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Märchenhaft unterwegs
zur Notfallpädagogik bei kriegstraumatisierten Kindern
Artikel von Micaela Sauber, Märchenerzählerin
Seit vielen Jahren reist Micalea Sauber mit Märchen und Geschichten im Gepäck durch die Lande, erzählt den Menschen Märchen von überall und manchmal lässt sie sie staunen über ihre eigenen Märchen, die sie selber längst vergessen haben.
Märchen machen Kinder mutig für ihre eigene Zukunft. Sie sind ein Zaubermittel, das Erwachsene wieder an das zu erinnern vermag, was sie eigentlich wollten, es aber nicht mehr erkennen konnten.
Micaela Sauber ist auch in politischen Krisengebieten unterwegs, um dort mit ihrer Erzählkunst Freude zu wecken und Möglichkeiten zu zeigen, wie Erzählen heilen kann. „Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen.“
Micaela Sauber, geb. 1945 in Hamburg, ist seit 25 Jahren als Erzählerin von Märchen und Geschichten unterwegs in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Bosnien und Herzegowina, in Slowenien, Libanon, Gaza, der Türkei. Einmal im Jahr fährt sie mit einer Gruppe nach Chartres, Frankreich, und erzählt dort an der großen Kathedrale, was die Gestalten, die Architektur und die Glasfenster zu sagen haben.
In ihrem Gepäck befinden sich eine Menge unterschiedliche Märchen und Geschichten, Erzähltheaterstücke mit Requisiten, Biografien und immer wieder die Erzählungen von Parzival. Manchmal steht ihre Jurte auf einer Wiese, wo rund ums Lagerfeuer Kinder und Erwachsene sitzen und ihren Erzählungen lauschen. Sie hat das Netzwerk „Erzähler ohne Grenzen*“ initiiert. Mit den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Sektion Notfallpädagogik*, reist sie seit 2010 etwa dreimal im Jahr nach Gaza, um dort mit ihren Märchen, kleinen Puppenspielen für Kinder und mit der Vermittlung ihrer Kunst an palästinensische Pädagoginnen zu arbeiten.
* mehr Informationen im Internet unter:
www.erzaehler-ohne-grenzen.de
www.micaela-sauber.de
www.freunde-waldorf.de/notfallpaedagogik.html
Auf dem Hut eines Riesen reisend – welch ein Überblick ist einem da beschert! Höher und auch schneller geht es von Adlerflügeln durch die Luft getragen, auf dem Rücken eines Zauberpferdes durch Feuer und Eis zu reisen oder unterwegs zu sein mit einem Schiff, das zu Land und auf dem Wasser fahren kann. Das ist atemberaubend. Ein russischer Held reitet auf einem Wolf, ein Mädchen auf einem weißen Bären und eine ließ sich gar vom Nordwind persönlich durch die Luft tragen. Dagegen mutet die Reise mit dem Riesen ja geradezu gemütlich an.
Mit dem Wunschhut auf dem Kopf ist man so schnell anderswo, wie man es gerade für sich gedacht hat. In Gedankenschnelle also, und meist hat der lange Fußweg schon vor dem Erwerb des Hutes stattgefunden (Die Kristallkugel, Grimm). Der fliegende Teppich (Die Gaben des Schlangenkaisers, Bosnien) braucht etwas länger, er fliegt mit der Geschwindigkeit eines Vogels. Die Sinne bleiben wach, der Reisende nimmt dies und jenes wahr, er sitzt dabei und ruht in sich, wie ein Orientale es uns lehren kann).
Mein derzeitiger Lieblingsheld hat sich einen wilden Tiger mit Flügeln gezeichnet, ihn zum Leben erweckt, sich drauf gesetzt und damit die Mächtigen der Welt so erschreckt, damit sie ihm seine gestohlene allerliebste Seelenbraut wieder herausrückten.
Dann gibt es die Frauen, die unvorstellbar lange wandern müssen, um ihren Liebsten, ihre verzauberten Brüder oder ihr verlorenes Kind wieder zurück zu gewinnen. Treu und trauernd, geduldig, ausdauernd, zielbewusst. Manchmal solange, bis sieben paar eiserne Schuhe abgelaufen sind, sieben eiserne Stäbe verbraucht. Eine nimmt mit: einen Krug Wasser, einen Laib Brot und ein Stühlchen für die Müdigkeit (die sieben Raben, Grimm), eine andere ist bereit, so weit zu gehen, „wie der Himmel blau ist“ (Die zwölf Brüder, Grimm). Die wunderschöne russische Wassilissa hat den Auftrag, zur Baba Jaga um Feuer zu gehen. Von der heißt es, sie fräße Menschen wie Hühnchen. Wassilissa geht eine Nacht und einen Tag lang ohne Unterbrechung und steht an ihrem Ziel vor einem Haus, das von einem Zaun umgeben ist, der aus Menschenknochen gemacht ist und auf dessen Pfählen Menschenschädel stecken, die nachts von innen hell brennen.
als Märchenheldin oder -held unterwegs zu sein, heißt, einen Weg zu gehen auf Leben oder Tod
Als Märchenheldin oder -held unterwegs zu sein, heißt, einen Weg zu gehen auf Leben oder Tod. Doch die Gefahren und Prüfungen führen immer zu einem guten Ende. Wie heftig es zugegangen war, wird leicht übersehen und dürfte uns doch trösten in unseren Lebenswidrigkeiten, denen wir oft mehr schlecht als recht die Stirn zu bieten in der Lage sind.
Manche Märchenwege führen in kosmische Weiten: Zu Sonne, Mond und Sternen. Direkt zum Ziel verhelfen können diese meist nicht, sie sind zu mächtig, der Erde und dem Menschen nicht nah genug. Doch sie schenken oft wunderbare Kleider, Erfahrungen, die zur endgültigen Erlösung dann unerlässlich Hilfe leisten. Allerdings müssen diese leuchtenden Kleider auch wieder geopfert werden, damit es weitergehen kann. Der Abendstern, der die Menschen begleitet, wenn sie sich zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Schlaf und Traum, zwischen Baum und Borke befinden, kann vermitteln (Das Borstenkind, Die sieben Raben).
Auf den Weg macht sich auch, wem die Not im Nacken sitzt. So heißt es: „Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach ‚seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zur ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen fort. Die harten Brotkrusten, die übrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Hündlein unter dem Tisch geht‘s besser: dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Dass Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wüsste! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.‘„ (Brüderchen und Schwesterchen, KHM 11).
alles, was die Märchen erzählen, meint unser menschliches Leben
Not und Heimatlosigkeit, und immer wieder eine Krise – sie geben die Chance, sich selber an die Hand zu nehmen, sich auf den Weg zu machen, sein Blickfeld zu erweitern, sich zu verändern. Alles, was die Märchen erzählen, meint unser menschliches Leben.
Wenn wir alle im Sommer Sehnsucht haben, zu verreisen und es auch tun, dann verschaffen wir uns neue Ausblicke und Anregungen. Na gut, der Faulpelz, der sich ausruhen möchte, der kommt auch vor in den Märchen. Da gibt es ganz verschiedene Arten. Zu sehr viel brachte es eines Tages, von niemandem je erwartet, Wanja, der auf dem Ofen lag und Sonnenblumenkerne futterte, während alle anderen sich abschafften. Oder der Lars im dänischen Märchen, der so faul war, dass das Gras unter seinen Sohlen Zeit hatte zu wachsen, wenn er ging, und der doch die Prinzessin bekam. Ohne sie wäre es allerdings nichts geworden mit ihm. Sehen Sie selber einmal nach, wie Einfalt und Faulheit zur rechten Zeit etwas reifen lassen können, was enorme Kräfte dann hervorbringt, wenn sie gebraucht werden.
Märchensprache wirkt tief in unserer Seele
Märchensprache ist Bildsprache, ist Symbolsprache. Sie wirkt tief in unserer Seele, da, wo sie in Bilderwelten selber lebt, wo sie in unseren Träumen uns Botschaften ihres Daseins manchmal gibt. „Das Volksmärchen ist die Fibel der Bildersprache der Seele“, sagt Joseph Campbell (Der Held in 1000 Gestalten).
Erzählen von Märchen ist ein Spiegel und eine Quelle für mich selbst. Spiegel für bisher Unentdecktes, Quelle für neue Möglichkeiten.
Märchen machen Kinder mutig für ihre eigene Zukunft. Sie sind ein Zaubermittel, das Erwachsene wieder an das zu erinnern vermag, was sie eigentlich wollten, es aber nicht mehr erkennen konnten. Kindern werden sie einfach erzählt oder vorgelesen. Märchensprache ist auch Himmelssprache und die kennen die Kinder noch aus der Zeit vor ihrer Geburt. Erwachsene bekommen gerne einen Schlüssel für die Bilderwelt der Märchen in die Hand. Freude macht es immer wieder, Rudolf Geigers Märchendeutungen zu lesen (Rudolf Geiger: Märchenkunde, Verlag Urachhaus). Er war ein unerreichter Meister der Märchen. Aber auch viele andere schöne Märchendeutungen für Erwachsene sind als Bücher zu haben.
als Erzählerin unterwegs zu den Menschen
Die Entwicklungen, von denen die Märchen erzählen, haben meistens Notsituationen zum Hintergrund. Doch die Märchen zeigen vieles, was als Marschgepäck in schlimmen Zeiten zum Überleben hilft: Beherztheit, Liebe, Treue zu sich selber und seiner Liebe, zu den eigenen Kindern, Mut, Neues aufzunehmen, Geistesgegenwart zu üben. Erzählkunst und die Märchen und Geschichten aus der eigenen Kultur, die viele seit der Kindheit kennen, öffnen Türen, schaffen Gemeinschaft im Erzählen und Hören. Seit vielen Jahren reise ich mit Märchen und Geschichten im Gepäck durch die Lande, erzähle den Menschen Märchen von überall und manchmal lasse ich sie staunen über ihre eigenen Märchen, die sie selber längst vergessen haben. So kürzlich in der Türkei, in Izmir bei einer Tournee mit dem Goethe-Institut. Das Töpfchen, ein kleines, in Deutschland sehr beliebtes türkisches Märchen, verzaubert kleine und große Menschen, denn es schafft seiner hübschen, jungen und unschuldigen Besitzerin auf charmant-freche Art Erstaunliches herbei, wozu es nur auf die Straße geworfen werden musste. Und das solange, bis alle notwendigen und heimlichen Wünsche erfüllt sind.
Mir ist es seit zweieinhalb Jahren vergönnt, mit den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners nach Gaza in Palästina zu reisen, um dort mit meiner Erzählkunst Freude zu wecken und Möglichkeiten zu zeigen, wie Erzählen heilen kann. „Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnweben alter Märchen auf offene Wunden legen.“ Bilder aus Himmel und Sternen wird man machen, prophezeit der Dichter Christian Morgenstern. Ja, das ist zu tun. Aber wie macht man das?
Der wunderbare jüdische Erzähler aus Kiew, Alexander Kostinskij, der heute in München lebt, hat eine Geschichte erdichtet, die heißt: „Der Sternenverkäufer“. So beginnt sie:
„Die Schriftgelehrten sagen: Rechtlosigkeit erzeugt Angst.“ Der Zaddik von Belopol, Moissej Zwick, lehrte etwas anderes: „Angst erzeugt Rechtlosigkeit.“ Und damit hatte der Zaddik Recht. Er wusste, was er sagte, denn er stammte genauso wie sein Vater Benjamin Zwick aus Belopol, und beide wussten sie, was Angst ist. Angst, das ist, wenn du nicht wagst den Blick zu heben und mit gesenktem Kopf herumläufst.
Angst, das ist, wenn dir jemand ins Gesicht spuckt und du die Hand nicht hebst, um ihn zu schlagen, sondern nur, um dir die Spucke abzuwischen, und still weinst, lautlos, weil du fürchtest, durch dein Weinen den Beleidiger zu belästigen.
So lebten die Juden von Belopol einst mit gesenktem Kopf und krummem Rücken – sie hatten Angst. Sie fürchteten Richter und Pferdediebe, Feuer und Wasser, Polen und Ukrainer, Flüsse und Wälder, Wege und Wildnis. Sie hatten Angst!“
„…… bis eines Tages ins Haus des Schmiedes Benjamin, des Vaters vom künftigen Zaddik, ein Mann kam.
‚Ich verkaufe Sterne‘, sagte er. ‚Ganz billig. Ein Stern eine Kopeke.‘ Der Verkäufer hieß Abraham. Er band den Strick auf, der um seinen schäbigen alten Koffer gewickelt war, und holte farbige Bildchen heraus. ….“
„…Abraham besuchte alle Häuser. Er holte die Bilder aus dem Koffer und erzählte den Leuten von den Sternen. Manche kauften gleich, …“
„Als dann der Abend kam, führte Abraham die Leute aus den Häusern hinaus und zeigte ihnen ihre Sterne. Es war schwer, den ewig gebeugten Rücken aufzurichten und die hängenden, krummen Schultern zu recken, und noch schwerer war es, den an ständige Demütigungen gewöhnten Kopf zu heben. Die Knochen knackten, die Gelenke schmerzten, der Kopf tat weh. Aber die Menschen blieben trotzdem stehen, sie blickten zum Himmel und suchten ihre Sterne…Niemand bemerkte, dass Abraham währenddessen fortging.“
Eine Lichtspur
Gazaim, im Jahr 2010, mit seinen 1,6 Millionen Einwohnern auf 360 qm (etwas kleiner als Bremen), davon über die Hälfte Kinder und Jugendliche, wirkt dunkel trotz des gleißenden Sonnenlichtes. Der Jahreswechsel 2008/2009 brachte die „Operation Gegossenes Blei“ der israelischen Armee. Ich bin mit den „Notfallpädagogen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ (www.freunde-waldorf.de/notfallpaedagogik.html) in einem 12 köpfigen Team unterwegs. Wir gehen zu schwer traumatisierten Menschen in ihrem zerstörten Dorf und durch das ganze Land in Kindergärten und Kulturzentren.
eine hohe Mauer läuft ums Land, rundherum weiß man bewaffnete Soldaten
Sinai und die Wüste sind nah und eine hohe Mauer läuft ums Land, rundherum weiß man bewaffnete Soldaten, auch auf Patrouillenbooten 3 Seemeilen vor der Küste. Viele Häuser sind grau, aus grauen Trümmern werden neue Steine für den Hausbau hergestellt. Alles wirkt dunkel und unfroh. Mein arabischer Übersetzer, mit dem ich englisch kommuniziere, und ich besuchen Kindergärten, um dort Kostproben der Erzählkunst zu geben. Beklemmend ist es vielerorts, die Kindergärten sind wie kleine Schulen. Kein Spielzeug, kein Raum zum Spielen, manchmal ein Hof mit Geräten, doch sehen wir dort keine Kinder beim Spiel. Es soll schon früh, sogar mit 2 Jahren, mit dem Lesen und Schreiben begonnen werden. Die Eltern wollen das, heißt es. „Erzählen“ heißt Vorlesen aus kleinen Büchern mit Comic-Figuren und kleinen Texten. Erzählen heißt auch, eine Lehre zu erteilen wie eine Drohung. Wir bekommen einen Raum, verschüchterte Kinder werden gebracht, die Türen bleiben offen, draußen ist es laut, Leute kommen und gehen, fotografieren, telefonieren oder schwatzen, Erzieherinnen handeln übergriffig, sogar mitten in der Erzählung.
Wir bitten, Störungen zu vermeiden, die Türen zu schließen, die Kinder fordern wir auf, im Kreis zu sitzen.
Dann zaubere ich mein Märchenhuhn aus Plüsch hervor, das unter Gackern aus meinem persönlichem Stimmrepertoire farbige Eier legt, die es dann bebrütet. Das Märchen kann beginnen.
Bevor das blaue, gelbe und rote Küken geschlüpft ist, erzählen wir. Für die kleinen Kinder lassen wir den Großvater kommen, der einen Rübensamen in der Hand hat. Wir legen ihn ausdrucksvoll in die imaginierte Erde, klopfen sie fest. Dann begießen wir mit dem Daumen, die Faust wird Gießkanne, das wird öfters wiederholt, „von Tag zu Tag“. Einige Kinder machen schon mit. Jetzt wächst die Rübe, sie wird riesengroß, wie groß, das zeigen schon fast alle. Jetzt soll die Rübe geerntet werden, doch sie lässt sich vom Großväterchen nicht heraus ziehen. Nacheinander tauchen auf und helfen mit: die Großmutter, das Enkelchen, das Hündchen, das Kätzchen, jedoch, die Rübe lässt sich nicht ziehen. Die Reihenfolge wird immer schneller gesprochen. Ich sag es auf Englisch, mein Übersetzer arabisch. Beide machen wir Gesten, ein bisschen abweichend voneinander, aber wir sind voll in Fahrt, die Kinder auch.
Nun kommt das Mäuschen. Es beißt das Kätzchen am Schwänzchen und zieht mit, das Kätzchen zieht beim Hündchen, das Hündchen am Hosenbein vom Enkelchen, das Enkelchen fasst Großmütterchens Rock, das Großmütterchen fasst Großväterchen, und – schwups – da ist die Rübe heraus. Was für eine Freude! Bei den Kindern, bei den Erzieherinnen. Es ist hell geworden um uns herum.
Und jetzt kommen noch die bunten Küken aus dem verborgenen Nest in der Tasche. Das rote ist besonders frech und springt zu den Kindern. Herrlich! Dieses kleine naive Spiel und das russische Kettenmärchen ziehen eine Spur der Freude hinter sich her. In einem besonderen Kindergarten sind wir zwei Tage hintereinander. Ein Mädchen ist sehr schüchtern und unnahbar, bleibt in der Tür, beobachtet uns. Sie ist neu, sie ist hör- und sprachbehindert. Am nächsten Tag sitzt sie in der Runde, und jetzt macht sie alles, aber auch alles mit an Gesten, sogar bevor wir es tun, macht es schön und im Rhythmus, besser als alle anderen Kinder.
Bald 50-mal, immer wieder, von Kindergarten zu Kindergarten haben wir das Rübenziehen gespielt und das Huhn gezeigt und auch unsere Freude ist uns nicht ausgegangen.
Es war einmal eine kleine Lichtspur in einem dunklen Land,
und wenn sie nicht gewesen wäre, könnte man nicht von ihr erzählen…
Gaza 2012
Die Grenze nach Ägypten ist seit der dortigen Revolution durchlässig und vermittelt ein Gefühl bei den Menschen in Gaza, dass man heraus kann. Weit kommt man dann auch nicht ohne einen international anerkannten Pass und Visa, aber immerhin. Die Tunnel sind aktiv, und es wird viel in das abgeschlossene Land geschmuggelt und auch sehr viel Geld verdient von denen, die das organisieren. Auch Israel lässt wieder viel hinein. Aber nach 3 Meilen ist noch immer das Meer abgesperrt, hört man täglich, besonders morgens Maschinengewehrsalven, die den Fischern gelten. Düsenjäger ziehen ihre Spuren mit schneidendem Ton. Manchmal donnert es laut, die Menschen beruhigen uns Ausländer: da ist nur die Schallmauer durchbrochen worden. Abends werden überall Hochzeiten gefeiert. Mit Trommel und Schalmei und Feuerwerk. Das knallt auch, lässt sich bald unterscheiden von scharfer Munition. Die hört man auch mal bei einer Hochzeit. Eifersuchtsdrama, sagt unser Kellner. Ach ja, und man hört natürlich die Muezzine zum Gebet rufen. Wenn man Glück hat, ist nebenan einer mit schöner Stimme und musikalischem Empfinden im Dienst. Unsere palästinensischen Kolleginnen und Kollegen beten fünfmal am Tag mit großer Selbstverständlichkeit und sind sehr offen und lernbereit.
Die hohe Mauer und das breite Niemandsland, geschaffen durch Zerstörung ganzer Dörfer, umgeben das palästinensische Autonomiegebiet Gaza. Das Gefühl, in einem großen Gefängnis zu leben, ist deprimierend für sehr viele Menschen. Wir reisen mit unserem israelischen Visum ein und aus. Was kann man für sie tun?
Im Mai 2012 durfte ich zum sechsten Mal mit den Freunden der Erziehungskunst nach Gaza reisen, finanziert vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Die schwer traumatisierten Kinder aus dem damals zerstörten, jetzt fast ganz wieder aufgebauten Dorf haben drei Jahre lang täglich 3 Stunden in einem Kinderschutzraum, einer Art Freizeitschule, die von uns in Kooperation mit dem Al Quattan Center for the Child aufgebaut und betrieben wurde, zugebracht. Die MitarbeiterInnen wurden von einer Kollegin aus unserer Gruppe geschult. Sie sind inzwischen ein hervorragendes Team geworden – und die Kinder sind jetzt gesund und strahlend! Das ist für mich das schönste Ergebnis unserer Einsätze.
Mein Märchen für diese Kinder war „Der Büffel, der nur ein Horn hatte“, ein sehr ermutigendes Märchen der Uiguren. Es ist aus dem Repertoire meines Kollegen Dirk Nowakowski, der es für „Erzähler ohne Grenzen“ zur Verfügung gestellt hat.
im Jugendgefängnis von Gaza-Stadt
Eine besondere Herausforderung meiner über 26jährigen Erzählerfahrung begegnete mir, als es hieß, wir seien gebeten worden, im Jugendgefängnis von Gaza-Stadt zu erproben, ob unsere Pädagogik dort etwas bewirken würde.
Ich wurde gefragt, ob ich etwas für die Jungen zu erzählen wüsste. Die Herausforderung nahm ich an und bekam erst am Morgen, an dem es losgehen sollte, den Einfall, Iskender und der Grüne Vogel zu erzählen. Ein Märchen von Elsa Sophia von Kamphövener aus den „Nachtfeuern der Karanwanserail“. Das Märchen ist lang. Es geht um einen Jungen, der die Sprache der Vögel versteht und, weil er so seltsam und anders ist als die Leute in ihrem Umkreis, von der Mutter in den Tod gewünscht wird. Er wird in einem königlichen Haus aufwachsen und einmal die Hoffnung der Hirten sein, dass die Völker der Erde sich in ihrer Vielfalt friedlich vereinen werden. Ein herrlicher grüner Vogel kommt in Einsamkeit und Verstoßung zu ihm als sein Schutzgeist. Ich habe diese Geschichte an zwei Vormittagen jeweils eine Stunde erzählt und die Jungen zwischen 13 und 16 haben sehr gut zu gehört und es genossen, dass eine großmütterliche Person in englisch und ein arabischer Großvater in ihrer eigenen Sprache sich ihnen zuwandten und nur für sie etwas Spannendes erzählten.
es schließt so viel auf
An diesem kalten und harten Ort wurde das Erzählen dann in der weiteren Arbeit mit den Jungen auch von meinen KollegInnen entdeckt und mit großer Resonanz praktiziert. Eine Kollegin, Waldorflehrerin und Erlebnispädagogin, erzählte während des Knetend, wo sie mit der Notfallpädagogik überall in der Welt schon war und dasselbe mit Kindern gemacht hätte wie mit den Jungs jetzt: In Kirgisistan, in Japan, in Indonesien und Haiti. Sie beschrieb die Not, die dort herrschte, und wegen der man gekommen sei. Ein Kollege erzählte aus seinem dramatischen Leben, das ihn zu der Bewegungskunst schließlich geführt hatte, der Eurythmie, die er jetzt mit ihnen machen wollte. Sie haben es nach dieser beeindruckenden Erzählung dann mit Freude und erstaunlich gut gemacht. Wenn Erzählen vielseitig zum Einsatz kommt, bin ich glücklich und zufrieden. Es schließt so viel auf. Inzwischen gab es in dem Jugendgefängnis mit dem zynisch anmutenden Namen „Der Frühling“ zwei Einsätze von uns, und wahrscheinlich konnten wir dort einmal ein wenig Frühling verwirklichen. Wir hoffen sehr, dass wir den Jungen in der Zukunft weiter helfen können, indem ihre Wärter etwas Neues von uns aufnehmen werden.
Inzwischen wurde ich von dem modernen und sehr kinderfreundlichen Al Quattan Center for the Child in Gaza-Stadt, wohl nach eingehender Beobachtung meiner Arbeit, gebeten für 15 Menschen in Gaza ein Ausbildungsseminar für Erzählen in der Pädagogik und Heilpädagogik zu leiten. Dies fand im Mai 2012 zum dritten Mal statt und wird zu seiner Abrundung noch ein bis zwei Besuche brauchen. Einige von diesen arabischen Frauen und Männern sind bereits sehr gute Erzählerinnen und Erzähler, haben Kurse in Schauspiel und Pädagogik besucht und auch viel Erfahrung in der Arbeit mit Kindern. Sie suchen neue Anregungen und Wissen, warum das mündliche Erzählen und bestimmte Märchenmotive so wichtig ist. Es gilt, sie zu Erzählen zu ermutigen, denn schließlich kommen sie ja aus diesem von uns so bewunderten orientalischen Strom der Erzählkultur. Inzwischen wird in diesem Kulturzentrum auch viel erzählt, weniger vorgelesen, und die Kinder in der „Erzählstunde“ nicht mehr vor den Fernseher mit den Comic-Filmen gesetzt.
Erzähler ohne Grenzen
Ein Netzwerk „Erzähler ohne Grenzen“ entsteht langsam als mein Herzensprojekt. Es ist eine große Idee, sie steckt noch in den Kinderschuhen. Ein paar Erzählerinnen und Erzähler wissen voneinander und unterstützen den Impuls ideell. Eine Vernetzung mit internationalen ErzählerkünstlerInnen beginnt. Zwei von uns schließen sich Organisationen und Teams an, um nach Haiti oder Gaza zu gehen. Für Bosnien haben wir eine Förderung bekommen, damit Jasna Held dort zu Kindern in ghettoähnlichen Gebieten gehen kann, um ihnen ihre eigenen und internationale Märchen zu erzählen. Was wir uns sehr wünschen, ist finanzielle Unterstützung, um unsere Wege unter die Füße nehmen zu können.
(Siehe auch: www.erzaehler-ohne-grenzen.de)
in den Nachkriegsjahren in Bosnien
In den Nachkriegsjahren in Bosnien, wo der Krieg die ethnischen und religiösen Einseitigkeiten verstärkt und zu einer Art Ghettoisierung des Landes geführt hat, hatten wir den Eindruck, dass wir, die Erzählerin aus Kroatien und die aus Deutschland, sehr vielen Kinder bildlich gesprochen die Fenster weit öffnen konnten, um sie hinaus blicken zu lassen in ganz andere Welten, als es diese engen geistigen und seelischen Räume sind, in denen sie aufwuchsen. Jasna möchte das weiterhin tun, und darin sollte sie unterstützt werden.
Eine Schlüsselgeschichte für Erzähler ohne Grenzen ist der Bericht von Jasna Held aus den Kriegstagen 1992 von Dubrovnik. Diese Geschichte hat viele von uns Erzählerinnen und Erzählern sehr berührt, denn sie spricht aus, was wir fühlen und erleben in unserem Beruf. Doch bei uns in Mitteleuropa, in Skandinavien, in England herrscht oft eine ganz andere Not. In der Not des Krieges wird deutlich, was Erzählen und Märchen zu bewirken vermögen. Jasna hat uns mit ihrer wahren Geschichte ein Urbild für unseren Beruf geschenkt. Hier ist sie:
Über Märchen und Erzählen
von Jasna Held, Dubrovnik / Kroatien, Übersetzung: Michaela Sauber
„Ein Märchen erzählen, ihm zuzuhören…
Erzählen und Zuhören…
Wie wenig populär ist das in diesen Tagen!
„Bajati“ lautet ein altes slawisches Wort, das nur ungenau mit dem deutschen „erzählen“ vergleichbar ist. “Bajati“ steckt auch in „Bajka“, dem kroatischen Wort für „Märchen“. Es heißt: eine andere Welt zaubern. „Bajati“ heißt erzählen von etwas, das sehr weit fort ist … und doch so sehr nah.
„Woher kommst Du und wohin gehst Du?“ fragt die alte Frau.
Ja, wirklich, woher kommen wir und wohin gehen wir? Kurze, einfache Worte sind dies und ein großes Geheimnis steckt verborgen darin, hinter diesen Worten. Den Worten….
Es ist das Jahr 1991. Es ist Krieg. In einem Schutzraum alte Leute, Frauen, Kinder, von draußen dringen Lärm und Zerstörung herein. Eine Granate trifft das Haus, und der Luftdruck wirft uns an die Wand.
Staub, Elend, Ohnmacht, Angst. Kinder fangen an zu schreien. Mütter versuchen hoffnungslos, sie zu beruhigen. Alte Leute mit aufgerissenen Augen, reglos.
Ich nahm die Kinder und einige Mütter in einen kleinen Raum. Wir setzten uns auf den Boden und ich begann, eine Geschichte zu erzählen, ein Märchen…
… Hinter neun mal neun Bergen, hinter neun mal neun Meeren …
leise, langsam, kamen die Worte, umkreisten uns, segelten durch den kleinen Raum. Die Augen der Großen und Kleinen weiteten sich, ihre Gesichter begannen zu leuchten und wie durch Zauberei sind wir alle gemeinsam hier und gleichzeitig irgendwo weit, weit weg von hier. Der Lärm des Krieges ist nicht mehr anwesend und nicht mehr wichtig. In uns und um uns herum ist Frieden und eine zauberische Stille herrscht zwischen den Bildern, wir fallen in sie hinein….
Wir Erwachsenen fragten uns später, ja, wo in Wahrheit waren wir eigentlich gewesen? Und wohin waren Angst und Krieg verschwunden? Und warum, sogar später noch, waren wir nicht mehr so voller Furcht?
Erstaunlich … Ich frage mich … was war denn eigentlich realer …
dieser Krieg, der später einmal aufhörte, oder dieses Märchen, das immer noch in uns lebt?
Heute bin ich Berufserzählerin. Immer auf Reisen. Und überall das Licht auf den Gesichtern, das Leuchten in den Augen und ein Friede, ein überwältigend erfüllter Friede, ein Friede, der bleibt…“
Hiermit verabschiede ich mich von meinen Leserinnen und Lesern und wünsche eine erfüllte Sommerzeit mit guter Lektüre, vielleicht mal wieder Märchen? Auch wünsche ich Ihnen schöne und interessante Erlebnisse auf Reisen und zu Hause. Und wenn Sie sich mal wieder Märchen erzählen lassen möchten, dann besuchen Sie mich zwischen dem 16.und dem 29.7. auf Gut Wulfsdorf. Um 15 und 17 Uhr erzähle ich für Kinder und auf Bestellung auch für Erwachsene.
Sommerliche Grüße schicke ich Ihnen mit dem Zitat aus einem Gedicht, das viele Jahre meine Haustür schmückte. Bei dem schwedischen Dichter Erik Lindegren heißt es in der Übersetzung von Nelly Sachs:
Auf dass unser einziges Nest unsere Flügel sind!
Micaela Sauber, Juni 2012