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Der Toten gedenken
Interview mit Jörgen Day, Pfarrer emer.
Im November ist das Gedenken an die Verstorbenen allgemeines christliches Kulturgut. Wie aber kann man auf die richtige Art und Weise Kontakt zu einem Verstorbenen aufbauen, ohne medialen Mitteln oder Spökenkiekereien zu verfallen? Das entscheidende Motiv ist, dass man davon ausgeht, den Verstorbenen hilfreich zu begleiten auf seinem Werdegang im Nachtodlichen.
Gleichzeitig können aber die Verstorbenen ihrerseits uns auf der Erde Lebenden Impulse vermitteln. Das ist ein behutsamer Prozess, der Aufmerksamkeit erfordert und dem man Raum geben muss.
Jörgen Day, Pfarrer emer. in der Christengemeinschaft, geb. 1945, verheiratet. Nach dem Studium der Slavistik und der Politologie in Marburg und Hamburg für 5 Jahre tätig als Studienrat an einem Hamburger Gymnasium. Nach einem berufsbegleitenden Zusatzstudium für 9 Jahre Klassenlehrer und Fachlehrer für Russisch, Politik und Musik an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek (Farmsen). Nach einem Zusatzstudium seit 1990 Pfarrer in der Christengemeinschaft zunächst in Kiel, dann ab 2001 in Hamburg Harburg. Gründer eines Pflegedienstes und einer ambulanten Hospizeinrichtung und in der Ausbildung von Sterbebegleitern tätig. Vortragstätigkeit.
Christine Pflug: Im November ist das Gedenken an die Verstorbenen allgemeines christliches Kulturgut. Wie sollte man in einer angemessenen Weise damit umgehen?
Jörgen Day: Zunächst ist das eine etwas heikle Angelegenheit. Im Alten Testament, im 5. Buch Mose (Deuteronomium, Kap. 18, Vers 10-12) gibt es eine Stelle zur Totenbeschwörung: „Es soll keiner gefunden werden, der die Toten befragt, denn der solches tut, ist dem Herrn ein Gräuel.“ Ausgehend von diesem mosaischen Gesetz wird der Kontakt zu den Verstorbenen als ein Gräuel betrachtet. Es gab im Alten Testament auch eine Totenbeschwörung: König Saul, nachdem er sich von Gott entfremdet hatte, stand vor einem Kampf mit den Philistern, musste sich wehren und hatte Angst. Er befragte Gott, wie das ausgehen würde, aber dieser antwortete nicht. Jetzt war er hilflos und suchte im Lande eine Totenbeschwörerin. Er findet sie (1. Buch Samuel, Kap. 28, „Die Hexe zu Endor“), und lässt mit ihrer Hilfe den verstorbenen Propheten Samuel aus dem Totenreich heraufrufen. Samuel erscheint, ist darüber ziemlich ungehalten („Wer stört meine Ruhe“), aber durch die Beschwörungsformel der Hexe ist er gezwungen, die Antwort zu geben: „Das wird nicht gut ausgehen.“ Ein Tag später kommt der Kampf, und Saul und seine drei Söhne sterben.
Das macht deutlich, dass es um das Motiv geht, mit dem man die Toten befragt. Offenbar ist mit diesem Verbot aus dem 5. Buch Mose gemeint, dass diese egoistische Art der Befragung „dem Herrn ein Gräuel ist“.
Mit Bezug auf genau diese Stelle spricht Rudolf Steiner in einem Vortrag (GA 182, „Der Tod als Lebenswandler“, Nürnberg, 10. Februar 1918) davon, dass im Alten Testament die Totenbeschwörung abgelehnt würde, stellt aber dagegen, dass es auf die Art und Weise ankommt, wie man sich an die Verstorbenen wendet. Alles, was mit Machtbestreben und Egoismus zu tun hat oder durch schwarze Magie praktiziert wird, ist abzulehnen, aber wenn es in der richtigen Art passiert, ist der Kontakt zu den Verstorbenen sehr hilfreich.
Mit medialen Tätigkeiten etwas vorgaukeln.
C. P.: Tische rücken und Spökenkiekerei sind auch ein „Gräuel“?
J. Day: Mit diesen medialen Tätigkeiten kommt man in den Bereich von Astralleichnamen oder anderer Wesen, die noch mit der Erde verhaftet sind, und man kann nicht davon ausgehen, dass sich damit der Geist eines Verstorbenen offenbart. Es können irgendwelche Wesenheiten sein, die vorgaukeln, sie seien der Verstorbene. Die Aussagen, die dabei zustande kommen, sind sehr zu hinterfragen.
C. P.: Und was wäre das Angemessene?
J. Day: Die richtige Art und Weise eines Kontaktes zu einem Verstorbenen ist so aufzubauen, dass man eine unmittelbare Beziehung zu diesem Verstorbenen haben sollte, also keine abstrakte Beschwörung von irgendjemandem, sondern man wendet sich an konkrete Personen.
Den Kontakt nicht herstellen, weil man etwas haben möchte.
C. P.: Sollten es also Menschen sein, zu denen man auch in der Lebenszeit eine Beziehung hatte?
J. Day: Aus dieser Beziehung in der Lebenszeit ergibt sich eine Brücke, die man bauen kann. Das entscheidende Motiv ist, dass man den Kontakt nicht herstellt, weil man etwas haben möchte, wissen möchte oder sonstige Vorteile sucht, sondern dass man gerade umgekehrt davon ausgeht, den Verstorbenen hilfreich zu begleiten. Es gibt dazu etliche Wortlaute und Sprüche von Rudolf Steiner, die das genau ausdrücken wie etwa „Meine Liebe folge deinen Spuren…“ .
C. P.: Inwiefern kann man dann eine Beziehung „aufbauen“?
J. Day: Es gab während der Lebenszeit in der Beziehung zu demjenigen nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen. Wenn man sich im Gedenken an ihn auf die Tiefen bezieht, hilft ihm das nicht, sondern man soll sich an die Dinge erinnern, die einen mit ihm im positiven Sinne verbunden haben, also seine guten Eigenschaften oder Ereignisse, bei denen er etwas von seinem wirklichen Wesen zeigen konnte. Damit kann man sich ihm in einem liebegetragenen Gefühl zuwenden.
Wenn man diese von Sympathie getragene Beziehung verankert hat, sollte man zu den geeigneten Zeitpunkten den Kontakt aufnehmen, d. h. beim Aufwachen und vor dem Einschlafen. Dann kann man dem Verstorbenen eine schöne Erinnerung oder beispielsweise ein Gedicht, ein Gebet oder einen Wortlaut aus dem Evangelium zusenden.
Im Schicksal, was er dann rückwärts von der Stunde des Todes bis zu seiner Geburt erlebt.
C. P: Bei was unterstützt man damit den Verstorbenen?
J. Day: Damit hilft man ihm bei seinem Werdegang im Nachtodlichen. Jeder Verstorbene erkennt im Rückblick auf seine Biografie, also im Astralbereich, der nach den ersten drei Tagen nach dem Tod beginnt, was er anderen Menschen hinterlassen hat. Das ist in aller Regel nicht nur Positives. Im Schicksal, was er dann rückwärts von der Stunde des Todes bis zu seiner Geburt erlebt, gibt es Phasen, in denen er sich mit anderen Menschen gestritten hat, ihnen Leid zugefügt hat u. ä. Das erlebt er als ihm zugehörig und das sind Zustände, die für ihn nicht schön sind. Da kann ein Gebet oder das liebevolle Gedenken der Erdenmenschen für ihn wie eine wärmende Hülle sein.
Kamaloka oder Fegefeuer
C. P.: Um es mit einem anthroposophischen Begriff zu sagen: Man hilft ihm durch das Kamaloka oder, wie es der Katholizismus ausdrückt, durch das Fegefeuer. Wenn man das für einen Verstorbenen tut, welche Wirkungen entstehen dann für einen selbst aus dieser Beziehung?
J. Day: Ein Verstorbener ist nicht weg, sondern er ist da. Wenn man Rudolf Steiner folgt, kann man sagen, dass das Dasein der Verstorbenen nicht nach unseren irdischen Vorstellung geht – wir hier, die Verstorbenen dort – sondern wir sind ihnen und sie uns unendlich nah. In diesem Sinne sind sie sogar „in“ uns. Jeder Verstorbene hat eine Beziehung zu den mit ihm im Leben verbundenen Menschen. Das erlebt man dann nicht so: „ich spreche hier und der Verstorbene spricht dort“, sondern es ist gerade umgekehrt. Wenn wir morgens aufwachen, können wir etwas von dem Verstorben in uns erleben, z. B. den Impuls zu einer neuen Tat. Er „spricht durch mich“, aber ich erlebe es als meinen eigenen Impuls.
Das Problem dabei ist, wenn sich der Verstorbene in der Astralwelt aufhält, dass aus dieser Astralwelt der Gefühle etwas in uns hereinkommen kann, was von dort und nicht von dem Verstorbenen selbst stammt. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, können „niedere Triebe“, so nennt es Rudolf Steiner, in uns geweckt werden.
C. P.: Welche „niederen Triebe“ können das sein?
J. Day: Das kann übersteigerte Sexualität sein, Egoismus, Habsucht, Eitelkeit – alles kann verstärkt auftreten. Der Umgang mit den Verstorbenen ist also nicht so ohne weiteres einfach, da muss man sehr gut aufpassen, dass man nicht in die Astralwelt hineingerät und dort ergriffen wird.
C. P.: Und wie kann man aufpassen?
J. Day: Indem man erst mal von dem Problem weiß und sich selbst beobachtet, ob die eine oder andere seelische Geste hervorschießt und dass man sich dann selbst führt und diesen Regungen nicht einfach ausgeliefert ist. Diese Möglichkeit der wachsenden „niederen Triebe“ kann sich verstärken im Kontakt mit Verstorbenen, die durch Suizid ums Leben gekommen sind. Sie haben eine Sehnsucht, wieder zurück ins Irdische zu kommen und können einen Menschen, der zu offen ist, wie besetzen.
C. P.: Wenn man in einem Zustand von Trauer ist – kann man eine Begleitung in dem von Ihnen beschriebenen Sinne überhaupt leisten? Mischen sich da nicht zu sehr die persönlichen Gefühle hinein?
J. Day: Wenn man weiß, was man tut, kann man es leisten. Man muss nämlich die Trauer trennen von dem, was die Zuwendung zu dem Verstorbenen ist. Trauer bedeutet Verlust, und Verlust bedeutet Angst vor dem, was sich aus der Abwesenheit des geliebten Menschen ergibt, z. B. dass eine Fülle von Lebensgewohnheiten sich drastisch ändern werden. Wenn ein lieber Mensch nicht mehr da ist und die Beziehung durch den Tod abbricht, ist vieles anders. Als erstes muss man anerkennen, dass das so ist. Dann sollte man den Verstorbenen in seinem nachtodlichen Sein anerkennen und entsprechend begleiten und sich gleichzeitig ganz intensiv um seine eigene Trauer kümmern. Das Verlustgefühl muss gelebt werden.
„Geistestrost“
„Was hat mich denn mit ihm verbunden?“ Über diese Gefühle muss man sich klar werden. Auch bedarf man in dieser Zeit des Trostes. Das ist aber nicht etwas, was mit dem Tätscheln an der Backe passiert oder mit einem „Wird schon werden“, sondern Trost kann als „Geistestrost“ dann kommen, wenn man weiß, dass der geliebte Mensch für mein physisches Auge nicht mehr existiert, aber mir sonst unendlich nah ist. Durch diese Beziehung kann etwas Tröstliches als Kraftfeld entstehen; der Verstorbenen schaut seinerseits liebend auf den, mit dem er verbunden war und kann durch seine Art „Antwort“ Kräfte geben.
Dann ist ein weiterer Schritt bei der Trauer, wie weit jemand sich das, was als Verlust in verschiedenen Bereichen da ist, z. B. sich um die Finanzen zu kümmern, Kontakte zu pflegen, allmählich selbst im Leben aneignet. Man sollte mit der inneren Frage umgehen: Was hat mich mit ihm oder ihr verbunden? War das Realität oder habe ich mir etwas vorgemacht? Möglicherweise hat man sich an einen Menschen geklammert, der einem einen gewissen Wohlstand vermittelt hat, und es war ein egoistisches Motiv, was einen gebunden hat. Und nun ist die Frage, wie man sein Leben neu einrichten will. Das sind alles Phasen der Trauerarbeit, die man am besten mit einer Begleitung durchmacht.
Das ist von der Zuwendung zu dem Verstorbenen zu trennen. Jedes „Ach, wärst du doch noch hier“, „Ach, könnten wir das noch gemeinsam erleben“ hindert den Verstorbenen auf seinem Weg.
C. P.: … Gefühle, die im wirklichen Leben nicht einfach wegzuschieben sind.
J. Day: Es ist einfach wichtig zu wissen, dass die Trauer ein ganz wichtiges Seelenfeld ist, was bearbeitet werden muss, und dass man eine Beziehung zu dem Verstorbenen losgelöst von der Trauer aufbauen kann. Man kann Momente finden, Rudolf Steiner schlägt dreimal am Tag vor, und wie in einem kleinen Ritual kann man seine guten Erinnerungen finden und pflegen. Das schafft die Beziehung, und neben dem kann man sich in der anderen Zeit um die eigene Trauer kümmern und mit den Verlustgefühlen umgehen.
Eine „Arbeitsgemeinschaft“ zwischen den Hierarchien und den Verstorbenen im Blick auf die Welt.
C. P.: Gibt es etwas, was die Verstorbenen uns geben wollen oder sind sie damit beschäftigt, ihren Weg zu gehen?
J. Day: Da sie im besagten Astralbereich mit den Hierarchien zusammenkommen, gibt es eine „Arbeitsgemeinschaft“ zwischen den Hierarchien und den Verstorbenen im Blick auf die Welt. Was die Verstorbenen mit ihrem allmählich erweiterten Bewusstsein als Realität erleben, ist ein Menschheitsbewusstsein für die ganze Erde, eine Zuwendung für die Ziele der ganzen Erdenevolution. Wir verdanken den Verstorbenen ungeheuer viel. Rudolf Steiner wurde einmal nach seinen Vorträgen über die Dreigliederung, und das war in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, gefragt, wie es mit Deutschland als Kulturträger weitergehen könne. Dazu sagte er: „Fragen Sie Goethe.“ Dieser war schon bekanntermaßen ungefähr 80 Jahre gestorben. Damit meinte Rudolf Steiner, man solle sich an den Genius Goethe wenden, der da ist und aus seiner Übersicht Ratschläge geben kann.
Wir haben den Verstorbenen Kulturimpulse zu verdanken.
C. P.: Und solche Fragen „darf“ man stellen, bzw. an diesen Dingen haben die Verstorbenen Interesse?
J. Day: Ein sehr großes. Wir ahnen nicht, welche Kulturimpulse wir den Verstorbenen zu verdanken haben, in unserer Biografie und auch gesellschaftlich.
C. P.: Welche Kulturimpulse können das sein?
J. Day: Beispielsweise interessieren sich Menschen für Ideale, zu denen sie bisher in ihrer Biografie keinen Bezug hatten. Es können Einschläge kommen und jemanden individuell auf eine Linie bringen, wo er über sich hinauswachsen kann. Vielleicht will dann jemand sein Vermögen für den Ankauf von Demeter-Flächen einsetzen, weil er weiß, dass es wichtig für die Erde ist, ein anderer kann sich an der Flüchtlingshilfe beteiligen, der nächste entwickelt plötzlich religiöse Impulse, usw.
Der Verstorbene spricht durch mich, und ich empfinde es als meinen eigenen Willensimpuls, besonders in der Sphäre des morgendlichen Aufwachens. Das ist ein sehr zarter, behutsamer Prozess, auf den man im Laufe der Zeit aufmerksam werden muss und dem man Raum geben muss.
„Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch und wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist“.
C. P.: Wenn jetzt im November allgemein der Toten gedacht wird, auf Friedhöfen, am Totensonntag, in Gottesdiensten, ist das ja nicht in den Momenten des Einschlafens und Aufwachens, sondern es passiert in einem kulturellen Rahmen. Wie ist das zu verstehen?
J. Day: Wir können auf die Natur schauen. Wie Hilde Domin so schön spricht: „Es knospt unter den Blättern, das nennen sie Herbst“. Da vollzieht sich äußerlich ein Prozess des Sterbens und innerlich ein langsames Erwachen, das sich zu Weihnachten verdichtet, dass Christus in den Menschen einzieht und in das Erdenreich. Von der geistigen Seite aus ist jede Geburt ein Tod und jeder Tod eine Geburt. Wie Novalis sagt: „Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch und wenn ein Mensch stirbt, wird er Geist“.
Dienstag 1. November,
Johannes-Kirche, 19.30 Uhr
Trauerarbeit und Erinnerungsarbeit
Die lebendige Beziehung zu den Verstorbenen
Vortrag Jörgen Day