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… ihrem Leben eine positive Wendung geben
Das Jugendhilfeprojekt RUNAYAY in Lima, Peru
Artikel von Dr. Carola Flurschütz
Das Jugendhilfe-Projekt RUNAYAY in Lima/ Peru wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, benachteiligte Jugendliche in ihrer ganzheitlichen Entwicklung zu fördern und sie auf ein selbständiges Leben in Würde vorzubereiten.
Im Mai und Juni hat die Hamburger Ärztin Dr. Carola Flurschütz, die seit 2012 als Psychotherapeutin in Runayay mitarbeitet, das Projekt in der Michaels-Kirche und in der Lukas-Kirche in Hamburg vorgestellt.
Jorge* weiß, dass er in Lima geboren ist und in welchem Stadtteil er seine ersten Lebensjahre verbracht hat. Ansonsten setzt seine Erinnerung in dem Moment an, wo er als kleiner Junge, etwa sechs Jahre alt, von der Polizei aufgegriffen wurde, da er alleine durch die Stadt gestromert ist und sein Elternhaus nicht nennen konnte. Jorge wurde in ein Kinderheim in Lima aufgenommen, in dem er ein neues Zuhause gefunden hat. Er hat Freunde gefunden und an Fussballturnieren teilgenommen und sogar den Schulabschluss gemacht. Als wir uns kennenlernten, hat Jorge mir erzählt, dass die Leiterin des Heimes ihn adoptiert hat. Jorge hatte also wieder eine Mutter… Er ist nicht einer von vielen Jungs, die in dem Heim leben, weil sie keine Mutter haben, sondern er ist in dem Heim, weil seine Mutter sich neben ihm, ihrem Sohn, auch um viele andere Kinder kümmert…
Aber diese Mutter hat sich nie gemeldet, seit Jorge mit 18 Jahren das Heim verlassen hat. Sie existiert nur in Jorges „Wunschrealität“. Ein Trost, eine Zuflucht in der Phantasie, wenn die Realität einem vor allem die Einsamkeit als Begleiter mitgibt. In der Realität ist Jorge ein junger Mensch, dessen Eltern ihn nie gesucht haben, als er von zuhause weggelaufen ist; eines von vielen Kindern, die in seinem Heim betreut, versorgt und erzogen wurden, weil sie keine Familie hatten. Eines von vielen Kindern, die schwere Verletzungen in sich tragen und versuchen (müssen), alleine damit zurechtzukommen.
Jorge ist ständig auf der Suche nach Akzeptanz, Zuneigung, Beachtung. Er möchte beeindrucken, stark sein und auch so wahrgenommen werden. Beim Tischtennisspiel ist es für ihn beinahe existenziell, zu gewinnen. So oft war er im Leben der Verlierer, hat als Kind alles verloren, was ihm Halt und Geborgenheit gegeben hat.
Einige Monate, bevor Jorge sein Heim verlassen musste, weil er volljährig war, wurde er in das Projekt Runayay aufgenommen und über dreieinhalb Jahre bei diesem schwierigen Schritt in die Selbständigkeit begleitet.
Auf ein selbständiges Leben in Würde vorbereiten
Das Jugendhilfe-Projekt RUNAYAY in Lima/ Peru wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, benachteiligte Jugendliche in ihrer ganzheitlichen Entwicklung zu fördern und sie auf ein selbständiges Leben in Würde vorzubereiten.
Das Projekt richtet sich an Jugendliche aus Lima, die in einem Heim gelebt haben und die Einrichtungen verlassen werden oder an ambulanten Projekten teilgenommen haben. Das Projekt bietet ihnen eine kontinuierliche individualpädagogische Begleitung an, die rekreative und produzierende Workshops, Kurse zur persönlichen Entwicklung, berufliche Orientierung und Schulung sowie individuelle Beratung, Psychotherapie, familiäre Begleitung und Freizeitaktivitäten umfasst. Die Jugendlichen werden bei der Integration in den Arbeitsmarkt und bei der Ausbildung unterstützt.
Jorge hat in Runayay ein Umfeld gefunden, in dem er akzeptiert wird, auch wenn er sich manchmal sehr herausfordernd verhält. In den inhaltlichen Workshops hat Jorge sich in praktischer, anschaulicher Gruppenarbeit mit Themen beschäftigt, die in seinem Leben wichtig sind: Selbstwert, Kommunikation, Gewalt, die eigene Biografie, Sexualität, u.v.m. Er hat sich mit seinen Stärken und Schwächen auseinandergesetzt und aus seinen Träumen Ziele entwickelt. Das war er früher nicht gewohnt, denn im Heim war alles vorgegeben, Jorge war Empfänger von Hilfen und Befehlen. In den Handarbeits- und Konditoreiworkshops hat Jorge geübt, das, was er sich vorgenommen hat, auch zu Ende zu bringen, sich an Vorgaben zu halten und Fehler zu korrigieren; Fertigkeiten, die er für die Arbeit benötigt. Am Boxsack, beim Sport und den kraftvollen peruanischen Tänzen hat er sich ausgetobt, seine Energie in geordnete Bahnen gelenkt und den Kopf für Augenblicke freibekommen von all den Ängsten und Schmerzen, die ihn begleiten und die er so selten mitteilt. Manchmal konnte er diese beim gemeinsamen Musizieren ausdrücken, auch wenn ihm Worte gefehlt haben, um das zu beschreiben, was in ihm vorging. Bei erlebnispädagogischen und kulturellen Aktivitäten konnte Jorge sich als Teil der Gemeinschaft von Runayay und als Teil der Gesellschaft erleben. Beim Stadt-Halbmarathon haben ihn hunderte Menschen angefeuert. Aber vor allem hat Jorge neue Freunde gefunden und viel mit den Mitarbeitern geredet, Ratschläge und Rückmeldungen erhalten, ein offenes Ohr gefunden, wenn er innerlich oder äußerlich in Not war. Er ist einer von vielen Jugendlichen, aber er wird als Einzelner wahrgenommen.
Durch kontinuierliche Arbeit seinen Lebensunterhalt selbst verdienen
Jorge hat es geschafft, durch kontinuierliche Arbeit seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Da er sehr modebewusst ist – er hebt sich durch seine schicke Kleidung von den „vielen“ ab, ist was Besonderes! – gibt er oft viel Geld aus, aber inzwischen nicht mehr, als er hat. Er zahlt selbst die Miete für das Zimmer, das er gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen bewohnt; ein einfaches Zimmer, ausgestattet mit Betten und einer einfachen Kommode und einem Fernseher, die sich die Jugendlichen selbst gekauft haben, das Bad mit einer kalten Dusche wird mit Nachbarn geteilt. Und Jorge hat eine Ausbildung zum Koch fast abgeschlossen. Kurz vor dem Abschluss ist er zu der Erkenntnis gekommen, dass ihm dieser Beruf nicht liegt. Oder ist er davor zurückgeschreckt, plötzlich „fertig“ zu sein, einen Beruf zu haben? Ein Beruf würde ihm Anerkennung, Akzeptanz, Respekt verschaffen – das, wonach Jorge sich so sehr sehnt! Intellektuell würde Jorge diesen Schritt leicht schaffen können. Aber er macht ihn nicht. Vielleicht ist es doch sicherer, in der vertrauten Menge der „vielen“ zu bleiben. Einer von vielen in Lima (Millionen!), die in angelernten Tätigkeiten arbeiten und keinen abgeschlossenen Beruf haben. Aber jenseits von äußeren Abschlüssen etc. ist Jorge sehr viel reifer geworden. Sein Verhalten hat er noch nicht immer unter Kontrolle, aber er hat gelernt, es zu reflektieren und kann sich auch manchmal eingestehen, dass er nicht perfekt ist. Seine Gefühle, sein Inneres, erlebt er nicht mehr grundsätzlich als bedrohlich, sondern es fällt ihm leichter, die Facetten seiner selbst als Teil von sich anzunehmen. Das erleichtert ihm auch den Umgang mit den Mitmenschen.
Mit Jorge werden ca. 30 Jugendliche und junge Erwachsene von Runayay betreut. Sie sind in Heimen aufgewachsen, weil sie ihre Familie nie kennengelernt haben, leben gemeinsam mit ihren konfliktreichen Familien in sehr armen Verhältnissen oder haben diese verlassen, weil sie zu schwierige Erfahrungen mit der Familie verbinden. Einige haben bereits als Jugendliche Kinder bekommen, die ihre Pläne durchkreuzt haben und nun ihre ganze Aufmerksamkeit brauchen. Allen Jugendlichen ist gemeinsam, dass sie wie Jorge den Entschluss gefasst haben, ihrem Leben eine positive Wendung zu geben, wofür sie einen großen Einsatz zeigen.
Wie Menschen mit Grenzerfahrungen umgehen
Mit neun Jahren habe ich zum ersten Mal von dem Arzt und Pädagogen Janusz Korczak gehört und war begeistert von diesem Menschen. Während meiner Jugend in Hamburg habe ich mich intensiv mit diesem Menschen und den daran anknüpfenden Fragen um die Lebensrealität der Menschen im Dritten Reich, pädagogischen und religiösen Themen beschäftigt. Wie Menschen mit Grenzerfahrungen umgehen und sie bewältigen, hat mich sehr interessiert. Die Frage, wie Kinder und Jugendliche, die ohne familiären Rückhalt aufwachsen, unterstützt werden können, wurde zu einem ständigen Begleiter, der sich mal drängender, mal eher im Hintergrund zeigte. Mit der Holzplastik „der Opfertod des Janusz Korczak“, meiner Jahresarbeit in der 12. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in den Waddörfern, kam dies vorerst zu einem Abschluss.
Seit meiner ersten Peru-Reise
Seit meiner ersten Peru-Reise im Jahr 1997, auf der ich erstmals von der Armut, aber auch von dem Umgang der mittellosen Menschen mit ihrer Situation beeindruckt wurde, hat mich dieses faszinierende Land nicht mehr losgelassen. Die Eindrücke, die ich auf meinen Reisen, bei Praktika und bei der Begleitung eines kleinen Projektes gesammelt habe, haben meine Berufswahl und auch die Wahl meiner Spezialisierung wesentlich beeinflusst. 2007 habe ich erstmals vom Projekt Runayay gehört – durch „Zufall“ – als das Projekt gerade gegründet worden war.
Den lange vorgehabten Schritt endlich in die Tat umgesetzt und nach Lima gezogen
Der ganzheitliche Ansatz und die ganz auf jeden Jugendlichen individuell ausgerichtete Begleitung hat mich überzeugt und bot eine wirksame Antwort auf die Nöte, die ich in den verschiedenen Aufenthalten in Peru gesehen hatte.
Gleich beim ersten Kennenlernen haben mich die beiden Gründerinnen, Verena Böhling und Rosario Quillas, nach einer möglichen Mitarbeit gefragt. In den verbleibenden Jahren meiner Facharzt-Weiterbildung in Baden-Württemberg hat mich diese Frage begleitet und ich habe meine Weiterbildung auch danach ausgerichtet. 2012 habe ich den lange vorgehabten Schritt endlich in die Tat umgesetzt und bin nach Lima gezogen, um dort zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, einen Therapiebereich in Runayay aufzubauen. Ich unterstütze die Jugendlichen durch Psychotherapie, damit sie ihre inneren Verletzungen soweit heilen können, dass sie emotional die notwendige Grundlage haben, die durch Runayay eröffneten Chancen zu nutzen.
Das Projekt Runayay wird ausschließlich durch Spenden finanziert.
Dr. Carola Flurschütz
Förderverein: Runayay e.V.;
GLS-Bank; IBAN: DE17 4306 0967 4031068700; BIC: GENODEM1GLS
www.runayay.org