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Anthroposophie und Psychologie
Teil I. Zusammenfassung eines Vortrages von Dr. med. Wolfgang Rißmann, Psychiater
„Die Psychologie findet heute allenthalben Interesse, sie gilt als etwas, woran wir alle Anteil haben … denn wir alle sind der Stoff, von dem die Psychologie handelt.“ So die Aussage von zwei Psychologie-Professoren. Was aber ist die Seele? Die alten griechischen Philosophen sprachen von ihr, aber in der Wissenschaft der Neuzeit wird ausgeschlossen, dass eine Seele existiert.
Wolfgang Rißmann hielt diesen Vortrag am 7. September 2022, veranstaltet vom Zweig am Rudolf Steiner Haus.
Dr. med. Wolfgang Rißmann ist Facharzt für Psychiatrie und war leitender Arzt und Qualitätsmanager an der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach bei Freiburg i.Br. Er ist in der Ausbildung von Medizinstudenten, Ärzten, Pflegenden und Therapeuten tätig. Vielfältige Vortrags- und Seminartätigkeit zu den Themen der allgemeinen Anthroposophie und Prävention psychischer Krankheiten. Besonderer Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung von anthroposophischen Arzneimitteln bei psychischen Krankheiten. Seit Februar 2014 Privatpraxis für Psychiatrie in Hamburg-Volksdorf.
Was kann die Anthroposophie zur Weiterentwicklung der Psychologie beitragen? Die moderne Psychologie, die heute an den Universitäten gelehrt und auch praktiziert wird, hatte ihre Geburtsstunde 1879 in Leipzig, als der Philosoph, Physiologe und Psychologe Wilhelm Wundt (1832-1920) das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete. Seelisches Erleben wurde Gegenstand wissenschaftlicher Objektivität. Die Folge war gleichzeitig der Verlust eines eigenständigen Seelenbegriffs. Psychische Phänomene wurden nur noch als Hirnfunktionen verstanden ohne eigene Realität. „Mit zureichender Sicherheit lässt sich wohl der Satz als begründet ansehen, dass sich nichts in unserem Bewusstsein ereignet, was nicht in bestimmten physiologischen Vorgängen seine körperliche Grundlage fände.“¹ Diese Anschauung setzte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart fort. Dazu bemerkt der Kognitionswissenschaftler Markus Peschl: „Im gegenwärtigen vor allem durch die Naturwissenschaften geprägten akademischen Diskurs ist es nicht nur unüblich, sondern nahezu anstößig geworden, über die Seele zu sprechen. Es findet nicht nur ein ‚nicht-Gebrauch‘, sondern ein explizites Ausschließen und Ausgrenzen des Begriffs der Seele statt.“² Dieses naturwissenschaftliche Paradigma der Seele gelte es zu hinterfragen, so Peschl.
Psychologie ist z. Zt. eine Modewissenschaft mit einer großen Expansion.
Wenn man sich mit Anthroposophie befasst, bemerkt man verwundert, dass der Begriff Seele in der Psychologie, die ja eine Seelenwissenschaft ist, ausgeschlossen wird. In der Einleitung ihres Grundlagenwerkes Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder (1996) schreiben die Psychologie-Professoren Dietrich Dörner und Herbert Selg: „Wir tasten uns zur Beantwortung unserer Frage, was Psychologie sei, nun ein Stück weiter. Unter anderem ist Psychologie z. Zt. eine Modewissenschaft mit einer großen Expansion. Die Zahl derer, die Psychologie studieren wollen, übertrifft das Studienangebot bei weitem. Viele, die sich der Psychologie nähern, kommen mit Riesenerwartungen und Riesenbefürchtungen zugleich: Man erhofft Hilfe im Kampf mit den Schwierigkeiten des Alltags, im Bemühen um die eigene Stabilität und gegen die eigene Unsicherheit; man fürchtet aber auch den diagnostischen Blick der Psychologen und seinen verborgenen, dafür umso tiefer gehenden Einfluss in der Werbung, in der Politik usw. […] Die Psychologie findet allenthalben Interesse; sie gilt als etwas, woran wir alle Anteil haben. Physik und Mathematik, Geographie und Geschichte lassen manchen kalt, Psychologie hingegen kaum; denn wir alle sind der Stoff, von dem die Psychologie handelt.“³
Im Weiteren erklären die Autoren, dass die Seele als etwas unsterblich Gedachtes, wie die Religionen vermuten, nicht Gegenstand der Psychologie sei. Noch weiter, mit einer gewissen Bescheidenheit, heißt es dann, dass die Psychologie bei ihren Bemühungen, ihre Probleme wissenschaftlich zu lösen, auf Schwierigkeiten stoße und dass sie noch recht wenig entwickelt sei. Es besteht bei diesen renommierten Psychologie-Professoren nicht die Meinung, dass man schon die richtige Methode habe, sondern noch sehr am Anfang stehe.
alles, was erlebbar ist und/oder sich im Verhalten äußert
Weiterhin erwähnen die Autoren die beiden Grundbegriffe der gegenwärtigen Psychologie: Das Erleben und das Verhalten: „Fassen wir – mit ganz anderen Worten – einmal kurz zusammen: Gegenstand der Psychologie kann alles werden, was erlebbar ist und/oder sich im Verhalten äußert […] Wir sehen eine empirische Wissenschaft wie die Psychologie als einen Bereich von Fragestellungen und objektiven Sätzen, die in Theoriesystemen zusammengefasst sind und auf systematische Beobachtungen gründen bzw. durch systematische Beobachtungen überprüft werden.“ ⁴ Da zeigt sich etwas Bemerkenswertes: Erleben bezieht sich auf die eigenen Gefühle, Empfindungen, Gedanken, Stimmungen usw. Das ist alles innerlich. Verhalten hingegen lässt sich äußerlich beobachten und exakt beschreiben. Die wissenschaftliche Psychologie sah in ihren Anfängen das Erleben als unklar und mysteriös an und ließ nur das äußerlich beobachtbare Verhalten gelten.
In den letzten hundert Jahren machte die Psychologie enorme Fortschritte und etablierte sich in allen Lebensfeldern. Die Themen der gegenwärtigen Psychologie sind stark spezialisiert: wir haben eine biologische Psychologie, eine Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie, Wirtschafts-, Verhaltens-, Lern-, Neuro-, Notfallpsychologie usw. Die Entwicklungspsychologie beispielsweise hat sich inzwischen auch auf die Entwicklung des älteren Menschen erweitert, da gibt es sehr differenzierte Beobachtungen. In der Persönlichkeitspsychologie wird die Frage gestellt, was eigentlich das Ich des Menschen sei.
Die gegenwärtige Psychologie spricht nicht von der Seele.
Die gegenwärtige Psychologie spricht also nicht von der Seele als solcher, sie beschreibt beobachtbares psychisches Vermögen, psychische Tätigkeit usw.
(An dieser Stelle wurde mit dem zuhörenden Publikum die Übung gemacht: Was ist die Seele des Menschen? Gibt es so etwas wie eine Ganzheit, etwas Wesenhaftes in mir und dem anderen Menschen, von dem man sagen kann: Es ist die Seele des Menschen? Gibt es das überhaupt, und kann man es bemerken? Anschließend wurden die verschiedenen Beschreibungen ausgetauscht.)
Es ist eine Grenzfrage: Was ist die Seele? Im gewöhnlichen Bewusstsein ist das unmittelbare Erleben der eigentlichen Seele zunächst noch sehr zart, und es gilt, es überhaupt erst zu entdecken. Denn vordergründig bemerken wir Stimmungen, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen, Verhaltensweisen o.ä., aber das ist noch nicht das Vermögen, die Seele als ein inneres Wesen wahrzunehmen. Geschweige denn, was nach dem Tod mit der Seele geschieht. Aber auch da gibt es Grenzwahrnehmungen.
Die vorsokratischen Philosophen sprachen von der Seele als einer geistigen Realität.
Im Folgenden ein kurzer Exkurs in die Geschichte. Die vorsokratischen Philosophen, vor allem Heraklit, sprachen von der Seele als einer geistigen Realität. Heraklit erklärte „der Urgrund sei die Seele“, und er bezeichnete sie unsterblich, denn nach der Trennung von dem Leibe kehre sie in die Allseele zu dem ihr Verwandten zurück. Und sein bekanntes Zitat lautet: „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest, so tiefgründig ist ihr Wesen“. ⁵ Die Vorsokratiker erlebten die Seele als ein Wesenhaftes, aber als ein Rätselwesen; sie hatten den Eindruck, die Seele stamme aus einer anderen Welt und gehe dorthin wieder zurück.
Platon und Aristoteles äußerten sich mehrfach über die Seele. Bei Platon heißt es: „Was die Seele wirklich ist, das ist lang, und nur ein Göttermund könnte es aussprechen. Doch ihr Gleichnis ist kürzer und kann durch Menschenmund so ausgesprochen werden: Die Seele ist gleich der Kraft, die einem gefiederten Gespann und einem Wagenlenker innewohnt. Pferde und Wagenlenker der Götter sind nun alle gut und von guter Herkunft: die der anderen (der Menschen) aber sind gemischt. Bei uns nun lenkt zunächst der Führer das Gespann: darauf erweist sich ihm das eine Pferd als edel und gut und von ebensolcher Herkunft, das andere dagegen von entgegengesetzter Herkunft und Beschaffenheit, wild und unedel. Die Lenkung des Wagens ist also bei uns (den Menschen) notwendig beschwerlich und mühsam.“ ⁶
In diesem mythologischen Bild sprach Platon von drei Entwicklungsstufen der Seele: dem Wagenlenker, dem edlen und dem unedlen Pferd. Dabei handelt es sich bei dem Wagenlenker um die Vernunftseele (göttliche Natur), bei dem edlen Pferd um die mutartige Seele (höhere Natur) und bei dem unedlen Pferd um die Begierden-Seele (niedere Natur).
Aristoteles schrieb ein umfassendes Werk über die Seele (De anima), aus dem Philosophen und sogar Neurowissenschaftler bis heute noch schöpfen. Er untersuchte die Seele in ihren verschiedenen Kategorien. Hier war allerdings noch nicht von den drei Grundfähigkeiten Denken, Fühlen und Wollen die Rede; diese tauchten erst im 18. Jahrhundert bei dem Philosophen Johann Nicolas Tetens (1736-1807) auf. ⁷
Durch das Christentum bekam die Frage nach der Seele eine ganz neue Wendung.
¹ Wundt, W.: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Verlag Wilhelm Engelmann Leipzig 1874. S. 858.
² Peschl, M. F.: Die Rolle der Kognitionswissenschaft und der Neurowissenschaft. Auf der Suche nach dem Substrat der Seele. Verlag Königshausen & Neumann Würzburg 2005. S. 9 f.
³ Dörner, D., Selg, H.: Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 1996. S. 18.
⁴ Ebd. S. 24 f.
⁵ Capelle, W. (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1963. S. 148.
⁶ ⁷Platon: Phaidros, 246a-b. In: Platon Sämtliche Werke, Band 5. Rowohlt Verlag Reinbek 1971. S. 27.
⁷ Tetens, N.: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Verlag Weidmanns und Reich Leipzig 1777.
Fortsetzung dieses Beitrags finden Sie im Hinweis April 2023