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Karma – Aspekte und Gedanken
Artikel von Christine Pflug, Biografieberaterin, HP für Psychotherapie
Wir alle haben mitunter den Wunsch, hinter die Kulissen des (eigenen) Schicksals zu schauen. Vielleicht hat man ein rein wissenschaftliches Interesse an der Erforschung des Karmas, vielleicht will man seine Leben besser verstehen oder Erleichterung in einer bedrängenden Lage finden; mitunter sind auch allzumenschliche Regungen wie Neugier, Sensationslust, Gedankenspielerei dabei.
Der Weg, zu solchen Einsichten zu kommen, ist ein sehr komplexer, und es bedarf vielerlei Übung und Voraussetzungen, sich dem Ganzen auch nur ahnungsweise zu nähern. Es müssen dazu, so Rudolf Steiner, neue Seelenfähigkeiten gebildet werden; diese haben aber schon in sich einen Sinn, weil sie zur Entwicklung der eigenen Person und sozialer Fähigkeiten beitragen.
Dieser Artikel ist ein Beitrag in einer Publikation der Berufsvereinigung für Biografiearbeit e.V., die demnächst veröffentlicht wird. Nähere Auskünfte dazu bei der Redaktion des hinweis.
Christine Pflug: Seit 1986 tätig in Biografieberatung, Psychotherapie und Erwachsenenbildung in freier Praxis und als Dozentin in verschiedenen Einrichtungen.Studium am Centre for Social Development (Emerson College), einer Ausbildungsstätte für Erwachsenenbildung und Biografiearbeit in England. Weiterbildungen in Gestalttherapie, Focusing, Eheberatung, Beziehungslernen nach Prof. Stadter und zur Heilpraktikerin für Psychotherapie. Diverse Veröffentlichungen zum Thema Biographie und Gesprächsführung. Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Anthroposophische Psychotherapie e.V. und in der Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie e.V. www.christine-pflug.de
Warum gerate ich immer wieder in ähnliche Schwierigkeiten, auch wenn ich so viel an mir arbeite? Warum ist der eine besonders musikalisch, der andere kann gut mit Zahlen umgehen? Warum hat einer eine gebrechliche, vielleicht sogar kranke Konstitution, ein anderer ist begabt und schön? Man ist in einem bestimmten Land geboren: welche unterschiedliche Biografien haben Menschen aus arabischen Ländern, Mitteleuropa, Afrika…! Der Eine hat in seinem Leben immer wieder mit dem Thema Tod zu tun, der nächste hat viele Begegnungen mit Kindern … Man bleibt jahrzehntelang an einer Partnerschaft wie „kleben“, hat das Gefühl, da „etwas abarbeiten“ zu müssen, obwohl es schwer fällt. Jeder kennt aus seinem Leben Ereignisse, die sehr prägend waren oder Menschenbegegnungen, die tief beeinflussten …
Das alles sind Wirkungen, die karmische Ursachen haben können. Manchmal scheinen solche Lebensmotive besonders drastisch, manchmal eher unauffällig.
Es gibt vielerlei Schicksale, die die Frage aufwerfen: Warum gehört das zu mir oder warum zu einem anderen Menschen?
Wir sind nicht festgelegt
Rudolf Steiner schreibt in seiner „Theosophie“¹, „die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal und das wird Karma genannt.“ Damit ist klar, dass Karma bedeutet: Wir sind nicht festgelegt, sondern Karma lässt sich nur denken im Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit. Tiere sind in ihrem Verhalten instinktiv gesteuert und bestimmt und können sich nicht aus eigenem Willen entwickeln.
Wir Menschen stehen grundsätzlich vor Entscheidungen. Auch wenn der Grad der eigenen Freiheit unterschiedlich groß ist: gesellschaftliche, politische, naturgegebene Zwänge Einschränkungen durch die körperliche, geistige Verfassung, Handeln aus unbewussten oder triebgesteuerten Motiven etc., liegt es in unserer Verantwortung, wie wir mit Gegebenheiten oder Ereignissen umgehen, wie wir unser Leben gestalten und mit welcher inneren Haltung wir den Dingen gegenüber treten. Durch dieses selbstverantwortliche Handeln schaffen wir unser Schicksal, d. h. wir erleben, entweder in einem nächsten Leben – oder auch schon in diesem (siehe dazu das Interview mit Steffen Hartmann hinweis September 2015) – die Konsequenzen unserer Taten und Einstellungen.
Dieses Karma kann uns als äußeres Ereignis entgegen treten, z. B. wird häufig durch eine Begegnung, einen anderen Arbeitsplatz, Wohnortwechsel ein neuer Impuls ins Leben gebracht. Oder wir erleben es von Innen, d. h. wir haben eine bestimmte Prägung, Konstitution, haben unsere Abneigungen und Affinitäten, dadurch „filtern“ wir, was wir von der Außenwelt wahrnehmen und auch, wie wir uns in sie hineinstellen.
Es gilt auch: Karma ist nicht (nur) die Folge von Vergangenem, „es treten im Leben eines Menschen fortwährend Ereignisse auf, die mit dem Verdienst oder seiner Schuld in der Vergangenheit durchaus nichts zu tun haben. Solche Ereignisse finden ihren karmischen Ausgleich eben in der Zukunft.“²
Und genau so, wie wir jetzt neues Karma bilden und gestalten, können wir Vergangenheitskarma auch „abarbeiten“, d. h. irgendwann sind wir frei von bestimmten Wiederholungen.
Vielleicht mag man unter Karmaerkenntnis verstehen, dass man Einsichten in letzte Erdenleben bekommt. Auch wenn die Seelenfähigkeiten, die es zu schulen gilt, nicht zwingend zu diesem Ergebnis führen, sind sie m. E. als solche für die eigene Entwicklung sinnvoll und für die jetzige Lebensbewältigung in jedem Fall hilfreich. Steiner beschreibt sogar manche Karmaübungen explizit und in erster Linie für die Pflege des sozialen Lebens.
Übungsweg – Voraussetzung und innere Haltung dabei
Wie Karma entsteht und sich verwandelt, stellt sich für unser Verstandesdenken nicht in einem kausal erklärbaren Zusammenhang dar. Karma wirkt in einer unbewussten Willensschicht. Es ist eine willentliche Kraftanstrengung nötig, bis man eine bestimmte Seelenstimmung, eine Art Gefühls- und Empfindungsgedächtnis hat, um es zu erfassen. „ … Karma kann man nicht erkennen lernen, ohne dass bei der Erkenntnis das Herz, das ganze Gemüt, der Wille des Menschen beteiligt ist.“ ³
Die Prinzipien sind immer: wertfreies, akzeptierendes, genaues Betrachten von Situationen, bei vielen Übungen blickt man auf das eigene Leben oder bestimmte Ereignisse darin zurück. Das eigene Gefühl muss dabei zu einem „Wahrnehmungsorgan“ werden. Das bedeutet, dass ich meine Wünsche und auch Abneigungen zur Seite stellen muss. Man soll sich von außen betrachten, wie man es bei einem anderen Menschen macht. „Wenn wirklich die Selbstliebe so objektiv wird, daß man sich selber so beobachten kann wie den anderen, dann bietet sie den Weg, um in frühere Erdenleben wenigstens zunächst ahnungsvoll zurückzuschauen“4
Grundsätzlich ist immer die innere Haltung angebracht, nicht nach dem „warum“ zu fragen, sondern nach dem „wozu“, d. h. „Was ist meine Aufgabe in einer bestimmten Situation, welche Impulse habe ich in diesem Leben?“
Insofern versteht es sich von selbst, dass Spekulationen, Gedankenspielereien, Sensationslust, Eitelkeiten – „ob man wohl eine besondere Persönlichkeit war“ – oder gar Rechtfertigung von eigenen Handlungen („der Seitensprung hatte karmische Gründe“) nur zu verzerrten Eindrücken führen.
Nicht „wer ich war“, sondern welche Intentionen ich in diesem Leben habe
Es gibt viele Herangehensweisen dieser meditativen Erforschung; es seien hier beispielhaft zwei Übungen vorgestellt.
Eine anfängliche Übung, ein probeweises Experiment, kann sein: Man führe sich aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit etwas vor Augen, „was man gegen den eigenen Willen geworden ist, was einem nicht gepasst hat, welchem man so recht hätte entfliehen wollen“2 Und dann lebt man sich in die Vorstellung ein: Genau das habe ich energisch gewünscht und gewollt. Hilfreich ist sich dabei vorzustellen, dass man das mit einem anderen Seelenteil als dem gewöhnlichen Alltagsich macht. Dann stellt man sich die Frage: Was hat das meinem Leben hinzugefügt, wie hat es mich weitergebracht? Macht man diese Übung öfters, bildet sich ein Zugang zu einem seelischen Wesenskern, bzw. zu dem, was man in dieses Leben mitgebracht hat. Ziel dieser Übung ist also nicht zu erfahren „wer ich war“, sondern welche Intentionen, Willensimpulse, Aufgaben ich in diesem Leben habe.
In einer anderen Übung führt man sich die Menschen vor Augen, die einem im Leben begegnet sind.5 Was haben sie meinem Leben hinzugefügt? Blickt man weiter zurück, hat man gerade denen, die einem geschadet haben, mitunter mehr an Entwicklungsimpulsen zu verdanken als den „Angenehmen“.
Als nächstes stellt man sich Erlebnisse aus der eigenen Biografie vor Augen, die man als 5-jähriger, 10-jähriger, 20-jähriger etc. hatte. Dabei soll man sich wie ein fremdes Wesen anschauen, sich aus den eigenen Erlebnissen wie „herausschälen“, man soll dieses Frühere von sich „absondern“, so dass es heute nicht mehr in einem wirkt. 5
Was da so lapidar verlangt wird, ist ein hoher Anspruch, denn es setzt voraus, dass man einen Zugang zu eigenen Gefühlen erst mal haben muss und als Durchgangsphase die Wahrnehmung (!) aller Emotionen, auch der abgründigsten, schmerzhaftesten und peinlichsten, sein sollte! Und diese Durchgangsphase ist dann immer wieder nötig, die Existenz von Gefühlen darf nicht verleugnet werden, damit nicht ein verarmtes oder deformiertes Seelenleben die Grundlage bildet. Dass mancher viele Lebensjahre alleine damit verbringt und es mitunter angesagt sein kann, die Übung gleichzeitig zu vollziehen, muss dann in der Praxis individuell entschieden werden.
Ziel der genannten Übungen ist, von anderen Menschen ein hass- und liebefreies Bild – eine Imagination – zu gewinnen und nur so kann man ihnen frei gegenüber stehen. Auch zu sich selbst kommt man in ein freieres Verhältnis, weil die Vergangenheit nicht mehr unbewusst weiterwirkt.
Rudolf Steiner dazu (interessanterweise 1918, also nach dem ersten Weltkrieg): „…so kann man sich zu einem sozial wirkenden Wesen machen in einer Zeit, in der gerade die antisozialen Triebe herauskommen und gesellschaftlich wirken.“
Verschiedene Schwerpunkte
Jahrelang und immer wieder in anderen Zusammenhängen und mit anderen Schwerpunkten hat Rudolf Steiner über Karma gesprochen und jeweils verschiedene Übungen beschrieben. Über das persönliche eigene Leben hinaus geht es beispielsweise darum, die karmischen Ursachen der Beziehung zu einem anderen Menschen zu erforschen.
In den späteren Vorträgen hebt er die Bedeutung hervor, wie sich der einzelne Mensch in einem geschichtlichen Kontext bewegt und als Mitgestalter für die allgemeine Kultur, also das Menschheitskarma, wirksam werden kann.
Ziel aller Karma-Übungen ist, zu sich, zu anderen und zu Lebensereignissen ein freieres Verhältnis zu gewinnen, d. h. man kann sich aktiv zu einer Situation stellen und erleidet sie nicht mehr passiv. Belastungen werden nicht mehr als solche erlebt oder lösen sich sogar auf. Man kann biografische Schritte aus eigenen Zielen und eigener Entscheidung neu gestalten. Letztlich geht es darum: Was ist meine individuelle Aufgabe und Verantwortung in meinem persönlichen Leben und auch in dem sozialen Zusammenhang, in dem ich stehe?
¹ Theosophie, Rudolf Steiner, GA 9
² Wiederverkörperung und Karma, Rudolf Steiner, GA 34
³ Vortrag vom 29. Juni 1924, Dornach
4 Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, GA 239. Vortr. 12. Juni 1924)
5 Soziale und antisoziale Triebe im Menschen, Vortrag vom 12. Dez. 1918, GA186