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… jetzt schaffen sie es, darüber zu sprechen
Das Schicksal der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs
Interview mit Dr. med. Helga Spranger
Kriege verwunden – auch seelisch. Seit einigen Jahren dringt immer mehr an die Öffentlichkeit, was die damaligen Kinder im zweiten Weltkrieg erlebt haben und unter welchen Spätfolgen sie heute als ältere Menschen leiden. Viele erinnern sich erst jetzt an die lebensbedrohlichen Erfahrungen von damals. Oft bleiben solche seelischen Kriegstraumatisierungen über Jahre unbewusst, sind aber doch wirksam und lösen seelische Schäden oder psychosomatische Krankheitsbilder aus. Die Lebensgestaltung eines so traumatisierten Menschen bleibt durch die Kriegserlebnisse geprägt und kann an die nächste und übernächste Generation “vererbt“ werden. Die neue Sensibilisierung für das Thema ist eine Gelegenheit zur Verständigung zwischen den Generationen, damit aus dieser „stummen Krankheit“ (Spranger) heilende Konsequenzen gezogen werden können, sowohl auf einer individuellen als auch auf einer gesellschaftlichen Ebene.
Frau Dr. Helga Spranger, wurde 1934, in Frankfurt /Oder geboren, war selbst „Kriegskind“ und hat eigene achtjährige Erfahrungen in großen Nachkriegs-Flüchtlingslagern. Sie hat zwei Söhne und eine Enkelin. Sie ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin. Als Alleinerziehende hat sie Medizin studiert, nach dem medizinischen Staatsexamen zunächst Assistenzarzttätigkeit im chirurgischen, anästhesiologischen und neurologisch – psychiatrischen und rehabilitativen Bereich. Nach der Facharztausbildung und psychotherapeutischer Zusatzbezeichnung, mehrjährige Oberärztin in einer analytisch arbeitenden psychotherapeutischen Klinik. Von 1989 –1998 abschließende Tätigkeit in einem großen Landeskrankenhaus als Leitende Ärztin der Suchtabteilung und Stellv. Direktorin. Jetzt Psychotherapeutin in freier Praxis mit den Schwerpunkten Frühstörungen, Gerontopsychotherapie, Traumatisierungen bei Kriegskindern. Sie leitet seit ca. 10 Jahren laufende Selbsterfahrungsgruppen für Menschen mit länger zurückliegenden Kriegstraumatisierungen.
Christine Pflug: Worin bestehen die Kriegstraumata des 2. Weltkrieges?
Dr. Helga Spranger: Wir haben drei Gebiete. Es gibt körperlich geschädigte Menschen, auch in der Zivilbevölkerung. Dann haben die ungeborenen Kinder während der Schwangerschaft – also im Bauch der Mutter – vielleicht Traumatisierungen erlitten, wenn die Mütter Schreckliches durchmachen mussten. Sie haben daher u. U. genetische Veränderungen, die später erst zum Tragen kamen.
sie mussten sich anpassen, durften keine Ansprüche stellen …
Bei den Kindern gab es die seelische Traumatisierung, d. h. sie sind in ihrer Entwicklung gehemmt und gehindert worden. Sie mussten sich anpassen, durften keine Ansprüche stellen, mussten zurückstecken und Leistungen erbringen. Man sieht ihnen das äußerlich nicht an, und die soziale Entwicklung ging weiter, aber ihre seelische Entwicklung wurde unterbrochen.
Weitere Probleme entstanden später, als die die Väter nach Hause kamen. Sie hatten ihrerseits an der Front Schlimmes erlebt und brachten das in die Familien. Die Familien hatten große Schwierigkeiten, sich wieder anzunähern. Das Gefühl der seelischen Sicherheit war in vielen Familien verloren gegangen. Viele Ehen litten an Mangel von wirklich persönlichem Austausch durch Worte und Gesten und an außerehelichen Beziehungen zumeist der Männer. Als die Kinder das Elternhaus verließen, erlosch für die Eltern der Auftrag, sie großzuziehen, und entblößte den brüchigen Partnerschaftskitt. So wuchsen die Kinder in Bindungsunsicherheiten auf, die sie dann auf ihre ersten und späteren Partnerschaften übertrugen.
C. P.: Das alles wurde meistens jahrzehntelang verdrängt. Wie zeigt sich das bei diesen Menschen heute? Woran leiden sie?
Dr. Helga Spranger: Viele haben gewissermaßen eine Depression gespeichert, und die haben sie dann weitergeführt, ohne dass man es merkte. Man erlebt heute, dass beispielsweise die Menschen in den Alters-und Pflegeheimen trotz guter Versorgung eine depressive Symptomatik entwickeln. Heute können sie über ihre Leiden sprechen. Da die kortikale Kontrolle, d. h. die Kontrolle über das Gehirn, nicht mehr so funktioniert, um alle diese Erinnerungen wegzudrücken, kommen jetzt frühere Erlebnisse hoch, und zwar unkontrolliert. Es fällt bei diesen alten Menschen auf, dass sie ihre Traumata revitalisieren.
C. P.: In der Literatur liest man von Symptomen wie Schlafstörungen, Herzkrankheiten, psychosomatische Beschwerden etc. …
nachts in den Keller fliehen
Dr. Helga Spranger: Das gehört auch alles dazu und ebenso Schmerzen im ganzen Körper, die medizinisch schwer definierbar sind und sich mit den normalen Verschleißerscheinungen vermischen. Natürlich ist die Wirbelsäule abgenutzt, aber sie trägt den Menschen, und wenn der Mensch depressiv ist, schmerzt auch ganz besonders der Rücken. Weitere Symptome sind Herzbeschwerden und eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Wenn Kriege herrschen und die seelische Abwehr schlecht ist, beeinträchtigt das auch das Immunsystem und die Menschen werden eher krank.
Auch Ängste kommen dazu, beispielsweise vor Verarmung, vor Tod, vor dem Verhungern, vor dem allein sein etc. Die tödliche Bedrohung, die man als Kind erlebt hat, kann für denjenigen wieder lebendig werden.
Viele dieser Menschen haben auch eine allgemeine Unruhe, die sich vor allem in Schlafstörungen zeigt. Sie mussten als Kind stets aufpassen, das nachts nichts passiert; beispielsweise mussten sie bei Bombenangriffen in den Keller fliehen etc.
C. P.: Welche Jahrgänge sind die Kriegskinder und welche die Kriegsenkelkinder?
Dr. Helga Spranger: Bei dieser Frage ist es wichtig zu wissen, dass es bereits Kriegskinder aus dem ersten Weltkrieg gab, die dadurch schon traumatisiert waren und dann im erwachsenen Alter den zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Wenn wir heute von Kriegskindern sprechen, meinen wir im Allgemeinen die aus dem zweiten Weltkrieg und sprechen von den Jahrgängen, die 1930 bis 1947 geboren wurden.
wir haben in der Zeitspanne des 20. Jahrhunderts eine Menge kriegsgeschädigter Menschen
Die Kinder dieser Kinder, also die Kriegsenkelkinder, könnten schon 1950 geboren sein und wären jetzt auch schon über 60 Jahre; sie könnten aber auch 30 Jahre alt sein – es sind fließende Übergänge.
Man muss daran denken, dass die Eltern der Kinder, die 1930 geboren wurden, unter Umständen schon ihrerseits kriegstraumatisiert waren. Wir haben in der Zeitspanne des 20. Jahrhunderts eine Menge kriegsgeschädigter Menschen, sowohl aus dem ersten wie aus dem zweiten Weltkrieg.
C. P.: Das Thema Kriegskinder wird in den letzten Jahren, etwa seit 2005, immer bekannter. Woran liegt das?
Dr. Helga Spranger: Zum einen kommt es daher, dass wir, die damit beschäftigt sind, das Thema populär gemacht haben – mit Tagungen, Veröffentlichungen in den Medien etc. Das andere Phänomen, was man bei den Bewohnern der ehemaligen DDR derzeit auch erleben kann, besteht darin: Es dauert mindestens eine Generation, bis man es schafft, über die seelischen Verletzungen zu sprechen. Wir haben jetzt 20 Jahre die Grenzen der DDR geöffnet und erleben, dass die Menschen kurz nach der Wende über ihre Traumatisierungen kaum reden konnten und jetzt langsam damit anfangen, wobei der Großteil der Menschen immer noch schweigt.
Die 68-er Bewegung hat sich damals gegen die Eltern, speziell gegen die Väter gewandt, aber eine richtige Kriegsverarbeitung begann erst später.
C. P.: Sie leiten seit 10 Jahren Therapiegruppen und behandeln die Menschen auch einzeln. Kann man diese Traumata heilen?
das kann man heilen
Dr. H. Spranger: Ja, das kann man heilen. Es gibt dabei zwei grundsätzliche Richtungen. Ein Teil der Menschen wird mit den Traumatisierungen nicht fertig. Sie klagen auch über ihre Erlebnisse, bleiben aber gewissermaßen therapieresistent. Wenn man sie so therapieren würde, dass die Klagen nicht mehr erforderlich wären, würden sie das als einen persönlichen Verlust empfinden. Sie kommen gewissermaßen aus dem inneren Gleichgewicht.
Die andere Gruppe, die sehr viel größer ist, schafft es, in einer relativ langen psychotherapeutischen Arbeit ihre traumatischen Erlebnisse neu in ihr jetziges Leben zu integrieren. Wenn das gelingt, sind sie ganz lebensfroh. Aber das muss wirklich therapeutisch durchgearbeitet und in die Persönlichkeit eingearbeitet werden.
C. P.: Aber das wesentliche Fazit ist: Der Mensch ist bis ins hohe Alter fähig, zu lernen und sich zu wandeln!
Dr. H. Spranger: Das kann ich deutlich bejahen.
die Kriegsenkel fühlen sich überbeansprucht
C. P.: Wie haben die Kriegskinder ihre Traumata wiederum an ihre Kinder weitergegeben, d. h. an diejenigen, die dann nach 1948 geboren wurden?
Dr. H. Spranger: Das Leitthema heißt „Rücksichtnahme“. Diese Kriegs-Enkelkinder sind angehalten worden, sehr viel Rücksicht auf die Eltern zu nehmen. Wenn die Eltern dann tot sind, bricht das zusammen. Aber auch schon zu Lebzeiten der Eltern können diese Kinder dieses permanente Rücksichtnehmen kaum aushalten, wenn sie beispielsweise später ihre Eltern pflegen müssen. Das muss man einfach wissen. Diese Kriegsenkel fühlen sich, ohne dass ihnen das klar ist, überbeansprucht und fühlen sich in der Beziehung zu ihren Eltern nicht wohl. Sie dürfen wiederum die Eltern nach ihrer Vergangenheit gar nicht befragen, weil diese das vielleicht abwehren. Es gibt nur wenige Eltern, die etwas erzählen, wobei es dabei auch die Negativ-Seite gibt, dass vor allem die Väter dann sehr viel erzählen und gar nicht mehr aufhören.
Die Beziehung dieser „Kriegsenkel“ zu ihren Eltern ist in den Therapien nicht ausreichend beachtet worden.
Die Bindungen der kriegstraumatisierten Kinder zu ihren Müttern waren schlichtweg nicht normal. Sie sind von vornerein in ihrer Bindung ganz anders geprägt, wenn man sich vorstellt, dass sie gemeinsam mit ihren Müttern von permanenten Luftangriffen, monatelanger Flucht etc. bedroht waren. Während der eigenen Versuche, irgendwo Halt, Trost oder Mitgefühl zu finden, entwickelten sie gleichzeitig in der Beantwortung der mütterlichen Hilfssignale eine Pseudo-Erwachsenenebene im Sinne einer Schnellreifung, von der aus sie versuchten, die Wünsche der Mutter zu erfüllen, um diese nicht gänzlich zu verlieren. Diese Kinder gerieten in andauernde schuldhaft durchwirkte Stresssituationen. Sie mussten kindliche Bedürfnisse zurückstellen.
Dazu kommt, dass viele schwangere Mütter im Hungerzustand waren und die Kinder schon alleine deswegen körperlich schlechter ausgestattet wurden.
Auch wenn die äußeren Bedingungen für die Generation nach 48 anders waren, haben die Eltern, d. h. die ehemaligen Kriegskinder, diese Prägungen an ihre eigenen Kinder weitergegeben. Es sei denn, sie haben das bearbeitet durch Selbstreflektion oder Therapie, was damals gesellschaftlich aber nicht üblich war.
C. P.: Was würden Sie diesen Enkelkindern sagen, damit sie ihre Eltern besser verstehen können?
Dr. Helga Spranger: Im Mai hatten wir eine erste Tagung zu dem Thema „Kriegskinder und Kriegsenkel“, die im Oktober weitergeführt wird (siehe Ende des Interviews). Es werden den Kriegsenkeln schlichtweg die Zusammenhänge erklärt und sie sollen insofern entlastet werden, dass sie bestimmte Themen nicht als ein persönliches Versagen betrachten, sondern dass es eine Problematik gibt, die aus der Interaktion zwischen ihnen und ihren Eltern entstanden ist.
es wurde nicht genug daraus gelernt
C. P.: Was sollte an Dynamik und Auseinandersetzung bei dem Thema Kriegstraumatisierung noch stattfinden?
Dr. Helga Spranger: Zum einen braucht es viel psychotherapeutische Unterstützung. Zum anderen sollte die Problematik in die Öffentlichkeit und vor allem in die Politik getragen werden. Wir haben gerade gehört, dass bei dem Konflikt in Lybien deutsche Waffen eingesetzt werden. Es ist Verlogenheit, auch staatliche Verlogenheit, die dabei eine Rolle spielt. Deutschland steht an dritter Stelle der Waffenproduktion und es werden Waffen exportiert, z. B. vor etlichen Jahren nach Ruanda, wo Kinder sich gegenseitig und notfalls auch ihre Familienangehörigen mit deutschen Handfeuerwaffen umgebracht haben. In fast allen Kriegen und Konflikten dieser Welt sind deutsche Waffen vertreten, obwohl wir den zweiten Weltkrieg erlebt und verloren haben.
Es ist in der Öffentlichkeit bisher nicht ausreichend gesehen worden, welche Schäden an den Generationen entstanden sind, und es wurde nicht genug daraus gelernt.
Das nächste Thema sind unsere Soldaten, die in Afghanistan stationiert sind. Auch sie erleiden traumatische Schäden. Sie werden zwar behandelt, aber nach der Behandlung sind sie auf sich alleine gestellt und kommen mit ihren Traumatisierungen trotzdem nicht klar. Es ist nämlich immer noch nicht durchgedrungen, dass die Folgen von Traumatisierungen oft Jahre später noch auftreten können.
Das alles sind Punkte, die man nicht vergessen darf.
Der Verein Kriegskinder in Kiel hat jedes Jahr eine große wissenschaftliche Tagung, die nächste ist vom 20. – 21. Januar 2012 zum Thema „Sind wir friedensfähig? Aggression-Gewalt-Krieg“
Die nächste Tagung „Bindungen II“ ist am 14. und 15. Oktober.
Anmeldungen bitte an Frau Dr. Spranger
www.kriegskinder.de
www.kriegskind.de
Es werden gerne noch Mitglieder in dem Verein aufgenommen
Tagung der Victor Thylmann Gesellschaft
12. November, Samstag, 10.00 – 12.00 Uhr und 14.00 – 17.30 Uhr
Der Schrecken bleibt!
Seelische Kriegswunden erkennen und ihnen begegnen
mit Dr. med. Helga Spranger
Auch 66 Jahre nach Kriegsende sind die Kriegskinder und –enkel noch betroffen.
Vortrag (vormittags) und Gesprächsgruppe (nachmittags).
Kostenbeitrag vormittags: 14,-, Kostenbeitrag nachmittags: 33,- Begrenzte TeilnehmerInnen-Zahl bei der Gesprächsgruppe, bitte rechtzeitig anmelden.
Anmeldung: Victor Thylmann Gesellschaft (Tel.: 040-81 33 53)