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Imagination, Inspiration, Intuition
Stufen spiritueller Entwicklung
Interview mit Steffen Hartmann, Pianist, Autor und Seminarleiter
Immer wieder gebrauchen wir im Alltag Worte wie „das inspiriert mich“, „meine Intuition ist …“, „ich imaginiere etwas“. Nach Rudolf Steiner sind Imagination, Inspiration und Intuition Erkenntnisstufen auf dem meditativen Weg, die auf einem normalen und gesunden Bewusstsein aufbauen.
Imaginatives Bewusstsein ist ein intensiviertes Vermögen, etwas so in die innere Anschauung zu bringen, dass man die bildende Kraft dahinter bemerkt. Die Inspiration ist ein umgearbeitetes Hören, so dass man tiefer lauscht auf das, was sich eigentlich aussprechen möchte. Bei der Intuition handelt es sich um eine „umgewandelte Liebesfähigkeit“, man erkennt die Aufgabe, die man hier und jetzt zu tun hat.
Das alles sind Fähigkeiten, so Steffen Hartmann, die wir heute im Sozialen brauchen.
Steffen Hartmann studierte Klavier in Hamburg bei Karin van Buiren. Als Liedbegleiter besuchte er Meisterkurse bei Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau. Eine intensive Zusammenarbeit verbindet ihn mit der Sopranistin Marret Winger. 2007 gründete er das Institut MenschMusik Hamburg, zusammen mit Matthias Bölts, das neue Wege in der Musikerausbildung beschreitet. Steffen Hartmann schreibt regelmäßig Aufsätze zu Grundfragen der Anthroposophie, zu Meditation und Musik. Zusammen mit Torben Maiwald gründete er die Edition Widar, in der unter anderem die Bücher „Wege zum Geist“ , „Von der Philosophie zur Anthroposophie“, „Aus Widars Wirken“ (und „Geistesgegenwart und Schöpferkraft“ (zusammen mit Anton Kimpfler, 2015) von ihm erschienen sind. Seit 2012 ist er im Zweig am Rudolf Steiner Haus Hamburg verantwortlich tätig; damit verbunden ist eine intensive, überregionale Vortrags- und Seminartätigkeit.
Christine Pflug: Wie bist du zu den Themen Schulungsweg und Meditation gekommen?
Steffen Hartmann: Als ich als Schüler mit ca. 16 Jahren begonnen hatte, Rudolf Steiner zu lesen, war mir schnell klar, dass ich es nicht nur beim Lesen belassen wollte. Anfang zwanzig traf ich die bewusste Entscheidung, den Weg der Übungen und der Meditation zu gehen. Als Musiker lag es mir nah zu üben. Nachdem ich das viele Jahre für mich verfolgt hatte, wurde ich von außen gefragt, ob ich nicht Meditation unterrichten könnte. Das hat sich in den letzten Jahren als Tätigkeitsfeld verstärkt.
Die Stufen gründen auf dem gewöhnlichen, gesunden Bewusstsein
C. P.: Imagination, Inspiration und Intuition sind bestimmte Aspekte des Schulungsweges. Beschreibe doch zunächst: Was ist das im Sinne Rudolf Steiners?
S. Hartmann: Rudolf Steiner hat diese Erkenntnisstufen so entwickelt, dass sie auf dem gewöhnlichen, gesunden Bewusstsein aufbauen. Er beschreibt das imaginative Bewusstsein als ein intensiviertes und durchgearbeitetes Vermögen, etwas in die innere Anschauung zu bringen, wo es beginnt sich urbildhaft zu zeigen. Die Inspiration ist ein intensiviertes umgearbeitetes Hören. Ich lausche tiefer auf das, was sich eigentlich aussprechen möchte. Bei der Intuition ist es eine „umgewandelte Liebesfähigkeit“ – wenn die Liebe zur Erkenntniskraft wird, kann ich intuitiv erfassen, vielleicht in Bezug auf einen anderen Menschen, was jetzt wesenhaft und existenziell dran ist.
C. P.: In welchen Schriften stellt das Rudolf Steiner dar?
S. Hartmann: In seinem Hauptwerk zum Schulungsweg „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ kommen diese drei Begriffe (Imagination, Inspiration und Intuition) erstaunlicherweise gar nicht vor. Gleichzeitig gibt er ganz viele Übungen, wie man z. B. im Pflanzenreich die Imagination schulen kann oder durch das Zuhören auf Tier- oder Menschenstimmen die Inspiration entwickeln kann. Es gibt einen zweiten Band, wie eine Art Fortsetzung, „Die Stufen der höheren Erkenntnis“ und darin werden diese drei Erkenntnisstufen klar so genannt. Steiner beschreibt dort das gewöhnliche Bewusstsein, das er auch gegenständliches Bewusstsein nennt, weil es sich die Dinge zum Gegenstand macht, und darauf aufbauend das imaginative Bewusstsein, bei dem man viel mehr in eine innere Aktivität und Bewegung kommen muss.
C. P.: Bauen diese Stufen nacheinander auf oder können sie gleichzeitig auftreten?
S. Hartmann: Ich würde unterscheiden, auch aufgrund meiner Erfahrungen mit anderen Menschen, dass einerseits Menschen eine Begabung, also eine mitgebrachte Hellsichtigkeit haben, und so etwas wie die Aura oder Elementarwesen unmittelbar wahrnehmen können. Das andere ist, dass man sich auf einem meditativen Weg diese Fähigkeiten schrittweise erringt. Aber das kann sehr individuell sein in der Abfolge und der Durchdringung verschiedener geistiger Erlebnisse.
C. P.: Wie kann man Imagination erleben?
S. Hartmann: Ein einfaches Beispiel wäre, wenn ich abends auf meinen Tag zurückschaue und etwas erinnere, was ich am Morgen erlebt habe und dann ein anderes Ereignis, das ich am Abend erlebt habe, und plötzlich bemerke: Das hat ja miteinander zu tun! Das eine Ereignis steht mit dem anderen in einem sinnvollen Zusammenhang.
Vielleicht führe ich morgens ein Gespräch mit meiner Frau über ein bestimmtes Thema, und nachmittags kommt mir in der Begegnung mit einem Studenten der Inhalt dieses Gesprächs wieder entgegen. Wenn ich im Nachhinein darauf zurückblicke, merke ich, dass etwas zusammenklingt. Vielleicht sieht man sogar, dass das eine wie eine Antwort ist auf das, was vorher mehr als Frage da war. Es ist allerdings in meine Freiheit gestellt, ob ich diesen Zusammenhang bemerke oder ob ich ihn verschlafe.
Wenn ich im inneren Anschauen einen sinnvollen Zusammenhang schaffe.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass im Zurückblicken auf einen Tag oder eine Woche, zunächst unscheinbare Ereignisse anfangen können zu sprechen, indem ich sie im Kontext mit anderen wahrnehme. Das ist eine anfängliche Form von aktiver Imagination, wenn ich im inneren Anschauen einen sinnvollen Zusammenhang schaffe.
C. P.: Verstehe ich einen Zusammenhang, der schon da ist, oder bilde ich ihn neu?
S. Hartmann: Manchmal ist vielleicht beides der Fall! Dazu ein anderes Beispiel, wie man durch eine spezielle Übungen zu einer aktiven Imagination kommen kann: Ich stelle mir eine quadratische Fläche vor, und in meiner Vorstellung lege ich zwei Diagonalen hindurch. Dann entsteht ein Kreuzungspunkt genau in der Mitte vom Quadrat. Als Übung kann ich diesen Punkt senkrecht anheben, ich lasse ihn sozusagen in die dritte Dimension wachsen, es entsteht eine Art Pyramide, erst klein und flach, und dann wird sie immer größer und spitzer. Ich kann innerlich bestimmen, wie schnell und bis wohin dieser Punkt wandert, ich kann ihn auch wieder zurückwandern lassen und ihn in der Fläche „versenken“, so dass die Pyramide weg ist und wieder das anfängliche Quadrat erscheint. Das ist eine Übung, bei der ich konstruiere und gleichzeitig anschaue, was ich konstruiere. Wenn man das übt, merkt man, wie schwierig es ist, das zu bilden und zu halten – doch daran stärkt sich die Kraft, die man zur Imagination braucht.
Ähnlich wie bei dem ersten Beispiel ist das ein sinnvoller, ja gesetzmäßiger Zusammenhang, den ich aber innerlich hervorbringen muss, um ihn zu erfassen. Das wäre auch ein möglicher Übergang in das imaginative Erleben.
C. P.: Wenn man in einem beruflichen Kontext, z. B. als Designer sich das vorstellt, was man schaffen will: Ist das eine Imagination oder eine Vorstufe dazu?
S. Hartmann: Immer, wenn aus einer schöpferischen Phantasie heraus etwas produktiv geschaffen wird, was es vorher noch nicht gab, ist ein imaginativer Anteil dabei. Im künstlerischen Prozess ist er stärker erlebbar, als wenn es um ein Produkt geht, bei dem der ökonomische Gedanke im Vordergrund steht.
Visualisieren?
C. P.: Es gibt heute Literatur, aber es ist auch allgemein bekannt, dass man das, was man erreichen möchte, „visualisieren“ kann oder soll. Ist das auch eine Vorstufe zur Imagination?
S. Hartmann: Ich glaube, dass das eine Vorstufe ist, aber so wie ich es kenne, als „Wunsch ans Universum“ oder „Weg zum Glück“, sehe ich eine Gefahr darin: Wenn man zu sehr Zweck- oder Wunschgedanken hineinbringt in die Meditation, dann zieht sich die geistige Welt zurück. Ich würde sagen, die wirkliche Imagination beginnt da, wo ich mich erwartungslos dem zur Verfügung stelle, was sich bildhaft aussprechen will. Ich erlebe das auch in der Natur mit den Elementarwesen so: Wenn ich zu zielstrebig darauf zugehe, dass ich ein bestimmtes Elementarwesen wahrnehmen will, dann kann ich das nicht. Wenn ich aber mit Offenheit und mit wirklichem Interesse mich einem Baum zuwende, kann es sein, dass ich das Baumwesen wahrnehme. Das geht oft blitzschnell. Aber nach meiner Erfahrung ist es kein Automatismus; es ist immer wieder neu und anders.
C. P.: Ist das vergleichbar damit: Wenn man von einem anderen Menschen etwas erwartet, verweigert er bewusst oder unbewusst das zu geben?
Wenn man unbedingt etwas „haben“ will, verhüllt es sich.
S. Hartmann: Ja, genau, im Zwischenmenschlichen kommen wir im Grunde ganz schnell in den imaginativen Bereich und auch da ist der gleiche Effekt: Wenn man unbedingt etwas „haben“ will, verhüllt es sich. Wenn ich hingegen die Offenheit habe, dass sich etwas zeigen kann vom anderen Menschen, was ich selbst noch gar nicht kenne, dann kann ein Zukunfts-Bild, ja Urbildliches von diesem Menschen aufleuchten.
C. P.: Gehen wir weiter zur Inspiration: Wie geschieht diese – ansatzweise – im alltäglichen Leben?
S. Hartmann: Wenn wir beim Beispiel der sozialen Begegnung bleiben, könnte man den Satz formulieren: „Ich höre was, was du nicht sagst.“ Eigentlich haben wir heute alle, zunächst oft in negativer Weise, eine wie gegebene Inspirationsfähigkeit. Wir hören, was der andere mit rein sachlichen Worten gar nicht gesagt hat, was aber mitschwingt, vielleicht als Vorwurf, als Erwartung oder Wunsch. Ich habe den Eindruck, dass die Sensibilität für das, was zwischen den Worten lebt, immer stärker wird. Das ist auch eine Art „hören“.
In Konflikten ist es oft schwierig, diese Ebenen zu trennen: Was wurde faktisch wirklich gesagt und was schwingt inspirativ mit? Unter Umständen ist das viel stärker. Gerade weil wir das bei negativen, belastenden Dingen schon können, müssen wir umso mehr üben, das Wesenhafte und Positive hören zu lernen. Wie kann ich lernen so zuzuhören, dass der andere Dinge ausspricht, die ihn weiterbringen? Das hätte für mich mit Inspiration zu tun. Kann ich so interessiert, so offen lassend zuhören, dass der andere etwas aussprechen kann, was er vielleicht auch noch nicht im Bewusstsein hatte?
Imaginative Erlebnisse auslöschen, um einen Freiraum zu schaffen
Das hat etwas mit innerer Stille zu tun. Rudolf Steiner beschreibt, dass es darum geht, die imaginativen Erlebnisse wie wegzuräumen, auszulöschen, um einen Freiraum zu schaffen. Da ist dann nicht „Nichts“, sondern im Grunde wird man selber wie zu einer Art von Gefäß, man gibt einen Raum, in dem sich etwas aussprechen kann.
Das ist eine Grundgeste von Inspiration – ich erlebe sie vor allem im Herzraum.
C. P.: Setzt das voraus, dass man in der Meditation ein bestimmtes Bild erschaffen hat, das dann zur Seite stellt, um dann in den nächsten Raum der Inspiration zu kommen – also die Stufe, in der sich etwas aussprechen möchte?
S. Hartmann: Ja, es kann so gehen. Wenn man in der Meditation einen Satz meditiert, z. B. das Christuswort „Ich bin das Licht der Welt“, kann das etwas Plastisch-Bildhaftes bekommen. Das versucht man zu stärken. In der inspirativen Stufe räumt man das Bildhafte wie weg, man wird innerlich still, hält aber die Wachheit und die Kraft aufrecht, mit der man vorher in diesem Satz imaginativ gelebt hat.
C. P.: Wie kann man etwas, was man beispielsweise als Spruch hört, zusätzlich noch inspiriert hören?
S. Hartmann: Wenn ich mit einem Spruch von Rudolf Steiner oder einem Christuswort meditativ lebe, ist das auch ein innerliches Hören. Aber zunächst ist man auf einer imaginativen Stufe: Ich rufe wach und verstärke, was mir dieser Satz sagt. Ich lebe gestaltend darin, und das hat Prozesscharakter. Die inspirative Stufe würde beginnen, wenn ich vor dem Hintergrund eines längeren Übens innehalte, still werde und wie eine Art „Negativ-Raum“ schaffe: Ich lasse den Inhalt los und bleibe ganz in der Kraft, die ihn gebildet hat, anwesend. Die eine Gefahr ist nun, dass man in das gegenständliche Bewusstsein zurückfällt, oder dass man das Gefühl hat, „da ist ja nichts“. Aber meine Erfahrung ist, wenn man immer wieder an diese Grenze geht, kann es sein, dass etwas wie „erklingt“, was dann in diesen geschaffenen Hör-Raum hineintönt.
Wenn ich beispielsweise innerlich mit einem Problem umgehe, mache ich mir es zuerst ganz anschaulich, gestehe mir schließlich ein, dass ich keine Lösung habe und komme dadurch in diesen Stillemoment. Darin kann etwas kommen, was mich weiterführt. Das kann auch sehr überraschend sein. Es hat diese inspirative Qualität. Sie kann aber erst nach dem Moment des Still-Werdens – es kann auch eine Phase wirklicher seelischer Ohnmacht sein – eintreten.
C. P.: Das kennen wohl viele. Aber was ist der Unterschied zur Imagination?
Das Wesentliche daran ist meist eine Aufgabe
S. Hartmann: Die Imagination ist wie das „Sprungbrett“, es ist die erste Phase der Meditation, in der ich mich ganz einlebe in den Satz, in die Frage, das innere Bild. Dann kommt der Punkt, an dem ich das loslasse, damit etwas Neues hinzukommen kann.
Bei der Inspiration wird manchmal missverstanden, dass man ein „geistiger Radioempfänger“ sei: man hört Dinge, die andere nicht hören und ist dadurch im Vorteil. Meiner Erfahrung nach kann eine Inspiration zwar in Form von Worten festgehalten werden, das Wesentliche daran ist aber meist eine Aufgabe. Es ist also keine bloße Information, sondern man merkt, was man zu tun hat. Es gehört zu dem inspirativen Prozess für mich dazu, dass man in der Lage ist, dieser Aufgabe gerecht zu werden oder auch sich eingesteht, dass man es (noch) nicht schafft.
Die Imagination lässt mich mehr „in Ruhe“. Die Inspiration fordert mich moralisch eine Stufe stärker, in die entsprechende Handlung oder Lebenskonsequenz zu kommen.
Die entstehende Ohnmacht gestalten
C. P.: Sind das im normalen Leben Sternstunden? Kommt Inspiration im alltäglichen Leben vor?
S. Hartmann: In Begegnungen und Gesprächen habe ich das manchmal schon erlebt. Die imaginative Schicht könnte sein, dass sich jeder zunächst ausspricht und ein Bild davon entsteht, was ihn beschäftigt. Man hört sich das gegenseitig an, und es stehen dann diese „Bilder“ nebeneinander. Auf dieser Grundlage des Zuhörens und Vertrauens entsteht ein offener Raum, und es kann sein, dass das Ganze in Bewegung kommt. Der Übergang zur Inspiration kann dann darin bestehen, dass der eine dem anderen aus innerer Anteilnahme eine Frage stellt, durch die sich etwas öffnet und etwas Neues hinzukommt, was weiterführt. Da sehe ich den Übergang in eine inspirative Schicht, die voraussetzt, dass sich zuvor das Lebens-Bild aufgebaut hat. Und natürlich gelingt das oft nicht! Ich glaube, dass man auf dem anthroposophischen Schulungsweg lernen kann, die entstehende Ohnmacht zu gestalten. Wenn man sonst im Leben in die Ohnmacht kommt, läuft man davon, rastet aus, projiziert etwas auf den anderen usw. Auf dem Erkenntnisweg kann man lernen friedlicher damit umzugehen.
„Bauchintuition“?
C. P.: Nach den Stufen der Imagination und Inspiration kommt die Intuition. Was kannst du dazu sagen?
S. Hartmann: „Intuitiv“ ist ein schwieriges Wort, viele gebrauchen es im Sinne von „Bauchintuition“, d. h. man weiß einfach, was richtig ist. Da ist auch etwas Wahres dran, weil die „Bauchintuition“ etwas Wesentliches erfasst, aber man weiß nicht, wie man dahin gekommen ist. Rudolf Steiner baut den Weg so auf, dass man mit dem wachen Ich zur Intuition kommen kann. In einem Notizbuch von 1918 schreibt er in einem Satz, dass Intuition umgewandelte Liebefähigkeit sei, und zwar in dem Sinne, dass man sich ganz dem anderen Wesen hingibt. Bei Rudolf Steiner beginnt das interessanterweise im Denken, d. h. die Hingabe an das Denken nennt er auch Intuition. Die Idee kann sich in mir unmittelbar aussprechen durch denkendes Einssein mit ihr. Aber Intuition bezieht sich nicht nur auf das Denken. Ich habe beispielsweise ein Bild von dem anderen, durch eine Frage habe ich dann die Öffnung, dass etwas Neues dazu kommen kann. Das kann schließlich noch tiefer gehen, indem mich die Wunde des anderen so berührt, dass wie eine Art Liebe zu ihm erwacht. Der Übergang zur Intuition hat damit zu tun, dass die Dinge in den Willen kommen, es ist eine schöpferische Liebe.
Das, was Steiner Intuitionsfähigkeit nennt, ist eine Grundfähigkeit, die wir heute im Sozialen, auch in der Therapie brauchen. Ich finde es frappierend: Was vor hundert Jahren esoterischer Schulungsweg war, was man als Studium und Meditation für sich üben konnte, ist heute eine alltägliche existenzielle Herausforderung geworden.
Es kommt irgendwann als Lebensanforderung zurück.
C. P.: Kannst du auch dafür Beispiele nennen?
S. Hartmann: Mir ist an meinem eigenen Leben deutlich geworden, dass ich als junger Mensch mich für das Ideal der Freiheit begeistert habe und intensiv darüber nachgedacht habe. Es kamen dann später wie durch eine Art Schicksals-Bumerang im Leben Ereignisse auf mich zu mit der Frage: Wie ernst meinst du es mit der Freiheit? Ist das nur in deinem Kopf oder bist du wirklich in der Lage, aus Freiheit zu handeln? Diesen Zusammenhang habe ich in den letzten Jahren immer mehr beobachtet: Was man sich zunächst denkerisch oder meditativ erarbeitet, kommt irgendwann als Lebensanforderung oder existenzielles Problem zurück.
C. P.: Kann man sagen, dass die Konsequenzen meines Denkens und Handelns immer schneller in der eigenen Biografie auftreten?
S. Hartmann: Ja, ich denke, dass es selbst bis vor hundert Jahren noch mehr verteilt war auf zwei Inkarnationen. Was ich in dem einen Leben innerlich bewegt habe, kommt im nächsten Leben als Schicksal von außen auf mich zu. Heute geschieht das meiner Wahrnehmung nach viel schneller, schon innerhalb der jetzigen Inkarnation – nach ein paar Jahren, ja manchmal innerhalb von Wochen oder Monaten!
Christuswirksamkeit im Ätherischen
C. P.: Dieses „schneller auf mich zurückkommen“ geschieht dann – äußerlich betrachtet – durch Ereignisse, die nicht kausal ableitbar sind, sondern sich nach karmischen Gesetzmäßigkeiten bilden. Aber warum ist das heute so schnell?
S. Hartmann: Ich habe den Eindruck, dass das mit der Christuswirksamkeit im Ätherischen zu tun hat. Das Ätherische ist das Element, in dem die Dinge rhythmisch wiederkehren. Es schiebt sich heute zunehmend etwas in die Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit. Obwohl das einerseits viele Menschen in Krisen stürzt, macht mir das auch Hoffnung, weil es alle Menschen betrifft und uns von daher zwangsläufig als Menschheit zusammenführt. Wenn wir lernen, klarer zu sehen, dass dieses Phänomen uns alle verbindet, wird eine neue Bereitschaft kommen, sich gegenseitig zu helfen und aufeinander zuzugehen.
Das hat alles mit den höheren Erkenntnisstufen zu tun. Denn man braucht dazu die Fähigkeiten, sich immer wieder ein Bild zu machen, durch die Ohnmacht hindurchzugehen, die Bereitschaft, noch mal neu zu hören, und man kommt immer wieder in die Ich-Berührung, in der das Wesen erlebt wird. Das sind Prozesse, die sehr schnell ineinander übergehen können.