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AD(H)S – ist Prävention möglich? Teil I und II
Zusammenfassung eines Vortrages von Dr. med. Christoph Meinecke, Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin
Sie können sich schlecht konzentrieren, können ihre Aufmerksamkeit nicht ausreichend fokussieren, können aus Fehlern nicht lernen, sind zappelig, können sich im sozialen Rahmen nicht adäquat verhalten, reden viel, stören einfach – dies alles sind Symptome von Kindern, die unter ADHS leiden – dem sog. Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom. Mit ihnen und wegen ihnen leiden Eltern und Pädagogen, die an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten kommen. Ist das alles so, weil den Kindern ein Botenstoff (Transmitter) im Gehirn fehlt, den man durch Ritalin® und Co. ersetzen kann – und dann kommt alles wieder in Ordnung? Oder gibt es (auch) andere Gründe, warum unsere Kinder heute be-unruhigter sind als das früher der Fall war?
Alleine schon die Frage zu stellen: „Was be-unruhigt Dich?“, zeigt eine andere Haltung, als wenn man fragt: „Warum bist du so unruhig?“
Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Meinecke konnte im Laufe seiner langjährigen Arbeit viele Erfahrungen über die Kinder, die Familien und ihren Stand in unserer Gesellschaft sammeln und weist in diesem ersten Teil des Vortrages auf Ursachen des AD(H)S hin.
Der Vortrag wurde veranstaltet vom Forum-Leben e.V. und fand statt am 16.April 2010 in der Rudolf-Steiner-Schule Bergedorf
Dr. Christoph Meinecke, verheiratet, Vater von fünf Kinder, ist als Kinder- und Jugendarzt und Psychotherapeut in freier Praxis auf dem Gelände des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, Berlin, sowie in der Neugeborenen-Versorgung der Klinik tätig. Mitbegründer und Geschäftsführer des „Familienforums Havelhöhe“ . Entwicklung des Konzeptes „Frühprävention in Havelhöhe“, das werdenden Eltern vor, bei und nach der Geburt ihrer Kinder Unterstützung und Orientierung gibt. Entwicklung des anthroposophischen Elterntrainings „Wahrnehmen üben – Verstehen lernen – Entscheiden können“. Langjährige schulärztliche Tätigkeit in Stuttgart und Berlin.
Zu Beginn des Vortrages möchte ich einige Aspekte meiner beruflichen Tätigkeiten erläutern. Außer meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen versorge ich in der Klinik auch die Babies, das heißt, ich mache die Vorsorge-Untersuchungen in den ersten Lebenstagen, und manchmal muss ich auch in den Kreißsaal. Aus unserer Arbeit mit den jungen Familien hat sich in Havelhöhe eine Initiative entwickelt, das „Familienforum Havelhöhe“. Anliegen des Forums ist es, „Familie“ in all ihren Facetten zu unterstützen, damit es den Kindern gut geht – und auch den Eltern.
damit es den Kindern gut geht – und auch den Eltern
Dieses Familienforum hat einen präventiven Anteil: Wir bieten Vorträge und Seminare an, bei denen es um alles Pädagogische und um Gesundheitspflege in der Familie geht. Wir machen auch über die Jugendämter zugewiesene und finanzierte aufsuchende Familien- und Erziehungshilfe. Wir gehen also nach Hause zu den Familien, in deren Problembereiche hinein, und versuchen sie dort zu unterstützen. In den letzten Jahren haben wir ein Elterntraining entwickelt – das erste anthroposophische Elterntraining. Es gibt gerade in Bezug auf ADHS einige Elterntrainings – „Triple P“, „Step“, „Zappelphilipp und Trotzkopf“ oder „Starke Eltern – starke Kinder“. Wir hatten immer den Anspruch, aus der Anthroposophie heraus so ein Elterntraining zu entwickeln; das läuft nun schon im dritten Jahr. Da kommen also Eltern 14 Abende hintereinander zusammen, jeden Montag, und nehmen teil an einem Kurs, in dem wir versuchen die Grundhaltung und die Herangehensweise in Familie und Pädagogik aufzubauen.
Zu unserem Angebot gehört auch „aufsuchende Beratung“, d. h. wir gehen zu den Familien nach Hause, nicht nur wenn das Jugendamt sich einschaltet, sondern auch auf Anfrage hin, beispielsweise bei den Schrei-Störungen und den Schlaf-Störungen, die im ersten Lebensjahr stark zunehmen. Und wir machen Baby-Vorbereitungskurse, in denen man schon vor der Geburt lernt: Wie trage ich so ein kleines Kind? Wie wasche ich es, pflege ich es, kleide ich es? Wie begegne ich ihm? Usw.
Fehlt ein sog. Transmitter, ein Botenstoff im Gehirn?
In diesem Vortrag soll der Ausgangspunkt von dem sogenannten ADS oder ADHS (ADS = Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) gefunden werden. Worin die Ursachen dafür liegen, darin unterscheiden sich bisher die Geister. Es gibt zwei extreme Pole der Sichtweise. Nach der naturwissenschaftlichen, mehr mechanischen Sicht fehlt ein sog. Transmitter, ein Botenstoff im Gehirn, und wenn man den ersetzt, dann soll es wieder gut mit den Kindern gehen. Diese Kinder können ihre Aufmerksamkeit nicht ausreichend fokussieren, sind zu unruhig, können schlecht lernen, sind zappelig, können nicht auf sich selber aufpassen, merken nicht, wie man sich im sozialen Rahmen adäquat verhält, reden viel, stören einfach – und das alles nur, weil dieser Stoff fehlt. Den müsse man also einfach ersetzen durch die Gabe von z.B. Ritalin® oder anderen – mit dem Wirkstoff Methylphenidat – dann werde es wieder gut!
„Indigo-Kinder“
Die andere Sichtweise betrachtet das Ganze nahezu idealisierend: es handele sich hier um ganz besondere Kinder, sog. „Indigo-Kinder“, Sternenkinder usw.; diese Kinder seien eigentlich als Retter der Menschheit zu uns geschickt und würden hier aber nicht richtig erkannt werden.
Als Anthroposophen suchen wir eigentlich immer den Weg der goldenen Mitte. Ich hoffe, dass ich aus diesem Blick der Mitte heraus zu dem Thema etwas beitragen kann.
Es gibt sehr viel Leid unter ADS- und ADHS-Kindern. Ich möchte zunächst die Symptomatik darstellen und erläutern, was man sich heute darunter vorstellt.
Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität
Die klassische Diagnose ADHS bezeichnet ein gewisses Verhalten des Kindes, das man in drei wesentliche Verhaltensbereiche unterteilt. Einmal ist es der Bereich der Aufmerksamkeit, wo es zu Problemen kommt, den sog. Aufmerksamkeitsstörungen, dann der Bereich der motorischen Unruhe, der sog. Hyperaktivität, und schließlich der Bereich der Impulsivität. Das sind die Verhaltensbereiche, die im Fokus stehen, wenn man heute die Diagnose stellen will. Es gibt eine Symptom-Liste, die man abfragen kann und aus der ich ein paar nennen möchte:
– Beachtet bei der Arbeit häufig Einzelheiten nicht
– Macht häufig Flüchtigkeitsfehler
– Hat bei Aufgaben oder Spielen Schwierigkeiten, seine Aufmerksamkeit längere Zeit aufrecht zu erhalten
– Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen (Wenn man sagt, „Jetzt bring mal schnell den Müll raus“, dann nickt das Kind, dreht sich um – und schon ist es vergessen. Die Botschaft ist also nicht angekommen; das ist so ein typisches Symptom)
– Kann Schularbeiten oder andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz häufig nicht zu Ende bringen. (Das Kind fängt oft etwas an, begegnet ihm dort was anderes, dann bleibt es an der nächsten Ecke wieder stehen, weil das nun plötzlich viel interessanter erscheint)
– Kann Aufgaben oft nicht planvoll lösen (Das gibt dann Hausaufgaben-Dramen, weil das Kind nicht überblicken kann: hier sind 10 Rechenaufgaben, jetzt setze ich mich hin von Viertel nach drei bis Viertel vor vier und mache die erste, die zweite, die dritte … und dann bin ich durch. Das fällt ihm schwer, schon bei der ersten wird es abgelenkt, kann die Aufgabe womöglich nicht mal zu Ende durchlesen. Sich durch so eine Textaufgabe in Mathematik durchzuarbeiten ist für das Kind eine Tortur.)
– Hat eine Abneigung gegen Aufgaben, bei denen er sich längere Zeit konzentrieren und anstrengen muss (Beispiel Hausaufgaben), meidet diese Aufgaben oder macht sie nur widerwillig
– Lässt sich oft durch seine Umgebung leicht ablenken (wenn die Müllabfuhr vorbeifährt, ist das wichtiger, als das, was der Lehrer gerade sagt …)
– Verliert häufig Sachen, die es eigentlich demnächst wieder benötigt (Schulranzen, Eurythmieschuhe, Sportsachen; ganze Wintermäntel kann man vergessen, selbst wenn es eiskalt ist draußen, oder mit nur einem Schuh auf die Straße laufen!)
Man hat also neun Kriterien festgelegt, und wenn sechs davon zutreffen, spricht man definitionsgemäß von einer Aufmerksamkeitsstörung. Die Problematik dabei ist: Wenn z.B. nur fünf Symptome vorhanden sind, dann hat derjenige durchaus Probleme mit der Aufmerksamkeit, aber per definitionem kein ADS! Dann bräuchte er trotzdem Hilfe, passt aber nicht in die Schublade.
Und so ist es bei der Hyperaktivität und Impulsivität auch: Da gibt es fünf, manchmal auch sieben Kriterien der Hyperaktivität und bei der Impulsivität weitere vier. Wenn nun wiederum mindestens drei Kriterien der Hyperaktivität und eines der Impulsivität erfüllt sind, dann spricht man erst von Hyperaktivität und Impulsivität. AD(H)S ist also keine festgeschriebene Erkrankung, sondern eine Summierung von Auffälligkeiten und Symptomen, auf die man sich geeinigt hat, die aber ganz individuell kombiniert und ausgeprägt sein können.
der Träumer-Typ
Der Unterschied von ADS zu ADHS besteht darin, dass ein ADS-Kind lediglich eine Aufmerksamkeitsstörung haben kann. Das sind die „Träumer“-Typen, die so angenehm sind, weil sie nicht auffallen. Bei ihnen ist immer die Gefahr, dass sie zu kurz kommen, auch gerade in den Klassen, weil man sie nicht so richtig bemerkt, denn sie sind nicht nervös, nicht störend. Bei ADHS-Kindern gibt es die hyperaktiven und die impulsiven Typen. Wenn man einmal so einen klassischen Jungen in der Sprechstunde hat – das ist wirklich faszinierend zu sehen: nach 3 Minuten sitzt er einem auf dem Schoß oder – oben auf dem Schrank. Und da kann man sehen: In allen seelischen Problembereichen oder seelischen Regungen von uns haben wir immer zwei Richtungen. Das ist einmal das mehr nach außen Gerichtete, das nennen wir externalisierendes Verhalten – bzw. externalisierende Verhaltensstörung, wenn es zu stark wird: aggressiv, impulsiv, hyperaktiv – und das andere ist das Internalisierende, also das mehr nach Innen Gehende. Das wäre beispielsweise der depressive, melancholische Typ (auch die Anorexie gehört hierher) und auf unser Thema bezogen der Träumer-Typ.
Kürzlich wurde in einer Fachzeitschrift eine Internetseite propagiert, auf der mit der Behauptung ins Gericht gezogen wird, ADHS sei eine Mode-Krankheit. Es heißt darin, das stimme nicht, es habe ja schon immer den Zappelphilipp oder den Struwwelpeter gegeben, das sei eben eine Stoffwechselkrankheit, auf die man heute lediglich aufmerksamer geworden sei. Nun, es ist sicher richtig, dass viele Kinder ADS und ADHS durchaus von Geburt an in ihr Leben mitbringen, also dass es nicht nur aufgrund der Umweltwirkung besteht. Wir können aber sagen, in der Ausprägung der Problematik wirkt die Umwelt ganz bestimmt hinein. Und wenn wir uns über Prävention Gedanken machen, fragen wir uns, was man von der Umweltgestaltung her tun kann, damit sich so ein Problem überhaupt nicht erst entwickelt. Das ist der Präventionsgedanke, denn das, was der Mensch schicksalsmäßig in sich trägt, können wir nicht mehr verändern. Es gibt eben diese Unruhe, dieses Hyperaktive, Impulsive, das sind die lebhafteren Kinder. Es kommen heute Kinder auf die Welt, die schon bei der Geburt wacher sind als es früher der Fall war. Und selbst schulmedizinische Kollegen von mir, die das über Jahrzehnte beobachtet haben, bestätigen das.
Lernprobleme nehmen zu, wohingegen zum Beispiel der Sprach-Entwicklungsstand abnimmt
Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass Umwelt sehr stark auf die Kinder wirkt. Nicht nur, dass ADS heute viel öfter diagnostiziert wird, sondern in den epidemiologischen Studien für Kinder und Jugendliche wird festgestellt, dass unter den Kindern und Jugendlichen Unruhe, Impulsivität, Gewalt zunehmen. Auch Lernprobleme nehmen zu, wohingegen zum Beispiel der Sprach-Entwicklungsstand abnimmt. In den Großstädten, beispielsweise in Berlin, ist es so, dass jeder dritte Erstklässler förderbedürftig ist. Das heißt, die Kinder konnten die vorschulische Entwicklung, die vor der ersten Klasse dran ist, nicht richtig durchmachen.
das AD(H)S wird es wahrscheinlich immer geben
Die Ausprägung von Kernsymptomen, die wir auch beim AD(H)S finden, nimmt also eindeutig zu. Und deswegen können wir uns fragen: Was ist denn das, was unsere Kinder unruhiger macht? Das AD(H)S wird es wahrscheinlich immer geben, aber wie die AD(H)S-Kinder damit zurechtkommen, ob wir unfreiwillig das Symptom verstärken oder ob wir ihnen helfen, es zu integrieren und damit zurecht zu kommen, das hängt sehr stark von dem Umfeld ab. Heute gibt es glücklicherweise viele wissenschaftliche Untersuchungen, die uns verstehen helfen, was unsere Kinder heute unruhiger macht. Dabei ist das Interessante, dass nicht nur wir anthroposophischen Ärzte oder Waldorf-Pädagogen das behaupten aus einer sog. „weltanschaulichen Ecke“, wie uns das lange Zeit vorgeworfen worden ist, sondern dass es inzwischen genug wissenschaftliche Untersuchungen und Belege hierzu gibt.
„Was kann ich tun, dass du weniger be-unruhigt sein musst?“
Wir stellen also fest, dass unsere Kinder heute offenbar unruhiger sind, als das früher der Fall war. Wir sprechen immer lieber davon, dass unsere Kinder offenbar „be-unruhigter“ sind. Es ist nämlich eine ganz andere Geste, wenn Sie jemanden fragen „Was be-unruhigt Dich?“, als wenn Sie fragen „Warum bist du so unruhig?“ Heute hören ganz viele Kinder: „Sei doch mal ruhiger! Du störst!“ Wenn ich aber frage „Was be-unruhigt Dich?“ – das hört sich doch ganz anders an! Warum? Weil ich damit auch frage: „Was kann ich tun, dass du weniger be-unruhigt sein musst?“ Und das ist die Frage, die wir uns dann heute stellen können. Wir wären zugegebenermaßen naiv, wenn wir behaupten würden, wir könnten das AD(H)S verhindern oder vermeiden. Aber wir können die Ausprägung von Unruhe, von Be-unruhigung, von diesen Kernsymptomen des AD(H)S, sicherlich lindern. Dabei hilft, die Forschung anzuschauen. Sie ist zu folgenden Ergebnissen gekommen:
Es gibt drei Hauptquellen von Beunruhigung heute, die eindeutig zugenommen haben, über sich die Wissenschaftler größtenteils einig sind:
– Reizüberflutung
– Verunsicherungen im Bereich der menschlichen Beziehungen
– Hektik, Stress und Unruhe im Umfeld
Dazu kommt dann noch der allgemeine Bewegungsmangel – das ist nicht eine Hauptquelle der Beunruhigung, aber ein Begleitproblem.
Sehen und Hören ist überstimuliert und andere Sinnesbereiche sind unterentwickelt
Bei unseren Kindern sind heute Sehen und Hören überstimuliert und andere Sinnesbereiche sind unterentwickelt. Das sagte z.B. Prof. Hurrelmann (früher Bielefeld, jetzt Berlin, Leiter der Shell-Jugendstudie) auf einem großen deutschen Ärztekongress.
Die Selbstwahrnehmung, die Sprachwahrnehmung, die Wahrnehmung der eigenen Bewegung, die Wahrnehmung der sozialen Mitwelt sind unterentwickelt. Die Alarm-Sinne also (Sehen und Hören sind unsere Alarm-Sinne und dadurch auch unsere Ablenkungssinne) sind überreizt, überstimuliert.
Vor dem Hintergrund dieses Wissens kann man nun heute z.B. eindeutig sagen: „Vorsicht Bildschirm“ – wie auch ein gleichnamiges Buch von Prof. Manfred Spitzer heißt. Manfred Spitzer hat sich in diesem sehr empfehlenswerten Buch zu dem Gebiet Reizüberflutung besonders auf die Bildschirm-Medien konzentriert. Seine Forschungen – er ist Universitäts-Professor und Psychiater in Ulm, kein Anthroposoph, ein ganz sachlicher Naturwissenschaftler – bestätigen das, was wir Anthroposophen seit langem gesagt haben. Im „Deutschen Ärzteblatt“ wurde es zusammengefasst: Von 0 bis 3 Jahren soll ein Kind null Fernsehen! Gar nicht! Nicht mal Sandmännchen! Das ist der heutige Stand der Neuro-Biologie!
Es bleibt eben nicht ohne Folgen, was wir über die Sinne in das Nervensystem unserer Kinder einbrennen.
Das Kind kommt ja völlig offen in die Welt, es will die Welt wahrnehmen und die Außenwelt furcht sich in das Gehirn ein. Wir bilden also die Welt in unserem Nervensystem innen ab, um dann draußen in der Welt handeln zu können. Und nun sagt uns die Neurobiologie: Wenn wir die Gehirne unserer Kinder mit Scheinwelten programmieren, dann stört das das Lernen und das führt regelrecht zur Lebens-Untüchtigkeit. Manfred Spitzer warnt und er macht eine Hochrechnung, was Bildschirm-Medien anrichten. Es gibt Studien darüber, die sind z.T. schon zehn Jahre alt, dass ein achtzehnjähriger Jugendlicher im Schnitt schon etwa 40.000 Leichen in seinem gesehen hat; heute sind es wahrscheinlich noch wesentlich mehr! Und, so sagt Spitzer, strömten schon 1996 pro Tag 2000 Werbebotschaften auf uns ein – heute sind es im Schnitt 3000!
Diese Reizüberflutung ist also zum ganz großen Teil eine mediale Reizüberflutung – und da stehen Bildschirmmedien an oberster Stelle! Fernsehen, Computerspiele usw., sagt uns die Neurobiologie weiter, sollen Kinder bis etwa zum 12./13. Lebensjahr möglichst nur am Wochenende und immer nur mit den Eltern zusammen machen – und nie vor dem Schlafengehen. Das müssen wir uns wirklich einprägen: nie vor dem Schlafengehen! Denn es ist bewiesen, dass die letzten Bilder, die das kindliche Gehirn aufnimmt, sich am stärksten verankern. Und dann werden alle anderen mühsam erworbenen Lernerfahrungen des Tages überschrieben, quasi gelöscht. Wenn man Spitzers Buch liest, ist man geheilt von allen Vorstellungen, dass das Fernsehen den Kindern nützt.
Erst mit der Pubertät beginnt sich das Gehirn so zu vernetzen, dass wir dann auch über Bildschirm-Medien Lerninhalte aufnehmen können.
Neben der Reizüberflutung des Fernsehens gibt es auch diejenige der akustischen Beschallung. Der Hörstatus ist von Kindern, die an Hauptverkehrsstraßen wohnen z.B., überreizter und deutlich gestörter als bei anderen. Aber auch die ständige und meist überlaute Musikberieselung über Kopfhörer führt zu nachweisbaren Schäden!
sie haben Angst, ein Elternteil geht ihnen einfach verloren
Ein wichtiges Thema für die Beunruhigung der Kinder ist auch das der Beziehungen. Man weiß, dass die Beziehungsfähigkeit abnimmt. Die Trennung von eingetragenen Lebenspartnerschaften nimmt zu. Sicher gibt es berechtigte Gründe für eine Trennung, aber Trennung als Strategie der Konfliktlösung wird immer salonfähiger. Es gibt Untersuchungen von Psychologen, die besagen, dass zwei Drittel aller Trennungen heute vermeidbar wären, wenn die Partner miteinander sprechen würden. Man hat festgestellt, dass die Kommunikation in den Partnerschaften zurückgeht: durchschnittlich sprechen Ehepartner miteinander 5 – 6 Minuten täglich – das ist in der Regel weniger, als jeder Nachrichtensprecher zu uns spricht! Das beunruhigt offenbar die Kinder; sie haben Angst, ein Elternteil geht ihnen einfach verloren. Ein Drittel aller Kinder in Berlin lebt bereits mit getrennten Eltern, bundesweit sind es 20 -25 %. Das ist sozusagen „normal“! Tendenz steigend.
90% aller elterlichen Trennungen gehen auf Kosten der Kinder
Trennung ist sicherlich auch mal nötig. Man kann sie dann auch so gestalten, dass es für die Kinder gut verkraftbar ist, aber leider ist es in der Praxis meist doch nicht so – 90% aller elterlichen Trennungen gehen auf Kosten der Kinder.
Es gibt noch einen anderen Aspekt, der dabei mit hinein spielt. In den 80er-Jahren fühlten sich noch 75% aller Kinder sicher an ihre Eltern gebunden. Sie konnte das Gefühl haben und real erleben: hier bin ich gut aufgehoben, bin ich geliebt und angenommen so, wie ich bin, hier ist jemand, der weiß, was für mich richtig ist und dem ich mich anvertrauen kann. Heute sagen pessimistische Studien, dass nur noch 33% der Kinder – optimistische Studien gehen bis 50% – ein sicheres Bindungsgefühl haben. Immer mehr Kinder haben z.B. das Gefühl, den Erwartungen der Eltern nicht zu genügen, so nicht richtig zu sein, wie sie sind! Noch nie wurden so viele Kinder diagnostiziert, noch nie gab es so viele therapeutische Veranstaltungen, wie das heute der Fall ist.
Es gibt viele namhafte Psychologen, die mittlerweile davor warnen, die Kinder zu pathologisieren. Wir wissen heute, dass dieser Druck, der auf den Kindern lastet, den meisten Kindern schadet. Die leistungsorientierten Kindergärten beispielsweise sind für ein paar Hoch-Begabte nützlich, die kommen gut durch, die meisten anderen aber werden dort krank. Das gleiche gilt für Früheinschulung und Schnellläuferklassen bzw. das sog. G8 (12 Jahre bis zum Abitur, davon 8 Jahre Gymnasium). In Berlin wurde vom Senat die Pflicht zur Früheinschulung klamm heimlich wieder zurückgezogen, weil man festgestellt hat, dass sie zu mehr Krankheit, mehr Stress, mehr Überlastung bei Lehrern, Eltern und Kindern geführt hat.
sie wünschen sich nicht mehr Playstation, mehr Gameboy, sondern – Beziehung!
Ein drittes Problem in diesem Themenbereich Beziehung ist tatsächlich der: wenn man Kinder fragt, was sie sich von den Eltern am meisten wünschen, sagen über 80% „mehr Zeit“. Nicht mehr Playstation, mehr Gameboy, sondern – Beziehung! Die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, ist gefährdet, gerade in Städten. Moderne Familien-Politik heißt heute, möglichst früh vorschulische Betreuungsinstitutionen zur Verfügung zu stellen, damit die Kinder möglichst schnell extern erzogen werden können. Es gibt ein schönes Buch eines amerikanischen Psychologen namens Steve Biddulph, und er schreibt, dass Kinder meistens nur dann beim Therapeuten landen, wenn ihnen ihre Eltern abhanden gekommen sind. Das Buch heißt ganz einfach: „Wer erzieht Ihr Kind?“ – und diese Frage darf man sich ja stellen.
Die Kinder wollen primär mal mit ihren Eltern zu tun haben, also muss doch eine moderne Familienpolitik möglich machen, dass die Eltern Erziehungsaufgaben an ihren Kindern übernehmen und nicht der Staat.
Als Kinderarzt begleite ich viele Familien, und in den allermeisten Fällen habe ich festgestellt, dass, wenn man das Kind schon früh weggeben muss, eine Tagesmutter meist besser ist als eine Krippe. Denn die Tagesmutter wird von den Kindern noch viel familiennäher erlebt als eine Institution.
Dann gibt es noch das dritte großes Feld der Beunruhigung unserer Kinder: das unruhige Umfeld. Ein Forscher hat es mal lapidar zusammengefasst: „Hyperaktives Umfeld – hyperaktives Kind“. Wenn die Umgebung und die Lebensführung nervös sind, hektisch, wenn jeder Tag anders ist, wenn es keinen Rhythmus, keine Rituale, keine Regelmäßigkeit im Tagesablauf gibt, wenn die Sorgen der Eltern dominieren, usw., dann macht auch das unsere Kinder unruhig.
Diese drei Gebiete sind im Wesentlichen die „Haupt-Beunruhigungsfelder“.
Wie kann man nun präventiv handeln und welche Gesichtspunkte kann man den Eltern als Hilfe mitgeben?
Dazu brauchen wir zunächst ein Bild des sich entwickelnden Kindes. Dieses Bild muss durch eine ganzheitliche Blickweise bereichert und impulsiert sein, d. h. dass ein Mensch ein geistiges Wesen ist, das sich in einem Körper beheimatet. Wir alle sagen irgendwann in unserem Körper „Ich“ zu uns. Der Kardinal-Unterschied zur üblichen Sichtweise ist der, dass dieses Ich, was aus mir heraus „Ich“ sagt, nicht aus Genen und bio-chemischen Formeln entstanden ist, sondern dass es eine geistige Wesenheit ist, die sich nicht aus dem Körper heraus, sondern in diesen hinein entwickelt. Es gibt also eine geistig-immaterielle Existenzform des Menschen, die auch vorgeburtlich und nachtodlich existiert. Das ist der Kerngedanke der anthroposophischen Sichtweise.
Ein Kind kommt in seinem Körper an. Man muss gar nicht Anthroposoph sein, um manchmal feststellen zu können: „Der steckt gar nicht richtig in sich drin!“ Es ist allgemein verständlich, dass man gut oder schlecht in sich „drin stecken“ kann. Man sieht, wie diese Persönlichkeit, die wir „Ich“ nennen, im eigenen Körper verankert ist.
Hier bin ich richtig. Hier bin ich erwünscht. Hier habe ich Raum.
Was geht unserer Geburt voraus? Es ist ja immer ein Wunder, das ich erleben darf, wenn ich die Neugeborenen sehe und gleichzeitig weiß, dass sie vor wenigen Tagen, für Blicke verborgen, noch im absoluten Paradies waren: Vor der Geburt – das ist das Paradies! Der Embryo wird getragen und genährt vom Mutterleib, er schwimmt im Wasser. Der Embryo erlebt nur ein Siebtel der Schwerkraft. Wie durch einen großen Filter abgemildert, dringt die Welt heran. Wir wurden in dieser wunderbaren Zeit getragen und durften, wenn die Schwangerschaft gesund war, erleben: Die Welt ist gut für mich eingerichtet, so dass ich ankommen darf als Mensch. (Das ist auch die Stimmung, in der das Kind in seiner ersten Lebenszeit eigentlich lebt: Die Welt ist gut!) Bei der Vorsorgeuntersuchung mit 3 Tagen ist es immer wieder wundervoll für mich zu sehen wie die Babies während des Präventionsvortrages mit der allergrößten Selbstverständlichkeit in den Armen ihrer Eltern liegen. Vor wenigen Tagen noch den Blicken verborgen ist es für sie jetzt offensichtlich ganz klar: Hier bin ich richtig. Hier bin ich erwünscht. Hier habe ich Raum. Natürlich gibt es mal Blähungen, das Baby quäkt, hat Hunger und schreit, danach ist es aber bald wieder zufrieden. Ohne uns hätte so ein Baby keine Lebenschance! Es bringt eine große Kraft mit, eine große Kraft des Vertrauens. Diese können wir Urvertrauen nennen.
Urvertrauen will sich in Selbstvertrauen verwandeln!
Und wie wollen wir später die Kinder in die Welt entlassen? Auch mit viel Vertrauen, und zwar vor allem mit Selbstvertrauen. Ganz dürfen wir als Mensch das Urvertrauen natürlich nicht verlieren, denn auch als Erwachsene können wir die Welt nicht komplett kontrollieren. Und doch: Selbstvertrauen ist von erheblicher Wichtigkeit im späteren Leben, damit nicht jeder Windstoß uns gleich umbläst. Denn die Welt, in die wir hineinkommen, ist auch rau, da wollen wir uns nichts vormachen. Das Kind braucht eine große Metamorphose dieser Vertrauenskräfte, um dann in der Welt wirksam werden zu können. Kindheit ist eigentlich eine Verwandlung der Vertrauenskräfte. Das Urvertrauen, das wir geschenkt bekommen haben, will sich in uns in Selbstvertrauen verwandeln! Und das braucht Zeit. Und wir Erwachsenen können den Kindern das Urvertrauen ziemlich schnell austreiben. Zum Beispiel durch Vernachlässigung, durch Misshandlung, Missbrauch und auch durch Überforderung – das alles zerstört Urvertrauen.
Und was verhindert Selbstvertrauen? Zum Beispiel Misstrauen! Ein bisschen Misstrauen ist vernünftig, aber es gibt leider heute immer mehr Misstrauen. Misstrauen nimmt zu, Vertrauen nimmt ab. Es gibt eine große Studie über das Vertrauen unter den Menschen in England: Fast zwei Drittel trauen ihren Mitmenschen nicht, Tendenz steigend.
Selbstvertrauen verhindert man auch durch ständiges Kritisieren und Entwerten. „Du taugst ja wieder nichts! Was stellst du dich wieder so an! Ich hab dir das schon tausendmal gesagt und du hast es wieder nicht hingekriegt!“ – solche verbalen Entwertungen zerstören Selbstvertrauen! Aber auch Überbehütung und Verwöhnung behindert die Entwicklung von Selbstvertrauen, denn zum Selbstvertrauen gehört Selber-Tun.
Und das Interessante ist, dass die Entwicklung von Selbstvertrauen Zeit braucht. Unsere Kinder sind heute mehr belastet und überfordert, als das vor 30 Jahren der Fall war, und zwar durch zu viel, zu früh, zu schnell.
„Lasst uns doch wieder mehr Langsamkeit in die Kindheit hineinbringen!“
Selbst die Entwicklungspsychologen sagen: „Lasst uns doch wieder mehr Langsamkeit in die Kindheit hineinbringen! Entschleunigung! Das Kind braucht Zeit, um hier anzukommen.“ Wenn wir die Kinder zu schnell in die Welt hinein werfen, geht Urvertrauen kaputt. Wenn wir ein Kind zu lange an uns binden, das heißt es zu viel von der Welt abschirmen, dann kann es kein Selbstvertrauen aufbauen. Unter beidem leiden die Kinder heute. Manchmal wird Kindern einerseits zu früh zu viel zugemutet, und gleichzeitig, beim Schlafen z.B., lässt man sie nicht los, dann müssen sie beispielsweise im Bett der Eltern schlafen. Die Eltern denken dann, es ginge nicht anders. Dabei weiß man, dass das ab einem gewissen Alter für die meisten Kinder nicht mehr angemessen ist!
Vom Kopf bis zum Fuß – das ist die leibliche Heimat
Zu diesem ersten Bild, nämlich der Entwicklung vom Urvertrauen zum Selbstvertrauen, brauchen wir noch ein weiteres: Wenn so ein geistiges Wesen auf die Welt kommt, bezieht es drei wesentliche Orte auf der Welt. Wir leben nämlich alle auf der Erde in drei großen Lebensfeldern, in denen wir uns gut beheimaten müssen. Das eine ist unser eigener Körper. Den „beziehen“ wir, indem wir beispielsweise die Organe ausbilden, Geschicklichkeit gewinnen und so mit dem Körper umgehen lernen, dass wir ihn als Werkzeug der eigenen Intention und des eigenen Lebensplanes später auch nutzen können. Ein himmlisches Wesen kommt in der körperlichen Heimat an. In meiner Zeichnung (Bild auf S. 8) sieht man die nach unten gehenden Pfeile: Der Mensch entwickelt sich tatsächlich vom Kopf in die Füße. Man kann an einem sich entwickelnde Kind beobachten: Der Mensch ist sozusagen am Anfang eine Kugel, und er wächst aus dem Kopf heraus. Wenn sich das Kind nach der Geburt entwickelt, beginnt die ganze Selbstwahrnehmung auch im Kopf!
Anfangs kratzt es sich ins Gesicht, kneift sich. Wir würden es gerne davor schützen. Aber das ist nicht nötig! Nach 4 bis 6 Wochen tut es das nicht mehr! Das Kind hat gelernt: Das ist mein Kopf. Nach 3 Monaten spielt es mit den Hände, schaut, wie das Licht durch die Finger fällt, greift, führt sie zusammen und steckt sie in den Mund. Und wenn das Kind mit 6 Monaten am Zehen nuckelt, kann man sagen: Das ist die halbe Miete frühkindlicher Entwicklung! Das Kind durfte sich von Kopf bis Fuß selbst begreifen.
Vom Kopf bis zum Fuß – das ist die leibliche Heimat.
Es gibt aber auch noch andere Orte, wo wir ankommen. Ein weiterer ist unsere räumliche Umgebung. Wir kommen auf der Erde an, wir bauen Häuser um uns herum, kleiden uns mit Kleidung – alles, was uns so umgibt, ist eine räumliche Beheimatung, ist unsere soziale Heimat. Es ist das Thema der „Hüllen“ und der Gestaltung der Umgebung. Für das Kind ist es zunächst das Bettchen und das Zimmer, dazu gehört der Duft, die Farben des Zimmers, die Geräusche im Raum. Später ist es die Wohnung, dann das Haus, noch später das Stadtviertel. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft, da wächst die Identifikation des Kindes mit dem eigenen Land, vielleicht auch mit Europa, mit dem Kontinent. Als Waldorf-Erzieher versuchen wir dahingehend zu wirken, dass sich der Jugendliche als Weltenbürger erlebt, also nicht mehr nur im kleinen Kontext. Auch dieses Beheimaten in der physischen Welt braucht seine Zeit.
Jeder Mensch möchte in sozialer Bindung leben
Das dritte große Feld, das wir beziehen, ist die soziale Heimat, die soziale Bindung. Jeder Mensch möchte in Bindung leben. Unser Lebensglück bemessen wir am meisten daran, was wir mit anderen Menschen erleben. Man kann in finanzieller Hinsicht ganz arm sein und trotzdem glücklich, wenn die sozialen Bindungen erfüllend sind. Wenn man am Lebensende steht und zurück schaut, dann ist es das Allerwichtigste, was man mit anderen Menschen erlebt hat – und interessanterweise wird dann besonders die eigene Familie wieder sehr wichtig! Sie steht am Anfang – und sie ist am Ende bedeutungsvoll.
Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die sich am Anfang des Lebens gut in der Bindung zu ihren Eltern aufgehoben fühlten und sich mit 20 Jahren auch noch daran erinnerten, mit 50 Jahren zu 50% weniger körperlich krank waren! Da merkt man die Kraft von Liebe und Bindung.
Die geistige Heimat bringen wir als Kind sozusagen mit
Zu alldem, was jetzt bereits dargestellt wurde, kommt natürlich noch eine vierte Heimat dazu – die geistige Heimat. Aus der kommen wir, die bringen wir als Kind sozusagen mit. Und wir müssen uns bemühen, dass wir sie nicht verlieren in dieser materiellen Welt.
Alle vier Lebensbereiche brauchen Pflege, brauchen Gestaltung, damit das Kind gut im irdischen Leben ankommt und damit ihm der erforderliche Raum für seine gesunde Entwicklung gegeben werden kann.
Und so muss man sich also in dieser irdischen Heimat zurechtfinden.
Idealerweise beginnt man mit der ADHS-Prävention schon vor der Geburt. Es ist durchaus sinnvoll, in der Schwangerschaft darauf zu achten, was man sich und dem Kind zumutet. Wir wissen heute, das zeigt die ganze Diskussion über die Schrei-Babies, dass das Problem der Unruhe schon im ersten Lebensjahr beginnt. Schreien, Schlafen, Essen sind die Felder, die immer problematischer werden im ersten Lebensjahr! Auch wenn man manchmal meint, dass sei subjektive Wahrnehmung, die haben früher genau so viel geschrieen wie heute, genau so viel geschlafen wie heute – es stimmt nicht. Die Forschung weiß, dass die Schlafsumme über vierundzwanzig Stunden abnimmt. Die Kinder sind eindeutig unruhiger.
Wenn die Mutter in der Schwangerschaft häufig sorgenvolle Gedanken hatte, dann schreit das Baby später mehr
Was kann man auch schon gegen diese Unruhe tun? Wir merken, wenn die Schwangerschaft unruhiger war, dass sich das aufs Kind überträgt. Es gibt eine Studie zu diesen Schlafstörungen, die zeigt: Wenn die Mutter in der Schwangerschaft häufig sorgenvolle Gedanken hatte, dann schreit das Baby später mehr. Die Früh-Diagnostik, die vielen Untersuchungen, die in der Schwangerschaft gemacht werden, führen auch zu stärkerer Unruhe der Eltern. Oft sind das dann auch falsche pathologische Befunde, die Ärzte sagen den Eltern, man wisse nicht und solle mal abwarten – auch dadurch wird die positive Grundstimmung getrübt. Manchmal sind die Untersuchungen sinnvoll, aber zu viel beunruhigt!
Die neue Hülle muss als sichere Basis erst erobert werden
Und wenn dann die Familien entbunden haben, bekommen sie von uns gleich den Rat, nicht in Hyperaktivität zu verfallen. Das gilt im Prinzip für alle Lebensstufen: Nicht zuviel mit den Kindern machen und nicht zu früh! Frisch nach der Geburt sollen sie ruhig erst mal zu Hause bleiben und zwei bis drei Wochen gar nicht groß rausgehen. Erst mal zu Hause ankommen, diese neue Hülle muss als sichere Basis erobert werden. Es soll dann ganz langsam und altersgemäß weitergehen mit diesen Kreisen der Welteroberung, die sich immer mehr ausweiten. Es ist ganz wichtig, Kinder nicht zu früh zu allen Sachen mitzunehmen, zu Einkäufen, Erledigungen, Flohmärkten, in Cafés usw. Beispielsweise werden die Babies sehr früh, in den Tragetüchern, mitgenommen. Und dann rattert da die Müllabfuhr vorbei – das sind gleich mal 120 Dezibel. Das ist tatsächlich so: Nicht immer, wo es uns gut geht, geht es auch dem Kind gut. Diesen Lernschritt versuchen wir den Eltern nahe zu bringen.
Es gibt heute immense Angebote: Ich nenne sie die „Baby-activity-groups“, Krabbelgruppen, Baby-Massage, Baby-Schwimmen usw. Da raten wir: Weniger ist mehr. Das ist die Grund-Botschaft, gerade in der Anfangsphase. Man sollte eigentlich erst ab dem vierten Monat zu so etwas gehen, und dann möglichst nur eine Sache pro Woche! Und man kann das auch noch qualitätsmäßig auswählen. Wir bevorzugen lieber die Spielraum-Gruppen nach Emmi Pikler, das sind Krabbelgruppen für Kinder, wo sich die Eltern in Zurückhaltung üben. Die Eltern sitzen nur im Kreis, schauen zu, und die Kinder bekommen nur basale Spielangebote, ganz einfache Sachen. Sie werden nicht be-spielt, das heißt, dass sie nicht ständigen Stimulationen und Sinnesreizen ausgesetzt sind. Auf jeden Fall sollte man immer darauf achten, dass es nicht in Richtung Reizüberflutung geht. Die Reizüberflutung fängt sehr früh an, nämlich im Kinderzimmer. Es gibt z.B. Benjamin Blümchen im Doppeldecker, mit drei verschiedenen Geschwindigkeiten, mit drei akustischen Geräuschen untermalt, sogar mit Fernbedienung. Das Kind wird berieselt, und wenn es „rumzickt“ – wie der Berliner sagt – dann drücke ich eben mal auf den Knopf, und dann macht es keine Schwierigkeiten mehr. Das sind alles „Ablenkungsgeräte“. Wir versuchen das humorvoll an die Eltern heranzubringen, damit sie es dann leichter haben, solche Dinge weg zu schaffen.
Spielzeug, das gar kein Spielzeug ist!
Diese Ablenkung ist nämlich eine Ablenkung vom Wesentlichen. Denn womit spielt ein Krabbelkind eigentlich am liebsten: Mit Töpfen, Bechern. Es räumt Bücherregale leer, fährt mit den Schuhen durch die Gegend usw., – das ist viel interessanter! Doch was finden wir heute in den Kinderzimmern? Spielzeug, das gar kein Spielzeug ist! Es gibt einen Fachausdruck heute, der heißt: Vermüllung der Kinderzimmer. Das ist das Riesen-Problem. Ein Spielzeug, das sich selber bewegt, wenn man auf einen Knopf drückt, das brauchen Sie gar nicht erst zu kaufen. Es ist Reizüberflutung, regt nicht zur Phantasie und Eigenaktivität an. Wie kann man Unruhe bei Kindern vermeiden? Das ganze Zeug wegschmeißen!
Natürlich darf es ab einem gewissen Alter sein, wenn etwas Verständnis aufgebaut ist, dass das Kind etwas selber konstruiert. Leider kam schon die Brio-Bahn – da war ich echt enttäuscht – plötzlich mit einer elektrischen Lokomotive heraus, sie fuhr mit einer Batterie. Das ist wirklich schade, weil dieses ganze vertiefte Spielen mit der Brio-Bahn überdeckt wurde. Aber Gott sei Dank gehen diese Lokomotiven dann schnell kaputt – bei unseren eigenen Kindern auch – und dann muss man doch wieder schieben.
Baby-Schwimmen ist auch etwas, wogegen ich mich immer ausspreche, auch wenn es sehr verbreitet ist. Es gibt nur wissenschaftlich erwiesene Nachteile über das Baby-Schwimmen, nämlich eine erhöhte Anfälligkeit für Luftwegs-Erkrankungen. Irgendein Entwicklungsgewinn konnte bisher nicht bewiesen werden.
Es ist von Erwachsenen aus gedacht, die selber gerne schwimmen: „Ach, das ist ja so schön im Mutterleib, und dann sind da noch die alten Reflexe, die muss man schnell mal nutzen, damit das Baby keine Angst vorm Wasser bekommt.“ Aber weder vorher noch nachher kann das Baby schwimmen! Schon der Begriff ist eigentlich eine Lüge. Leider sind das Tauch-Veranstaltungen! Wenn man sich ein entsprechendes Video von den ersten Stunden ansieht: Panik, verzerrte Gesichter, usw. Die Kinder haben Ertrinkungs-Angst. Die wird ihnen dann verhaltens-therapeutisch aberzogen, denn es kommt immer rechtzeitig jemand und zieht das Kind wieder heraus. Dadurch wird dem Baby die Angst vor dem Wasser genommen, nur: Es ist nicht sinnvoll, keine Angst vor dem Wasser zu haben und nicht schwimmen zu können!
Ich will damit nur zeigen, wie oft wir Erwachsene eigene Vorstellungen und Wünsche auf die Kinder projizieren und denken, das könnte schön für die Kinder sein.
Das Einzige, das wirklich hilft, ist Beziehung
Weiterhin ist es wichtig, sich das Beziehungsfeld anzuschauen. Das ist ein ganz wesentliches Feld. Wir wissen heute aus der Jugendhilfe: Das Einzige, das wirklich hilft, ist Beziehung. Ein schwieriger Jugendlicher hat dann eine gute Prognose, wenn er jemanden findet, der ihn annimmt. Häufige Beziehungsabbrüche, schnelle Betreuerwechsel in der Jugendhilfe führen praktisch nie zum gewünschten Erfolg. Was hilft, ist: „Da ist ein Mensch, der zu mir hält.“ Wenn man das weiß, kann man viele Probleme, auch mit schwierigen Kindern, irgendwie meistern! Dann kann der Jugendlich lernen, dass getrennt wird zwischen Person und Verhalten. „Zu dir als Mensch stehe ich, du bist wertvoll wie jeder andere, du gehörst zu uns; dein Verhalten aber kann ich nicht immer dulden, daran üben wir, auch bis zur Schmerzgrenze.“ Sich verändern kann auch weh tun. Selbsterkenntnis ist nie ganz schmerzlos. Sie wird möglich, wenn uns jemand darin begleitet, uns Halt und Bindung gibt. Dabei helfen klare Konsequenzen, klare Regeln, klare Verabredungen.
Beziehung halten und klare Konsequenzen ziehen
Es ist wichtig zu wissen, wie man Regeln im Sinne der Konsequenz einhält. Strafe ist nicht o.k., wenn sie die Person treffen soll. „Der soll mal richtig sehen, wie es mir mit ihm geht“ – das hat keinen direkten Bezug zu der Sache. Wichtig beim Einhalten von Regeln ist natürliche Konsequenz: Wenn ich nicht aufgegessen habe, dann gibt’s keinen Nachtisch. Das gilt aber nur, wenn das Kind sich selber etwas auf den Teller genommen hat! Es soll lernen, beim nächsten Mal ein bisschen besser darauf zu achten, was es tut. Die Vergünstigung Nachtisch gibt es erst, wenn ich aufgegessen habe; die Vergünstigung Fußball gibt es erst, wenn ich die Hausaufgaben fertig gemacht habe … .
So müssen wir auch mit AD(H)S-Kindern umgehen! Auf der einen Seite die Beziehung halten und pflegen, Wertschätzung zeigen, immer wieder zusammen schöne Dinge machen und auf der anderen Seite klare Strukturen einhalten und klare Konsequenzen ziehen. Und dann ist auch noch wichtig: Erreichbare Ziele setzen! Die Berge, z.B. der Hausaufgaben, nicht zu hoch auftürmen.
Es gibt verschiedene Formen der Prävention. „Primäre Prävention“ ist, wenn eine Krankheit total verhindert werden soll. „Sekundäre Prävention“ ist, wenn man eine Krankheit schon früh erkennt und behandelt, bevor sie großen Schaden angerichtet hat. Die Krebs-Früherkennung beispielsweise ist eine typisch sekundäre Präventionsmaßnahme. „Tertiäre Prävention“ heißt, dass das Problem zwar schon da ist, aber man nun versucht, die Auswirkungen des Problems zu minimieren und Folgeprobleme zu vermeiden. Bei AD(H)S ist das ein ganz wesentlicher Punkt. Denn AD(H)S-Kinder haben in der Regel mit sich selbst gar kein Problem. Die leiden primär gar nicht an sich! Im Gegenteil! Wir haben mal eine Liste zusammengestellt von positiven Eigenschaften der AD(H)S-Kinder: sie sind innovativ, kreativ, flexibel, können anderen äußerst schnell verzeihen, haben Interesse am Anderen, sind mitteilungsfreudig, lieben die Natur und die Tiere, sind gern draußen; sie sind hilfsbereit, auch wenn es meistens zu heftig wird, denn die Wahrnehmungsfähigkeit, wie weit man gehen darf, ist schwach. Diese Kinder haben viele positive Eigenschaften. Und das Problem bekommt so ein AD(H)S-Kind eigentlich erst durch die Anderen, durch die Rückmeldungen, durch das negative Feedback, „du störst hier“, „du bist zu plump“. Sie machen das ja nicht absichtlich, aber es fehlt ihnen diese Wahrnehmung. Beispielsweise will so ein AD(H)S-Kind bei einer Gruppe spielender Kinder mitmachen und bestimmt dann aber, wie weiter gespielt werden soll. Das finden die anderen Kinder natürlich nicht so toll. Aber das Kind merkt gar nicht, dass es da zu grob ist.
Wenn AD(H)S nicht behandelt wird, besteht die Gefahr der Delinquenz, d. h. einer kriminellen Laufbahn. 50% der Kinder mit einem unbehandelten AD(H)S hatten acht Jahre nach der Erstdiagnose schon mal etwas geklaut. Der soziale Abstieg ist eine große Gefahr beim unbehandelten AD(H)S-Kind.
Sie bekommen negatives Feedback, das Selbstwertgefühl geht ganz stark in den Keller, und es entsteht das Gefühl: „Ich kriege sowieso alles nie so hin, wie es die Anderen wollen“. Das ist ein großes Problem in der Schule, oft auch in den Waldorfschulen. Es gab kürzlich einen Super-Leitartikel von Remo Largo in der pädiatrischen Zeitschrift „Der Kinderarzt“ über unser Schulsystem und die individuelle Beschulungsfähigkeit. Er sagt: „Wir schaffen es leider nicht, individuell zu beschulen!“, das heißt, jeden seiner Fähigkeiten gemäß zu fördern. Die Normalität wird immer zusammengefasst von der sogenannten „Gaußschen Normalverteilung“: 50% ist die Mitte, daran gemessen gibt es immer sehr langsame und sehr schnelle Kinder, und irgendwann wird dann jemand als „pathologisch“ bezeichnet. Wir haben es einfach schwer mit diesen Randkindern!
Ein AD(H)S-Kind braucht kurze Etappen
Und wenn die jetzt z.B. zu viel Hausaufgaben aufbekommen, oder man fordert von ihnen, dass die Hausaufgaben erst mal fertig gemacht werden müssen, dann ist das falsch. Ein AD(H)S-Kind braucht kurze Etappen, 15 – 20 Minuten Hausaufgaben, und dann braucht es wieder Bewegung! Man muss das Leistungsniveau individuell anpassen. Man kann nicht fordern, dass der Klassendurchschnitt erreicht werden muss, weil die Kinder dann abschalten und nichts mehr lernen.
Was braucht man, um positiv zu lernen? Erfolgserlebnisse und das Gefühl, etwas schaffen zu können. Man muss aufpassen, dass das Selbstwertgefühl der Kinder nicht kaputt gemacht wird, d. h. wir müssen uns ihnen entsprechend verhalten. Die Lehrer müssen auch mal sagen: „Ihr braucht nur so viele Aufgaben zu machen, wie sie euch gut tun.“ Die AD(H)S-Kinder sind zwar impulsiv, aber in der Verarbeitung langsam. Das muss man wissen. Beim Intelligenz-Test sehen wir oft, dass sie eine hohe Intelligenz haben, aber die Arbeitsgeschwindigkeit und die Verarbeitungsgeschwindigkeit fallen völlig raus. Sie denken eigentlich schneller, als sie es verstehen können und kommen dann in einen Konflikt. Sie ahnen das Ergebnis, aber der Weg dahin, die Schritte alle aufzuschreiben und es exakt zu ermitteln, ist eine Qual. Sie schreiben dann irgendwas hin, was ungefähr in die richtige Richtung geht, das Ergebnis ist aber leider falsch. Und wenn sich das wiederholt und wiederholt, hat das Kind kein Vertrauen mehr, dass es positiv lernen kann. Dann schalten die Kinder ab, gehen einfach auf Pause – in den „Schlummermodus“.
Nun möchte ich noch mal auf das Problem der Körperbewegung kommen: Kinder brauchen Raum für Bewegung. Das ist ein ganz wichtiges Prophylaktikum! Es gibt eine Studie – ich habe gerade an unserer Waldorf-Schule, die ich mitbegründet habe, ohne Erfolg dafür gekämpft: Jeden Tag eine Stunde Sport. Es gibt eine tolle Studie, die zeigt, dass die Kinder in den Klassen weniger Gewalt, weniger Aggressivität, mehr Toleranz und bessere Lernergebnisse haben, wenn sie jeden Tag körperlich Sport treiben und in den Pausen mehr Bewegungsfelder haben. Auf dem Land fallen die AD(H)S-Kinder nicht so auf, weil sie einfach den Raum für Bewegung haben.
Man kann auch etwas für die Beziehung tun – und gerade für die Beziehung zu den Vätern. Den Jungs fehlt es in den Grundschuljahren an männlichen Lehrern. Man weiß, dass die Jungs immer schwieriger werden, unter anderem deshalb, weil sie so wenig männliche Modelle haben. Wenn zu Hause nur noch Krise, Zank und Streit herrschen, die Hausaufgaben nicht gemacht werden, sich die Lehrer beschweren, dann muss man Beziehungsarbeit leisten. Wenn dann der Vater am Wochenende mit dem Kind paddeln geht, wandern, Fahrrad fahren oder klettern oder so etwas, wirkt das gegen die aufgehäuften Schwierigkeiten.
Daraus hat sich ein ganzer Zweig der Pädagogik entwickelt, die Erlebnis-Pädagogik. Wir wissen: Kinder brauchen Erlebnisse. Nicht so viel Gedanken, nicht so viel Ideen, sondern Erlebnisse!
Da bleibt aber noch die „geistige Heimat“. Was hält den Menschen gesund? Man weiß aus der sogenannten Salutogenese, der Gesundheitsforschung, dass eine spirituelle Weltsicht Gesundungskräfte in sich birgt. Menschen, die eine spirituelle Lebensweise haben, die irgendwie religiös sind oder geistige Inhalte pflegen, sind gesünder.
Wir merken, wie wichtig es ist, diese vier Lebensfelder zu pflegen. Das Konzept der 4 Heimaten können wir unter den verschiedensten Gesichtspunkten nutzen: pädagogisch-präventiv, diagnostisch und auch therapeutisch. Immer können wir uns fragen: Was braucht das Kind für seine gesunde Entwicklung in diesen 4 Lebensbereichen? Was fehlt? Wo braucht es Unterstützung?
Die geistige Ebene ist die Quelle des Vertrauens
Wenn wir z.B. auf das Problem der Schlaf-Störungen schauen: Kinder mit Schlaf-Störungen leiden meistens an Störungen des Vertrauens. In den wenigsten Fällen ist das organisch bedingt, das ist unter 5%, die Ursache ist fast immer seelischer Natur. Und man muss sich immer die Frage stellen: „Wie stärke ich das Vertrauen?“ Prophylaktisch stärkt man die Vertrauensebene z.B. dadurch, dass man eine sinnvolle Lebensgestaltung in das Leben der Kinder hinein bringt. Dazu gehören regelmäßige Tagesgestaltung, Rituale, ein Tischgebet, ein Abendgebet. Kinder lieben Gebete – die Art der Religion ist ihnen egal! Da nehmen sie natürlich, was ihnen die Eltern vorleben. Es kann auch ein Spruch sein oder ein Liedchen, aber es muss ein Ritual sein. In der Jugendhilfe versuchen wir das wieder mühsam herzustellen, auf den AD(H)S-Stationen werden Rituale wieder eingeführt. Wenn das schon therapeutisch wirkt, so wirkt es prophylaktisch natürlich umso mehr. Deswegen gehören Rituale zu einem Präventions-Programm dazu. Für Kinder, die schlecht einschlafen, gibt es z.B. wunderbare Schutzengel-Geschichten, damit die Vertrauenssphäre in die geistige Welt für die Kinder zugänglich wird. Wir können auf dieser Erde nicht alles kontrollieren, aber es hilft, wenn wir Misslungenes und Bedrohungen an diese geistige Ebene abgeben können.
Wo könnten wir dann noch etwas tun? Beispielsweise ist am Abend mal eine Massage angebracht. Öleinreibungen am Abend – da fühlt sich das Kind im Körper wohl, und gleichzeitig tut man etwas Gutes für die Beziehung. So ein Ritual wie eine Ölmassage, egal wie der Tag war, das hilft. Solche Beziehungseinheiten gibt man dem Kind unabhängig von seinem Verhalten. Eltern sollten nie mit Liebesentzug strafen. Die Kinder honorieren das sofort, wenn sie als Person gemeint sind. Vielleicht waren sie garstig, haben sich eine Rüge einkassiert, dort gab es wieder Streit, usw., aber jetzt abends atmet man aus, jetzt ist wieder Beziehung dran. Man schaut gemeinsam, was heute war, auch was schön war, und dann taucht man in die Kräfte der Nacht und nimmt die Kräfte der Versöhnung mit, so dass der Mensch am Morgen wieder gestärkt erwachen kann.
(redaktionelle Bearbeitung: Uwe Rosenfeld/Christine Pflug/Christoph Meinecke)
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