuß gefasst, sei es in Asien, Australien, Südamerika, Afrika, in islamischen und jüdischen Gesellschaften, bei indigenen Völkern Nordamerikas, in den Favelas von Brasilien und den Townships von Südafrika etc. Die Anthroposophie hat sich in allen diesen Ländern, unabhängig vom jeweiligen nationalen, ethnischen oder religiösen Kontext, als fruchtbar erwiesen. Daran sieht man, dass ihre Ideen eine allgemein-menschliche, völkerverbindende und kulturelle Differenzen überbrückende Kraft in sich tragen. Nach dem Ausspruch Goethes „Was fruchtbar ist, allein ist wahr“ kann man in dieser kulturellen Wirksamkeit einen Evidenzbeweis für die innere Wahrheit ihrer Prinzipien sehen.
C. P.: Wie konnte er das? Woher hatte er die Weitsicht, das Wissen, die Kraft und Fähigkeit, das alles in die Welt zu bringen?
Er ist in eine Quellzone vorgedrungen, aus der er völlig neue Erkenntnisse und Ideen geholt hat.
J. Heppner: Wenn man seine Biografie anschaut, was wir gerade im Sophia-Zweig am Rudolf Steiner Haus tun, wird einem klar, welche umfangreichen wissenschaftliche, mathematische und philosophische Studien er damals absolviert hat. Sein Studium an der technischen Universität in Wien hat ihm, wie in einem Studium Universale dazu Gelegenheit gegeben. Er hatte einen ungeheuren Wissensdurst und hat sich jede freie Minute mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Richtungen und Fragen auseinandergesetzt. In dem ersten Drittel seines Lebens hat er anscheinend nichts anderes gemacht und sich auch später als ein lebenslang lernender verstanden.
Sein Studium ist das eine Fundament. Das andere ist, dass er durch die Beobachtung des Denkens in eine Quellzone vorgedrungen ist, aus der er völlig neue Erkenntnisse und Ideen geholt hat.
C. Bernhardt: Wenn man die Vielfalt an neuen Ideen anschaut, sieht man, was er selbst oft betont, dass er sich das nicht hätte ausdenken können, sondern er hat das aus seiner spirituellen Forschung entnommen. Bis kurz vor seinem Tod entwickelte er immer noch ganz neue Aspekte, die man in dieser Fülle nicht gedanklich konstruieren kann, sondern sie stammen aus einer Forschung, die ihn mitunter selbst überrascht hat. So eine Produktivität und Originalität kann man nur durch eine geistige Forschung erreichen.
den Gedanken der Wiederverkörperung im Abendland wieder systematisch eingeführt
C. P.: Welche geschichtliche Stellung im Geistesleben nimmt Rudolf Steiner ein?
C. Bernhardt: Er hat den Gedanken der Wiederverkörperung im Abendland wieder systematisch eingeführt. Seit Aristoteles war der Gedanke an das vorgeburtliche Leben der Seele und eine Wiederverkörperung in der abendländischen Geistesgeschichte ausgetilgt; bei Lessing, Goethe und einigen anderen tauchte er sporadisch wieder auf. Steiner hat ihn nicht nur systematisch ausgebaut, sondern ihm auch eine andere Betonung gegeben, während er in der damaligen theosophischen Gesellschaft eher im traditionell orientalischen Sinne gelehrt wurde. Im orientalischen Denken wird bei der Reinkarnation mehr die Wiederholung des Immergleichen betont. Steiner hat den Reinkarnationsgedanken mit dem neuzeitlichen Entwicklungsgedanken verknüpft. Das gibt auch einen ganz neuen Blick auf die Geistesgeschichte der Menschheit. Die Weltgeschichte entspricht unter diesem Gesichtspunkt der ewigen Biografie des einzelnen Menschen, denn jeder Mensch hat in seinen früheren Inkarnationen die Entwicklung der Menschheit mitvollzogen und war in den früheren Kulturepochen dabei; so ist die Geschichte der Menschheit auch unsere Geschichte.
Viele seiner Ideen sind in den Untergründen der Kultur weitergegangen.
C. P.: Der Gedanke an Reinkarnation und Karma ist inzwischen relativ verbreitet. Es ist die Frage, ob das durch die Anthroposophie ausgelöst wurde, aber einen Anteil hat sie bestimmt.
J. Heppner: Ich glaube, viele seiner Ideen sind in den Untergründen der Kultur weitergegangen, auch wenn man heute nicht immer weiß, woher manches kommt. Die Maler des Blauen Reiters beispielsweise haben sich bekanntermaßen direkt mit seinen Ideen auseinandergesetzt, und danach wirkten sie durch sie weiter, wie in dem Kulturimpuls des Bauhauses. Heute haben wir die Achtsamkeitsbewegung, und Rudolf Steiner hatte ganz ähnliche Übungen angeregt.
C. P.: Neben allen diesen großen geistigen Leistungen zeigte er sich auch als Mensch mit Humor. Habt Ihr dafür Beispiel?
„Ich will keine Anhänger, ich will Lokomotiven.“
J. Heppner: Unter anderem hatte er einen humorvollen Umgang mit seiner Frau Marie Steiner. Ein Beispiel: Sie macht eine Probe mit Eurythmisten bis spät am Abend. Er will sie abholen, er kommt in den Probenraum, sie reagiert nicht. Er geht wieder raus, zieht seinen Mantel an, kommt zurück. Man sieht, er will sie abholen. Sie reagiert nicht, sondern probt weiter. Er geht wieder raus, kommt zurück und hat den Mantel und einen Hut auf. Und sie reagiert immer noch nicht. Dann geht er raus, kommt wieder rein und hat einen Mantel und zwei Hüte auf. Dann lässt sie endlich ab von ihrer Probe.
Es gibt eine andere Situation, die ihn charakterisiert. Er hält einen Vortrag und schimpft ein wenig über die Anthroposophen, weil er erlebt, dass sie nicht mitmachen. Dann sagt jemand nach dem Vortrag zu ihm „Lieber Herr Doktor Steiner, wir sind doch alle ihre Anhänger! Warum schimpfen Sie so?“ Er erwidert: „Ich will keine Anhänger, ich will Lokomotiven.“ Das finde ich einerseits humorvoll und andererseits auch bezeichnend, weil er nicht angehimmelt werden wollte, sondern sich wünschte, dass Menschen diese Quelle für sich entdecken und da heraus selber schöpferisch werden.
C. Bernhardt: Er sagte auch: ich will nicht verehrt, ich will verstanden werden.
Es gibt eine weitere schöne Anekdote: Einmal kam eine Gruppe junger Menschen zu ihm. Sie fühlten sich vor dem berühmten spirituellen Lehrer zunächst unsicher und befangen. Da öffnete Steiner einfach seine Schnupftabakdose und nahm mit den jungen Leuten gemeinsam eine Prise Schnupftabak. Das Eis war gebrochen und sie konnten sich frei mit ihren Anliegen an ihn wenden.
Das zeugt von seiner Bescheidenheit und Geistesgegenwart, mit der er diese soziale Situation aufgelöst hat.
C. P.: Ein Sprung in die heutige Zeit: Was kann die Anthroposophie beitragen bei den heutigen Problemen wie Klimakatastrophen, Kriege, weltweiter Rechtspopulismus, KI etc.
das kalte Verstandesdenken zu einem Herzdenken machen
C. Bernhardt: Fangen wir mit der KI an. Sie versucht, das nüchterne Verstandesdenken maschinell nachzuahmen und zu optimieren. Dieses kalte Verstandesdenken liegt der modernen Naturwissenschaft und Technik zugrunde, ist aber auch der Grund für die Kollateralschäden im ökologischen und sozialen Bereich, die diese Entwicklung mit sich gebracht hat.
Die Anthroposophie strebt danach, das kalte Verstandesdenken wieder mit den Kräften des Fühlens und Wollens zu durchdringen und es zu einem Herzdenken zu machen. Dazu muss es innerlich lebendig, beweglich und auch künstlerisch imaginativ werden. Es muss gleichzeitig auch spiritualisiert werden, wenn der Materialismus mit den Waffen des Denkens in zeitgemäßer Form überwunden werden soll. Wenn man versucht die spirituellen Gedankeninhalte der Anthroposophie in sein Denken aufzunehmen hat das genau diese Wirkung, das Denken zu spiritualisieren und lebendig und beweglich zu machen, ohne dass es seine logische Folgerichtigkeit verliert. Die Probleme der Zukunft lassen sich m. E. nur aus solch einem neuen, verlebendigten Denken lösen.
In der Gegenwart spielt sich daher ein Kampf um das Denken ab. Die KI perfektioniert das kalte, logische Verstandesdenken, das eigentlich überwunden werden soll. Sie wird dem Menschen auf der Ebene des Verstandesdenkens in Kürze überlegen sein. Damit kann sie ihn künftig dominieren und seine Autonomie und Freiheit bedrohen. Nur wenn der Mensch das charakterisierte lebendige, spirituell befruchtete Denken entwickelt, kann er der KI überlegen bleiben und aus einem neuen Denken auch neue Lösungen für die Probleme der Gegenwart und Zukunft finden, die nicht die tödlichen Kollateralschäden des Verstandesdenkens mit sich bringen. Die Herausforderung der KI ist also eine Mahnung, die Entwicklung des lebendigen, an den Ideen der Anthroposophie geistig geschulten Denkens zu intensivieren.
J. Heppner: Die KI beruht auf Statistik, es ist ja eigentlich gar kein Denken, sondern eine Wahrscheinlichkeitsberechnung statistischer Art. Man gibt ein Problem ein und die Lösung kommt aufgrund der Statistik. Es wird immer eine Art von höchst wahrscheinlicher Antwort sein, das sehr schnell und in allen Bereichen verfügbar ist, mit einem plausibel klingenden Ergebnis, bei dem man aber nicht weiß, ob es stimmt.
C. P.: Aber wie kann man das aufhalten? Gerade jetzt gibt es eine neue KI aus China, Deep Seek, die Aussagen sind gefaket gemäß den politischen Interessen Chinas. Aber jeder kann Deep Seek kostenlos auf seinen Rechner holen, also wird sich das schnell verbreiten.
der KI gegenüber unsere Freiheit und Autonomie bewahren
C. Bernhardt: Für die KI gilt, was für die ganze moderne Technik gilt: Wir werden sie nicht verhindern können und wir sollen sie auch nicht verhindern, aber wir müssen ihr etwas entgegensetzen, nämlich ein neues Denken, das die Ergebnisse der KI richtig einordnen kann. Nur wenn man diese von einem höheren Gesichtspunkt aus beurteilen kann, kann der Mensch weiter frei entscheiden, ob er den Vorschlägen der KI folgen will oder nicht. Solange der Mensch auf der reinen Verstandesebene bleibt, wird er die Vorgaben der KI fast immer automatisch übernehmen müssen, da sie auf dieser Ebene einfach intelligenter sein wird als er und man natürlich die vermeintlich intelligenteste Lösung eines Problems nicht ausschlagen kann. Wir werden dann immer mehr zu subordinierten Ausführungsorganen der KI Entscheidungen. Auf längere Sicht wird uns daher nur die Entwicklung eines lebendigen, schöpferischen Denkens ermöglichen, der KI überlegen zu bleiben und damit unsere Freiheit und Autonomie zu bewahren. Es geht also nicht um Vermeidung dieser technischen Entwicklung, sondern um den richtigen Umgang mit ihr. Und für diesen richtigen Umgang brauchen wir ein neues Denken.
Im Grunde ist die Waldorfpädagogik das ideale präventive Mittel gegen die KI. Denn sie zielt darauf ab, den Kindern nicht das einseitige Verstandesdenken zu vermitteln, das künftig auch von der KI übernommen werden kann, wozu es also den Menschen gar nicht mehr brauchen wird, sondern eine spezifisch menschliche, künstlerisch – soziale Intelligenz, ein lebendiges Herzdenken, das umso wichtiger wird, je stärker sich die durch die KI künftig noch verschärften Probleme des kalten Verstandesdenkens zeigen werden.
Gegen die Klimakrise und für die Nachhaltigkeit steht die biologisch-dynamische Landwirtschaft.
C. P.: Was die Umweltthematik anbelangt, da bietet die biologisch-dynamische Landwirtschaft Lösungen. Es ist relativ bekannt, dass die Böden ausgelaugt sind, der Fleischkonsum der Umwelt schadet, das Klima durcheinander ist, und viele Menschen in Deutschland haben davon ein Bewusstsein.
J. Heppner: Gegen die Klimakrise und für die Nachhaltigkeit steht die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die 1924 begann und inzwischen eine große Breitenwirkung hat. Das wird im Mainstream relativ akzeptiert. Es ist aber noch nicht allgemein die Sichtweise angekommen, die Erde als Organismus und ein lebendiges Wesen zu sehen, was agiert und reagiert und mit unserer Entwicklung als Mensch zusammenhängt. Die Erde ist unser Lebensraum und Schicksal, und wir müssen die richtige Antwort darauf finden.
C. Bernhardt: In Bezug auf die ökologische Frage ist interessant, dass, wenn man den Reinkarnationsgedanken der Anthroposophie verinnerlicht, dieser aus sich heraus ein Verantwortungsbewusstsein für die Erde erzeugt. Denn wenn man weiß, dass man in Zukunft immer wieder auf diese Erde zurückkommen wird, wird man sich auch verpflichtet fühlen, für eine ökologisch gute Zukunft der Erde zu sorgen. Im Sinne des Reinkarnationsgedankens kann das eigene Schicksal gar nicht mehr getrennt von dem Schicksal der Erde gedacht werden, wodurch sich ein vertieftes Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Erde als Ganzes ergibt.
die sozialeDreigliederung als ein Friedensimpuls
C. Pflug: Und das große Problem der Gegenwart sind die Kriege. Welche Wege könnte da die Anthroposophie aufzeigen?
C. Bernhardt: Rudolf Steiner hat während des ersten Weltkriegs die Idee der sozialen Dreigliederung als einen Friedensimpuls entwickelt. Die Idee der Dreigliederung fordert die Befreiung des Geisteslebens und des Wirtschaftslebens aus der Einflusssphäre des Staates, damit sie sich nach ihren eigenen Gesetzen in Selbstverwaltung organisch entwickeln können. Der Staat konzentriert sich nur noch auf das ihm zustehende Rechtsleben.
Die meisten Kriege entstehen aus wirtschaftlichen Interessen oder aus kulturell-religiösen bzw. ethnischen Spannungen. Damit haben sie ihre Ursachen im Wirtschafts- oder Geistesleben. So lange Wirtschafts- und Geistesleben so eng mit dem Staat verschmolzen sind, wie dies in den gegenwärtigen Staaten der Fall ist, werden diese Konflikte dann auch zu militärischen Konflikten zwischen den Staaten. Wenn dagegen das Geistesleben und das Wirtschaftsleben komplett vom Staat getrennt wäre, dann könnten Konflikte aus diesem Bereich auch nicht mehr in militärische Konflikte zwischen den Staaten münden. Sondern sie müssten auf friedliche Weise im Wirtschaftsleben oder im Geistesleben selbst gelöst werden. Wenn die soziale Dreigliederung eines Tages realisiert würde, wäre das Risiko der militärischen Eskalation dieser Konflikte in einem erheblichen Umfang reduziert.
C. P.: Welche Impulse kann die Anthroposophie gegen Nationalismus und Antisemitismus geben?
C. Bernhardt: Grundsätzlich ist die Anthroposophie allgemeinmenschlich und kosmopolitisch ausgerichtet, was sich ja auch in ihrer globalen Ausbreitung auf allen Kontinenten zeigt. Unsere geistige Individualität geht durch viele Verkörperungen in unterschiedlichsten Völkern und auf unterschiedlichsten Kontinenten. Sie zieht den physischen Leib, der jedes Mal andere ethnische Determinationen zeigt, nur wie ein jeweils neues Kleid an. Dieses Kleid hat gegenüber der ewigen Individualität, die über allen ethnischen Differenzierungen steht, nur eine untergeordnete Bedeutung. Es hat in etwa die Wichtigkeit wie eine Berufsbekleidung, die für eine spezifische Aufgabe nötig ist. Wie der Imker eine andere Berufsbekleidung braucht als der Chirurg, so brauchen wir auch für die verschiedenen Aufgaben in verschiedenen Leben unterschiedliche Leibesorganisationen, die unterschiedlichen Völkern angehören. Machen wir uns den Reinkarnationsgedanken wirklich bewusst, so erleben wir alle Menschen als Brüder, da wir früher oder später selber u. U. in diejenigen Nationen hineingeboren werden, in denen diese aktuell leben.
J. Heppner: Der Rechtspopulismus kennzeichnet sich durch völkische Gedanken – „America first“ oder „es ist nur deutsch, der hier geboren wurde“ etc. Die Antwort der Anthroposophie darauf ist, dass die Menschen nicht durch Herkunft, Abstammung, ethnische Zugehörigkeit definiert werden, sondern in ihrer geistigen Individualität. Rudolf Steiner selbst war beispielsweise einer der Ersten, der sich für die Rechte der Frauen eingesetzt hat. In seiner Freundschaft mit Rosa Mayreder hat er klare Stellung dazu bezogen und öffentliche Vorträge dazu gehalten. Er hat den Freiheitsgedanken auch sozial wirksam gedacht, was in seinem Buch „Philosophie der Freiheit“ besonders im zweiten Teil seinen Niederschlag findet.
C. Bernhardt: Den ersten Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft würde man in heutigem Sprachgebrauch als sehr divers bezeichnen. Es waren Marie Steiner als Frau, Carl Unger als Jude und Michael Bauer dabei. Es gab generell viele jüdische Mitglieder in der damaligen anthroposophischen Gesellschaft. Auch ist heute Israel das Land der Welt, das eine der höchsten Zahlen an Waldorfschulen – bezogen auf die Bevölkerungszahl – hat. Der immer wieder aus einzelnen Aussagen konstruierte Vorwurf des Antisemitismus lässt sich angesichts dieser Lebensrealität nicht aufrechterhalten.
C. P.: Wie muss das Werk Rudolf Steiners nach 100 Jahren neu ergriffen werden?
J. Heppner: Wenn ich mit meinen Studenten Steiner lese, erlebe ich mich als eine Art Dolmetscher; sie können den Redewendungen und Ausdrücken heutzutage nur schwer folgen. Das liegt aber nicht an Steiner, sondern an der ganz anderen Zeit von vor 100 Jahren. Wenn man Steiner verstanden hat, muss man nicht in seinen Worten denken, sondern kann es völlig neu aus sich herausschöpfen und in eine Sprache und in Bilder umsetzen, die heute verstanden werden können. Das ist eine Aufgabe, die ich deutlich sehe und auch von den Studenten gespiegelt bekomme. In der Hinsicht ist auch schon vieles geleistet worden, es gibt eine riesige Menge Sekundärliteratur auf verschiedenen Gebieten.
Viele Anregungen, die in seinem Werk schlummern, sind noch nicht vollständig aufgegriffen worden.
C. Bernhardt: Man kann sagen, dass durch die Gegenwart andere Probleme und Fragen aufgeworfen werden als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber das Beeindruckende ist, dass man auch für diese neuen Fragen Anregungen und Impulse aus der Anthroposophie finden kann, wie zum Beispiel für die KI. Viele Probleme der Gegenwart stammen aus dem einseitig materialistischen Weltbild der Naturwissenschaft und können nur überwunden werden, wenn man zu einem modernen spirituellen und ganzheitlichen Weltbild kommt, wie es Rudolf Steiner uns geschenkt hat.
Man kann auch sagen, dass viele Anregungen, die in seinem Werk schlummern, noch nicht vollständig aufgegriffen worden sind.
J. Heppner: Es gibt viele Bereiche, die Rudolf Steiner vorhergesagt hat, die inzwischen eingetroffen sind. Sein erster Artikel, den er veröffentlicht hat, war „Einzig mögliche Kritik gegenüber den atomistischen Begriffen“. Der Inhalt ist immer noch aktuell und im Grunde hat er sich bestätigt durch die Quantenmechanik; Sie beschreibt ist eine Kraftpotenz, die hinter Atomen und Photonen steckt, die nicht mehr gegenständlich ist, sondern völlig spirituelle Dimensionen hat, höchstens noch mathematisch erfassbar ist. Im Grunde hat Heisenberg an dieser Stelle Steiner bestätigt, nur hat man das nicht zusammengebracht.
Es gibt viele Beispiele, bei denen Steiners Forschungsergebnisse retrospektiv von der Wissenschaft bestätigt wurden.
C. Bernhardt: Es gibt viele Beispiele, wo Steiners zunächst überraschend klingende Forschungsergebnisse retrospektiv von der Wissenschaft bestätigt wurden, z. B. seine Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Darmflora und Gehirnprozessen. Auch Steiners Aussage, dass man das Herz nicht auf eine Pumpe reduzieren kann, sondern dass es auch Sinnesfunktionen hat, konnte mittlerweile empirisch belegt werden. Die Entdeckung der sogenannten Spiegelneurone hat entsprechende Aussagen Steiners ebenfalls bestätigt.
C. P: Der Sophia Zweig veranstaltet am Wochenende von Rudolf Steiners Todestag eine öffentliche Tagung im Rudolf Steiner Haus mit dem Titel „Zukunftsimpulse im Lebenswerk Rudolf Steiners“. Was ist euer Leitmotiv für diese Tagung?
C. Bernhardt: Das Leitmotiv für diese Tagung ist Dankbarkeit. In den letzten 100 Jahren haben ja Zehntausende von Menschen weltweit erlebt, dass sie Rudolf Steiner wesentliche Impulse für das eigene innere spirituelle Leben und für die jeweilige berufliche oder zivilisatorische Tätigkeit verdanken. Aus dieser Dankbarkeit entsteht das Bedürfnis, Rudolf Steiner am Wochenende seines Todestages in einer Gemeinschaft von Menschen zu gedenken, jedoch nicht in rückwärtsgewandter Form, sondern in dem Bewusstsein der Zukunftsimpulse, die die Anthroposophie als moderne, zeitgemäße spirituelle Weltanschauung in sich trägt.