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Den Frieden finden – in sich und in der Welt
Zwei Hamburgerinnen bei der Shanti Leprahilfe in Nepal
Artikel von Annette Bopp
„Shanti ist der nepalesische Begriff für „Frieden“, und genau das ist eines unserer wichtigsten Ziele: wir wollen möglichst vielen bedürftigen Kindern und Erwachsenen in Nepal – Versehrten, Kranken, aus der Gesellschaft Ausgestoßenen – helfen, ihre Würde wieder zu erlangen. Indem wir ihnen ein Dach über dem Kopf geben, Nahrung, medizinische Versorgung und einen sinnerfüllten Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, die sie zuvor verstoßen hatte. Denn nur in diesem gleichberechtigten Miteinander kann Frieden entstehen.“ (Aus der Satzung der Shanti Leprahilfe e.V.)
Jeden Tag gegen 13 Uhr stehen Menschen geduldig Schlange im Innenhof eines großen Backsteinkomplexes unweit des internationalen Flughafens von Kathmandu. In Schüsseln und Henkelgefäße oder auch einfach in Plastiktüten lassen sie sich „Dal Bhat“ abfüllen, das Nationalgericht Nepals, bestehend aus Reis, Linsensuppe und Gemüse. Viele bringen auch gleich Kanister oder Messinggefäße zum Wasserholen mit. Denn der große, kaskadenartige Brunnen in der Mitte des Innenhofes spendet sauberes Trinkwasser – ein kostbares Gut inmitten der schmutzigen, lauten Metropole am Rande des Dachs der Welt. In den umliegenden Slums ist allein dadurch die Infektionsrate um 60 Prozent gesunken.
Der Innenhof gehört zur Station der Shanti Leprahilfe. Sie ist ein Zufluchtsort für Versehrte, Geschundene und Getretene: Menschen mit Behinderung, chronisch Kranke, von ihren Männern verstoßene oder schwer verletzte Frauen, Waisen, und vor allem Leprakranke, „Aussätzige“. Gäbe es Shanti nicht, würden sie in der Gosse landen und betteln müssen. Denn die hinduistische Religion lehrt, dass Verletzungen, Gebrechen und Krankheiten jeder Art eine Strafe der Götter sind. Demzufolge bedeutet jeder Kontakt mit diesen Menschen, jede noch so kleine Fürsorge für sie ein schlechtes Karma – und somit keine guten Voraussetzungen für eine glückliche Wiedergeburt. Weshalb chronisch Kranke aus ihren Familien und Dörfern verstoßen werden und sehen müssen, wo sie bleiben. Die meisten landen irgendwann in den Slums von Kathmandu – und sterben meist früh an Infektionen. Es sei denn, sie finden Shanti.
Es war die desolate Situation dieser erbarmungswürdigen Menschen, die Marianne Grosspietsch aus Dortmund veranlasste, aus dem Nichts heraus 1992 die Shanti-Leprahilfe zu gründen. „Damals lebten Leprakranke noch in Ghettos, in Käfigen, unter menschenunwürdigsten Umständen“, erzählt sie. „Mein christlich geprägtes Herz hat es nicht ertragen, das untätig hinzunehmen.“ Aus einer kleinen Initiative ist innerhalb der vergangenen 23 Jahre die größte private deutsche Hilfsorganisation in Nepal geworden. Shanti gibt rund 900 Menschen ein Dach über dem Kopf, versorgt sie mit Medizin, Nahrung und Wasser. Das Gemüse für die Küche stammt aus biologischem Anbau auf Shanti-eigenen Ländereien, deren Kauf mit Spenden anlässlich des 60. Geburtstags von Marianne Grosspietsch 2004 finanziert wurde. Auch die Briketts für die Kochstellen sind recycelt: Sie werden bei Shanti aus Papierabfällen und Sägespänen gepresst – so muss nicht für teures Geld Brennholz gekauft werden.
Vor allem aber erhalten die Menschen hier ihre Würde zurück – in den Reha-Werkstätten können sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen und sind Teil einer Gemeinschaft, die ein Gutteil zum Unterhalt der Einrichtung beisteuert. Viele von ihnen haben besondere Begabungen – im Malen der traditionellen Maitili-Fresken oder im Weben, Schreinern, Filzen, Perlenfädeln und anderen handwerklichen Tätigkeiten. Von Lepra gezeichnete Hände bedrucken zartes Nepal-Papier mit dekorativen Ornamenten oder basteln aus alter Bettwäsche kleine Engelchen. Zwei durch Kinderlähmung querschnittgelähmte Silberschmiede fertigen aus Glasresten und Silber nach eigenen Entwürfen dekorativen Schmuck. Alle auf diese Weise hergestellten Produkte werden in Deutschland und der Schweiz auf Weihnachtsmärkten, Basaren und bei Wohltätigkeitsveranstaltungen verkauft. Der Erlös kommt in vollem Umfang Shanti zugute.
Neben den Kranken und Bedürftigen stehen vor allem die Kinder im Mittelpunkt der Arbeit bei Shanti. Denn sie sind die Zukunft – in Nepal ebenso wie überall auf der Welt. Dass sie ordentlich gekleidet sind, genug zu essen bekommen, in hygienischen Verhältnissen aufwachsen und eine gute Schulausbildung bekommen, ist eines der wichtigsten Ziele von Shanti. Der Waldorf-Kindergarten kümmert sich um die Kleinen, zehn Lehrerinnen unterrichten die 120 Kinder in der Shanti-Waldorf-Schule in Budhanilkanta, 20 km vor den Toren Kathmandus mitten im Grünen gelegen. Alle Kinder werden ab Klasse 1 zweisprachig unterrichtet, auf Nepali und Englisch. Die meisten besuchen ab Klasse 6 die weiterführenden Schulen, viele bestehen den staatlichen Schulabschluss mit Bravour.
Alle Shanti-Bewohner erhalten ein Grundeinkommen. Indem sie zusätzliche Aufträge annehmen, zum Beispiel von Besuchern oder Volontären, können sie sich noch etwas dazuverdienen. Sind sie zu alt, um sich in dieser Weise noch produktiv am Shanti-Leben zu beteiligen, zahlt Shanti ihnen eine kleine Rente. Die meisten helfen dann in der Klinik mit oder kümmern sich um pflegebedürftige Patienten. Auf diese Weise können die Menschen trotz ihrer Behinderungen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, sie erfahren Wertschätzung, und ihr Leben erhält einen neuen Sinn.
Eine so große Organisation mit so vielfältigen Aufgaben wie Shanti ist dankbar für jede Unterstützung – und mittlerweile haben schon ganze Generationen von Volontären auf freiwilliger Basis soziale Arbeit bei Shanti geleistet. Sie kommen vorwiegend aus Deutschland, aber auch aus Skandinavien, USA, Kanada oder anderen Ländern der Erde. Und aus Hamburg. Wie Donata Nebel und Anna-Lisa Gebhardt.
Freiwillige Helfer aus aller Welt
Donata, 20 Jahre alt und ehemalige Schülerin der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt, hat 2014 Abi gemacht und sich dann „Project Peace“ angeschlossen, einer Organisation für ein Bildungs- und Entwicklungsjahr zu Frieden, Ökologie und nachhaltigem Lebenswandel. Unter dem Motto „Mein JA!hr für die Welt“ engagieren sich junge Erwachsene in verschiedenen Projekten in aller Welt. Dazu gehört auch, ein halbes Jahr „UnterwegsZeit“ in einer Zukunftsinitiative irgendwo auf der Welt zu verbringen. „Mein Eurythmielehrer hat mich auf Shanti aufmerksam gemacht“, berichtet Donata. „Ich habe mich dann auf der Homepage näher mit Shanti befasst und war sofort begeistert. Shanti entspricht dem, was Project Peace sich als Aufgabe gestellt hat: Wie finde ich Frieden in mir und wie finde ich Frieden auf der Welt?“ Bis Mai 2015 wird Donata noch bei Shanti bleiben.
„Hier ist es für diese Kinder schon ein großes Glück, dass es überhaupt eine Einrichtung wie Shanti gibt“
Anna-Lisa hat schon 2010 auf dem Gymnasium Heidberg in Hamburg-Langenhorn Abitur gemacht und war danach zwei Jahre in Südafrika. Seit 2012 studiert sie in Regensburg musik- und bewegungsorientierte soziale Arbeit und absolviert bei Shanti ihr sechsmonatiges Praktikum im sozialen Bereich. Die Auslandskoordinatorin der Uni hat sie auf die Station in Nepal aufmerksam gemacht. Für Anna-Lisa heißt es schon im März wieder Abschied nehmen von Nepal, und sie mag gar nicht daran denken. Die behinderten Kinder, mit denen sie ebenso wie Donata vor allem arbeitet, sind ihr ans Herz gewachsen. „Wir waschen und füttern sie, wir singen mit ihnen, bewegen sie und versuchen sie zu fördern und zu stimulieren“, erzählt sie. „Eine gezielte Förderung wie hier in Deutschland gibt es in Nepal nicht – hier ist es für diese Kinder schon ein großes Glück, dass es überhaupt eine Einrichtung wie Shanti gibt, sonst würden sie schon als Säuglinge oder Kleinkinder verhungern oder an Krankheiten sterben. Es gibt hier ja keine Akzeptanz für Menschen mit Behinderungen, und es gibt auch kein Verständnis dafür, dass man mit ihnen zusammen ist, sie versorgt und unterstützt. Das war für uns anfangs schon ein ziemlicher Schock.“
„Mein Praktikum bei Shanti zu verbringen, war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe!“
Für beide war es auch ungewohnt, so selbstständig zu arbeiten, wie es die Volontäre bei Shanti tun. „Wir sind hier weitgehend auf uns selbst gestellt, es gibt keine Anleitung für das, was wir tun – aber gerade das ist letztlich die große Chance! Wir suchen uns die Aufgaben selbst, wir haben sehr viel Freiraum – das ist nicht einfach, wenn man gewohnt ist, dass man macht, was einem gesagt oder gezeigt wird! Es kann Menschen auch überfordern. Ich finde es allerdings großartig – mein Praktikum bei Shanti zu verbringen, war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe! Ich liebäugele schon damit, im Sommer für zwei Monate zurückzukommen …“
Auch Donata sagt: „In den ersten zwei Wochen war ich heillos überfordert mit dieser Freiheit. Niemand hat mich kontrolliert, es gab keine Struktur, in die ich mich einfügen musste. Aber ich habe schnell meine Aufgabe und meinen Platz gefunden. Shanti hat mich in meiner Eigenverantwortung gefordert. Ich kann mich überall einbringen, wo ich es möchte und wo es mir Freude macht. Ich werde vermutlich in den nächsten Jahren nie wieder so frei sein wie hier!“
Mit dem Mangel leben, das Beste draus machen und ständig improvisieren – das ist Alltag in Nepal. „Manchmal habe ich das Gefühl, als löschen wir zwar das Feuer, aber die Glut bleibt“, sagt Donata. „Wir haben zum Beispiel oft keine Gummihandschuhe und keine Seife. Dann gibt es beides plötzlich im Überfluss, bis wieder wochenlang Ebbe ist. Aber so ist Nepal. Unberechenbar. Das meiste geht nach dem Motto: ‚Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen.’ Für uns Europäer ist das schwierig. Aber wir können den Menschen hier ja nicht unsere Denkweise und Kultur aufzwingen. Und das Erstaunliche ist: Es funktioniert dann doch. Irgendwie.“
Beeindruckt sind beide Frauen auch vom Zusammenhalt der großen „Shanti-Familie“, die hier lebt und arbeitet. „Es ist eine sehr familiäre Atmosphäre, man spürt, wie sehr Marianne Grosspietsch die Menschen hier am Herzen liegen – wir beide bewundere sie sehr für das, was sie hier aufgebaut hat“, sagt Anna-Lisa. „Wir sind hier unglaublich herzlich aufgenommen worden. Es gibt vieles, woran es hapert, aber der Grundgedanke ist phantastisch, und gerade Kindergarten und Schule laufen richtig gut. Da greift alles ineinander. Es ist schon ein großer Segen, dass es die Shanti Leprahilfe gibt!“