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Der Erste Weltkrieg – vor hundert Jahren und heute
Artikel von Andreas Bracher, Historiker
Der Beginn des Ersten Weltkriegs liegt dieses Jahr hundert Jahre zurück. Schon seit etwa einem Jahr hat dieses Jubiläum seine Schatten in der deutschen Öffentlichkeit vorausgeworfen. Der Krieg ist die „Urkatstrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts“ genannt worden. Er war ein Krieg in einem Maßstab und mit einer Zerstörungskraft, der alles weit in den Schatten stellte, was es bis dahin in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte.
Andreas Bracher, geboren 1959, ist ein frei schaffender Historiker mit anthroposophischen Interessen. Publizistisch und in Vorträgen hat er sich besonders mit der Geschichte des letzten Jahrhunderts befasst. U.a. ist er (gemeinsam mit Thomas Meyer) der Herausgeber zweier Bände mit Dokumenten zum Leben Helmuth von Moltkes d.J. Bracher lebt derzeit in Boston in den USA, davor war er lange Jahre in Hamburg beheimatet.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs liegt dieses Jahr hundert Jahre zurück. Schon seit etwa einem Jahr hat dieses Jubiläum seine Schatten in der deutschen Öffentlichkeit vorausgeworfen. Auf den Buch-Bestsellerlisten des letzten Jahres standen anspruchsvolle akademische Bücher wie dasjenige des australischen Historikers Christopher Clark oder des deutschen Professors Herfried Münkler. Der Krieg ist die „Urkatstrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts“ genannt worden. Er war jenes Ereignis, das die Dinge in Europa und der Welt so weit ins Rutschen brachte, dass dann Erscheinungen wie die kommunistisch-marxistischen Regime oder die Welle der faschistisch-autoritären Regime nachfolgen konnten. Er war ein Krieg in einem Maßstab und mit einer Zerstörungskraft, der alles weit in den Schatten stellte, was es bis dahin in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte. Er hat Haß geschürt und eine Propaganda hervorgebracht, die in ihrer massiven Brutalität, moralischen Niedrigkeit und diabolischen psychologischen Geschicklichkeit keine Vorläufer hatte. Er hat vielleicht zum ersten Mal das Phänomen der Meinungsepidemien hervorgebracht, wie es dann für unsere Gegenwart so häufig geworden ist. Für Deutschland speziell erscheint er wie die Urkatastrophe seiner speziellen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert: er war das Ei, aus dem das häßliche Monster des Nationalsozialismus herausgekrochen kam; er war der Beginn jener Konstellation, in der Deutschland wie eine Pariahnation innerhalb der Menschheit stand und behandelt wurde; erst langsam wurde es dann wieder zu einem – (im Urteil der Außenstehenden) immer Rückfall gefährdeten – Rekonvaleszenten.
Der Erste Weltkrieg begann zu einer Zeit, als die europäische Menschheit in nie da gewesenem Stolz auf sich selbst und ihren „Fortschritt“ schaute. Als er nach viereinhalb Jahren zu Ende ging, hinterließ er ein materiell und seelisch zerstörtes, zerrüttetes und zutiefst verunsichertes Europa, einen Kontinent, der sich seitdem nie mehr zu seiner bis dahin bestehenden Menschheitsbedeutung aufschwingen konnte. Für die Menschen in Asien, die aus der Ferne ungläubig auf diese Orgien des Mordens und der Zerstörung schauten, wurde er der wichtigste Anlass, sich innerlich von Europa abzuwenden. Für Amerika (die USA) wurde es der Anfang seines triumphalen Aufstiegs zur Weltführungsmacht. Sein Präsident Wilson wurde am Ende des Krieges 1918 in Europa wie ein Messias mit einer Gläubigkeit empfangen wie niemals ein Mensch zuvor. Weil Europa nach über vier Kriegsjahren ratlos vor seiner eigenen Barbarei stand, übergab es sich gewissermaßen willenlos dem amerikanischen Heilsbringer.
Es war eigentlich nie wirklich klar, worum es ging
Es kennzeichnet den Ersten Weltkrieg, dass ungeheure Menschenmassen mit einer nie da gewesenen Hingabe – und mit einem nie da gewesenen physischen Opfermut – über mehr als vier Jahre hinweg gekämpft haben, ohne dass eigentlich wirklich klar war, worum es ging. Der Erste Weltkrieg hat schon zu der Zeit, als er im Gange war, eine ungeheure Menge an Erklärungsliteratur hervorgebracht. Das war ein Zeichen dafür, dass offenbar erklärungsbedürftig war, worum hier eigentlich gekämpft wurde.
Georg Simmel, der Philosoph und Soziologe, schrieb in einem Brief im Oktober 1914: „Es gibt keinen Menschen in Deutschland, vom Kaiser bis zum ärmsten Krüppel in einem abgelegenen Dorf, der nicht wüsste, dass Deutschland nur Krieg führt, wenn es durch die unausweichlichste Notwendigkeit dazu gezwungen ist. Ein Volk, von dem jeder wehrhafte Mann ins Feld zieht, wo nicht eine einzige Familie ist, die nicht um den Vater, die Söhne, die Freunde zu sorgen oder zu trauern hätte, ein Volk, das nach keinem Besitz seiner Nachbarn Begehr hat und durch einen Krieg nichts zu gewinnen hat – ein solches Volk wäre nicht nur verbrecherisch und selbstmörderisch, wenn es freiwillig einen Krieg begönne, sondern geradezu irrsinnig.“ Das war subjektiv zweifellos ehrlich geschrieben. Und doch haben umgekehrt die Mächte der Entente, der entgegenstehenden Kriegskoalition, den Krieg damit begründet, dass es gälte, einen deutschen Griff nach der Weltmacht, eine aggressiv auf Expansion und Eroberung gerichtete deutsche Politik und einen deutschen Angriffskrieg zu stoppen.
Es hängt mit dieser Unklarheit zusammen und kennzeichnet den Ersten Weltkrieg auch, dass die „Schuldfrage“ in ihm eine Rolle zu spielen begann wie in keinem Krieg vorher. Normalerweise hat man Kriege um die Frage herum zu verstehen versucht „Worum geht es hier?“, „Worum wird hier gekämpft?“ Bezüglich des Ersten Weltkriegs aber hat sich das auf die Fragen verengt, „Wer hat angefangen?“, und – noch kindischer – „Wer ist schuld?“ (Eltern haben normalerweise die Erfahrung, die Bedeutung dieser Art von Fragen richtig einschätzen zu können.)
Eine gifterfüllte Atmosphäre wurde erzeugt
Die Verbindung eines so ungeheuerlichen Geschehens mit Millionen von Toten, Millionen von Krüppeln und einer ungeheuren zurückgelassenen materiellen und seelischen Verwüstung einerseits mit einer so kleinlichen Art, darüber zu verhandeln und sich darüber zu äußern andererseits, hat jene gifterfüllte Atmosphäre erzeugt, in der nach dem Weltkrieg dann Bewegungen wie der Nationalsozialismus in Deutschland entstehen und groß werden konnten.
Wegen der Art seines Kriegsplanes erschien Deutschland im Ersten Weltkrieg als der Angreifer; und da dieser Kriegsplan den Durchmarsch durch das an sich unbeteiligte Belgien als eine unausweichliche militärische Notwendigkeit vorsah, sogar als ein besonders rücksichtsloser Aggressor. Aber wenn es als derjenige Staat erschien, der den Krieg anfing, so war das in einer Situation, in der es sich – durch die angelaufene russische Mobilmachung – dazu gezwungen fühlte.
Eine der entscheidenden Personen auf deutscher Seite war Helmuth von Moltke d.J., der bei Kriegsausbruch Generalstabschef war, d.h. der höchste deutsche Militär. Moltke war ein guter Bekannter Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie, seine Frau war Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Moltke legte in einem Memorandum am 28. Juli 1914 dar, warum die Lage in eine Richtung driftete, in der sich Deutschland in wenigen Tagen dazu gezwungen sehen würde, Kriegserklärungen auszusprechen. Er hatte die Situation als eine geschickt eingefädelte Intrige begriffen, die Deutschland dazu zwingen sollte, entweder die verbündete Habsburger Monarchie fallen zu lassen und kampflos zu kapitulieren, oder in einem Krieg als Angreifer dazustehen. Es kann kein Zweifel sein, dass Moltke in seiner Lageeinschätzung ehrlich war und es kann nur wenig Zweifel daran bestehen, dass er auch realistisch war. Moltke war in keiner Weise ein kriegssüchtiger Militär oder jemand, der leichten Herzens Menschen in den Tod schickte.
Moltke selbst war letztlich ein zentraler Mann, als es am 31. Juli und 1. August 1914 dann darum ging, die schwer wiegendsten Entscheidungen über Krieg und Frieden zu treffen. Diese Tage gaben ihm einen schweren Schock, als er sah, mit welcher konfusen, leichtherzigen und unverantwortlichen Geistesverfassung der Kaiser Wilhelm II. und seine Umgebung die Situation behandelten. Den anschließenden Feldzug führte Moltke nur bis in den September 1914, danach wurde er vom Kaiser kaltgestellt.
„Die furchtbare Schwierigkeit unserer Lage steht oft wie eine schwarze Wand vor mir“
Einige Ausschnitte aus Briefen an seine Frau vom August und September 1914, der Anfangszeit des Krieges, können einen Eindruck von seiner inneren Verfasstheit zu dieser Zeit geben: „Ich bin froh, für mich zu sein und nicht am Hofe. Ich werde ganz krank, wenn ich dort das Gerede höre, es ist herzzerreißend, wie ahnungslos der hohe Herr über den Ernst der Lage ist. Schon kommt eine gewisse Hurrastimmung auf, die mir bis in den Tod verhasst ist. (…) Welche Ströme von Blut sind schon geflossen, welcher namenlose Jammer ist über die ungezählten Unschuldigen gekommen, denen Haus und Hof verbrannt und verwüstet ist. Mich überkommt oft ein Grauen, wenn ich daran denke, und mir ist zumute als müsste ich dieses Entsetzliche verantworten, und doch konnte ich nicht anders handeln, als ich getan habe. (…) Ich kann es schwer sagen, mit welcher namenlosen Schwere die Last der Verantwortung die letzten Tage auf mir gelastet hat und noch lastet. (…) Die furchtbare Schwierigkeit unserer Lage steht oft wie eine schwarze Wand vor mir, die undurchdringlich scheint.“ Nach seiner Kaltstellung wurde Moltke zu einem persönlichen Schüler Rudolf Steiners. Mit tiefer Verzweiflung sah er den Fortgang des Krieges. Er starb, in der Mitte des Krieges, am 18. Juni 1916, wie Rudolf Steiner sagte, an „gebrochenem Herzen“.
Charakteristisch für Moltke ist, dass er in der Zwischenkriegszeit und bei den Nazis zu einem Schwächling umgedichtet wurde, der für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen wäre. Heute dagegen wird er von manchen zu einem Hauptschuldigen für seinen Ausbruch hinstilisiert.
Im Versailler Vertrag 1919 wurde die „alleinige Verantwortung“ der Mittelmächte für den Krieg in einem speziellen Paragraphen festgeschrieben. Rudolf Steiner hat die Mittelmächte gegen diese Art der politischen Schuldzuweisungen verteidigt, aber er hat die Schuld des Deutschen Reiches auf einer anderen Ebene gesehen. Dieses Deutsche Reich hatte nach seiner Einigung von 1871 technisch, industriell und demographisch eine rasante Entwicklung genommen. Es war der mächtigste Staat Europas geworden. Es war im Begriff, so mächtig zu werden, dass es immer mehr eine in ganz Europa dominierende Stellung eingenommen hätte. In dem, was in der Welt Geltung und Reichtum verschaffte, war Deutschland außerordentlich erfolgreich. In England hatte man in den 1890er Jahren, um sich der deutschen Konkurrenz zu erwehren, das Prädikat „Made in Germany“ eingeführt, das die Menschen davor warnen sollte, deutsche Waren zu kaufen; binnen weniger Jahre war es aus einem Warnprädikat zu einem Werbeprädikat geworden.
Aber man konnte das übrige Europa verstehen, wenn es in der Perspektive einer deutschen Dominanz dennoch keine Hoffnung, sondern eher eine Drohung sah. Dieses Reich hatte sich in seiner Entwicklung fast vollständig von der älteren, idealistischen deutschen Kulturbewegung der Goethezeit ab- und einem reinen Materialismus und Machtglauben zugewandt. In der Nachfolge dieser idealistischen Kulturbewegung stand auch die Anthroposophie, die ja aus Rudolf Steiners Beschäftigung mit Goethe hervorgewachsen ist. Es wäre in der Nachfolge dieser idealistischen Kulturbewegung gewesen, dass Deutschland eine wirklich befruchtende Wirkung auf das übrige Europa hätte ausüben können. Mit seinem Macht-Materialismus musste es dem übrigen Europa als ein Fluch und als eine Gefahr erscheinen.
Rudolf Steiners Einsicht und sein grundlegender Impuls war es, dass die Menschheit nach einer Zeit eines notwendigen Materialismus sich wieder der geistigen Welt zuwenden, wieder idealistisch werden müsste, weil sie sich sonst von ihren eigenen Lebensquellen abschneidet und langsam vertrocknet. Er hat den Ersten Weltkrieg als geboren aus dem „Karma“ dieses immer weiter um sich greifenden Materialismus verstanden. Der Krieg wurde dadurch für ihn zugleich zu einem Aufruf, sich von diesem Materialismus wieder abzuwenden, er wurde zu einem Sinnbild dessen, was aus der Menschheit unter dem Einfluss dieses Materialismus wird.
Heute ist Deutschland in Europa wieder die führende Macht geworden. Es ist dies in einem Europa, das sich nach den zwei Weltkriegen und unter dem Schatten der USA zu einer europäischen Union zusammengeschlossen hat. Deutschland interpretiert seine Führungsrolle heute weitgehend im Materiellen. Es will Europa als eine Wohlstands-Gemeinschaft, eine Gemeinschaft der Wohlhabenden, erhalten, bzw. noch mehr dazu machen. Mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche will es die europäischen Völker auf den Weg des Wohlstands, der „Wettbewerbsfähigkeit“, bringen. Ob es damit der tieferen Sehnsucht der europäischen Völker gut dient, ist eine andere Frage; und auch, ob Europa damit jene Rolle in der Menschheit erfüllen kann, die ihm eigentlich vorgezeichnet erscheint: die einer Mitte, einer Mitte wahrer Menschlichkeit zwischen materialistischer Selbstvergessenheit und quasi-religiöser Verrücktheit.