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Anthroposophie und Psychologie Teil II
Zusammenfassung eines Vortrages von Dr. med. Wolfgang Rißmann, Psychiater
Ist die moderne Psychologie eine Naturwissenschaft, deren Ziel die Voraussage und Kontrolle des Verhaltens ist? Oder kommt es auf das Erleben des Menschen an? Welche Rolle spielt der Geist, insofern man diesen überhaupt anerkennt, in seinem Verhältnis zum Leib und zur Seele des Menschen? Es gibt dazu verschiedene Meinungen und Strömungen, die bis heute nicht geklärt sind. Wie hat sich Rudolf Steiner zu diesen Fragen geäußert? Er gibt keine Definitionen, sondern weist auf Wege hin, sich diesen Themen zu nähern.
Wolfgang Rißmann hielt diesen Vortrag am 7. September 2022, veranstaltet vom Zweig am Rudolf Steiner Haus.
Dr. med. Wolfgang Rißmann ist Facharzt für Psychiatrie und war leitender Arzt und Qualitätsmanager an der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach bei Freiburg i.Br. Er ist in der Ausbildung von Medizinstudenten, Ärzten, Pflegenden und Therapeuten tätig. Vielfältige Vortrags- und Seminartätigkeit zu den Themen der allgemeinen Anthroposophie und Prävention psychischer Krankheiten. Besonderer Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung von anthroposophischen Arzneimitteln bei psychischen Krankheiten. Seit Februar 2014 Privatpraxis für Psychiatrie in Hamburg-Volksdorf.
Den ersten Teil dieses Vortrages finden Sie im Hinweis-Heft März, in der Print-Ausgabe oder online unter www.hinweis-hamburg.de
Durch das Christentum erhielt die Frage nach der Seele eine ganz neue Wendung. Es galt, die Seele von ihren Unvollkommenheiten zu reinigen und in ihren Fähigkeiten weiterzuentwickeln im Hinblick auf den geistigen Auftrag der Menschheit. Bei dem achten ökumenischen Konzil von Konstantinopel 869 unterschied man nicht mehr zwischen Seele und Geist, sondern anerkannte nur noch die Seele. Man sprach von der Seele, die dem Leib gegenüberstehe. Damit begann der Leib-Seele-Dualismus.
Thomas von Aquin (1225-1274) und Johannes Scotus Eriugena (* im frühen 9. Jahrhundert; † im späten 9. Jahrhundert) hielten an der Dreigliederung des Menschen noch fest: Leib, Seele und Geist. Thomas von Aquin schrieb: „Die menschliche Seele besitzt eine solche Fülle verschiedener Vermögen, weil sie im Grenzgebiet der geistigen und körperhaften Wesen wohnt. In ihr vereinigen sich die Kräfte beider Seinsbereiche.“ ¹ Dieselbe Formulierung findet sich auch in der „Theosophie“ Rudolf Steiners im 2. Kapitel erster Satz: „In der Mitte zwischen Leib und Geist lebt die Seele.“ ²
Leib-Seele-Dualismus oder Leib-Seele-Geist?
Im Nominalismus des Mittelalters verblasste diese Anschauung, es dominierte immer mehr der Leib-Seele-Dualismus. Der Philosoph Descartes (1596-1650) fixierte später diesen Dualismus: „Der Leib ist maschinenähnlich wie eine mechanische Uhr. Die Seele hingegen ist einheitlich und immaterieller Natur.“ Er hatte noch eine Ahnung von der geistigen Herkunft der Seele, betrachtete den Leib aber als reinen Mechanismus. Wie Seele und Leib zusammenarbeiten, war für ihn ein völliges Rätsel. Die Kognitionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts wie z.B. Gerhard Roth setzten an dem Leib-Seele-Dualismus von Descartes an, ohne ihn allerdings lösen zu können.
Im 18. Jahrhundert vertrat der französische Philosoph Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723-1789), einer der Begründer des Sensualismus und Materialismus, die Auffassung, dass die Sinne das seelische Leben bestimmen. Alle seelischen Tätigkeiten wie Denken, Fühlen und Moralität leiten sich aus den Sinnen ab. Eine von innen tätige Seele gebe es nicht. Im 18. Jahrhundert entstanden damit Vorformen der modernen empirischen Psychologie. Der wenig bekannte Philosoph Johannes Nicolas Tetens (1736- 1807) war der erste, der von Gefühl, Verstand und Wille sprach. Diese Gliederung der Seele stammt also nicht aus der Antike, sondern ist in der Zeit der Aufklärung und des deutschen Idealismus entstanden. Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) griff diese Gliederung auf, aber auch Goethe (1749-1832) und andere. In der gegenwärtigen Psychologie spricht man von Kognition, Affektivität sowie Antrieb und Psychomotorik, in der Anthroposophie von Denken, Fühlen und Wollen.
Am Beginn des 19. Jahrhunderts suchte der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) eine spirituelle Anschauung der Seele zu entwickeln, die dann teilweise von der anthropologischen Philosophie des 20. Jahrhunderts aufgegriffen wurde, aber nicht in die moderne Psychologie eingeflossen ist. Dann trennte sich im 19. Jahrhundert die Psychologie von der Philosophie, während sie bislang Inhalt der Philosophie war. Die Philosophie hatte an Kraft verloren, konnte nicht mehr viel Neues entwickeln.
vier methodische Ansätze
Wenn man sich das 20. Jahrhundert und unsere heutige Zeit vergegenwärtigt, findet man vier methodische Ansätze für die Seelenkunde:
– naturwissenschaftliche Ansätze
– erlebnisorientierte Ansätze
– philosophische und anthropologische Ansätze
– spirituelle Ansätze der anthroposophischen Menschenkunde
Der erste Ansatz ist die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, die auf dem Behaviorismus und der Verhaltenstherapie aufbaut. Psychologie wird wie ein physikalisches oder chemisches Experiment betrieben, sonst ist sie keine Wissenschaft. Der US-amerikanische Psychologe John Broad Watson (1878-1959) als einer der Begründer des Behaviorismus schrieb: „Die Psychologie ist aus der Sicht des Behaviorismus ein rein experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Voraussage und Kontrolle des Verhaltens. Die Introspektion zählt nicht zu ihren Methoden. Noch hängt der wissenschaftliche Wert ihrer Daten davon ab, wie leicht sie sich in den Begriffen des Bewusstseins interpretieren lassen. Der Behaviorist erkennt keine Trennlinie zwischen Mensch und Tier, insofern er ein einheitliches Verständnis des Tieres anstrebt. Das Verhalten des Menschen ist in all seiner Verfeinerung und Komplexität nur ein Teil dessen, was der Behaviorist untersuchen möchte.“ ³ Diese radikalste Form der naturwissenschaftlichen Psychologie wird heute eher selten vertreten.
Es gab einen zweiten methodischen Ansatz am Beginn des 20. Jahrhunderts, der von Sigmund Freud (1856-1939), Carl Gustav Jung (1875-1961) und Alfred Adler (1870-1937) ausging, den drei bedeutenden Psychoanalytikern. Sie vertraten die Ansicht: Wenn wir eine Psychotherapie begründen wollen, dann müssen wir auf das Erleben des Menschen eingehen. Das Erleben erforschen wir durch Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Introspektion. Ihnen war klar, dass wir mit dem Fokussieren auf das Verhalten, das wir mit den Tieren gemeinsam haben, nicht so viel weiterkommen. Allerdings ist es bis heute so, dass in der Psychotherapiediskussion viele Psychotherapeuten nur die Verhaltenstherapie als wissenschaftlich solide betrachten. Verhaltenstherapeutische Therapiestudien gibt es in der gegenwärtigen Psychiatrie nahezu bei allen Krankheitsbildern in großer Fülle, während tiefenpsychologische Studien sehr viel weniger vorhanden sind. Insofern geht die aktuelle Diskussion der Psychotherapie immer wieder darum, dass die Tiefenpsychologie nicht in dem Maße wissenschaftlich sei wie die Verhaltenstherapie. An den psychiatrischen Universitätskliniken überwiegt heute mit etwa 80% die Verhaltenstherapie; Tiefenpsychologie findet man eher in den psychosomatischen Kliniken und im ambulanten Bereich.
Ansätze einer philosophischen und anthropologischen Psychologie waren im 20. Jahrhundert immer wieder vorhanden z.B. bei dem Philosophen Hans Gadamer (1900-2002) mit seinem Konzept der Hermeneutik oder bei dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers (1883-1969). Jaspers unterschied drei Formen der Psychologie: die empirische Psychologie, die verstehende Psychologie sowie die philosophische Existenzerhellung. „Dieses Zwischensein der Seele, zwischen Leib und Geist, wirft ein Licht auf die alte Frage, was die Seele selber sei. Den Geist sehen wir als die Inhalte und Gehalte, auf die die Seele sich bezieht und von denen sie bewegt wird, den Leib sehen wir als Dasein. Wir scheinen nie die Seele selbst zu fassen, sondern sie entweder als Leiblichkeit zu erforschen oder in ihren Inhalten zu verstehen.“⁴ Jaspers entwickelte daraus seine Psychopathologie. Er war offen für eine geistige Dimension des Menschen.
Victor Frankl: „Wir brauchen den Geist.“
Ein weiterer Vertreter dieses dritten Ansatzes war Viktor Frankl (1905 – 1997), Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut; er entwickelte die Logotherapie und Existenzanalyse. Er war im KZ und hatte dort Grenzerfahrungen durchgemacht. Frankl sagte: „Diese Verkennung des Geistigen und dessen Sonderstellung ist für den Psychologismus kennzeichnend.“ ⁵ Unter Psychologismus verstand er die Haltung der gegenwärtigen Psychologie, sich nur im Bereich des seelischen Erlebens und Verhaltens zu bewegen und geistige Aspekte außeracht zu lassen wie z.B. die Frage nach dem Sinn des Lebens: „Das ganze Reden von Leib-Seele-Dualismus ist unfruchtbar, weil es nicht weiterführt. Wir brauchen den Geist.“ ⁶ Frankls Schriften und sein umfassender Ansatz fanden vor allem in Österreich und in den USA Beachtung, jedoch weniger in Deutschland.
Soweit die Vorbemerkungen, um zu verstehen, wo heute gewisse Meinungen und Strömungen in Psychologie und Psychotherapie ihren Ursprung haben. Ein Schulen übergreifender Diskurs findet bisher nur teilweise statt.
Wie äußerte sich Rudolf Steiner vor 100 Jahren zu dem Thema Psychologie, als diese Entwicklungen erst anfänglich sich abzeichneten? Können wir davon etwas lernen?
1886 äußerte sich Rudolf Steiner erstmalig zu dem Thema Psychologie in seiner Schrift „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller.“ ⁷ Er sah in der Psychologie ein eigenes Erkenntnisfeld mit eigener Methodik neben der naturwissenschaftlichen, auf die tote Materie gerichteten Erkenntnis und der biologischen Erkenntnis der Lebewesen. In einem Vortrag 1917 sprach er davon, dass das gewöhnliche Bewusstsein nicht ausreiche, sondern tiefere Quellen einer höheren Erkenntnis für die Psychologie zu erschließen seien: „Wenn die Seele so, wie sie im gewöhnlichen Erleben ihren eigenen Erfahrungen gegenübersteht, von diesen Erfahrungen im Grunde nichts wissen kann – wenn sie sie nur erleben kann, wie man die äußere Natur, bevor man ein naturwissenschaftliches Bild von ihr hat, erlebt -, so deutet das schon darauf hin, dass diese Seele mit sich Veränderungen vornehmen muss, wenn sie ihre eigenen Tatsachen erleben will. Da wird es manche Schwierigkeiten geben gegenüber der herrschenden Denkweise der Gegenwart […] Seelenwissenschaft wird aber aus den tieferen Quellen, die für das gewöhnliche Erleben verborgen sind, Kräfte heraufholen müssen, durch die andere Beobachtungsmethoden, andere Vorstellungsarten entstehen, als sie im gewöhnlichen Leben da sind.“ ⁸
sich den Grenzfragen nähern
Im Grunde kommen wir – so Steiner – nur an das tiefere Wesen der Seele heran, wenn wir uns Grenzfragen stellen, z. B. Inwiefern ist die Seele eine Ganzheit? Was ist die tiefere Natur von Vorstellen, Fühlen und Wollen? Was geschieht mit der Seele bei den Vorgängen des Einschlafens und Aufwachens? Was geschieht mit ihr im Schlaf, was im Tod? In welchem Zusammenhang stehen Seele, Leib und Geist? Inwieweit kann man diesen Zusammenhang konkret denken und beobachten? Wie entsteht Selbstbewusstsein? Handelt es sich bei dem Ich nur um eine Zusammenfassung seelischer Einzelerlebnisse oder um einen ganz neuen Einschlag in das Seelische? Solche Grenzfragen lassen sich nicht gleich beantworten, man kann sich ihnen aber schrittweise nähern.
Im ersten Kapitel des Grundlagenwerkes „Theosophie“ findet sich ein methodischer Einstieg in eine neue Psychologie. ⁹ Rudolf Steiner begann ähnlich wie Jaspers und Frankl nicht mit dem Leib-Seele-Dualismus, sondern mit der Dreigliederung von Leib, Seele und Geist: „Will man die Seele im richtigen Sinne betrachten, dann muss man sie in Beziehung setzen zu den beiden anderen Gliedern der menschlichen Wesenheit, zum Körper auf der einen Seite, zum Geist auf der anderen Seite.“ ¹⁰ Ähnlich äußerte sich ja auch Thomas von Aquin.
Steiner richtete unseren Blick auf einen Gesamtzusammenhang. Es stellt sich für uns die Frage, wie wir dem näher kommen können. Eine solche Perspektive ist für die Therapie seelisch kranker Menschen entscheidend. Wenn ein Mensch zu mir in die Praxis kommt, frage ich nach den körperlichen Vorerkrankungen und Beschwerden, nach seelischen Belastungen und Problemen, auch nach der Biografie, aber ich mache mir vom ersten Augenblick an klar, dass das ein Gesamtzusammenhang ist, von dem ich zunächst nur Teile erfasse. Ich komme nicht weiter, wenn ich nur auf den Leib oder nur auf die Seele schaue. Heute ist oft die Situation, dass die meisten Psychiater „Leib-Ärzte“ sind und Psychopharmaka verordnen, andere sind spezialisiert auf Psychotherapie und verordnen aber keine Psychopharmaka. Die Therapie hat sich weitgehend aufgespalten in bestimmte Fach- und Berufsgruppen. Wirkliche Heilung aber ist nur möglich, wenn wir diesen Gesamtzusammenhang ins Auge fassen, auch wenn wir ihn nicht gleich überschauen.
Wie macht man das? Rudolf Steiner führte das in der „Theosophie“ so aus, indem er drei basale Erlebnisschritte des Menschen beschrieb: „Das erste sind die Gegenstände, von denen ihm (dem Übenden, Anm. d. Red.) durch die Tore seiner Sinne fortwährend Kunde zufließt, die er tastet, riecht, schmeckt, hört und sieht.“ ¹¹ Man soll also mit den Sinnen auf die äußere physische Realität hinschauen, also in unserem Fall auf den Leib des Patienten. Es entsteht eine Beziehung von mir zur Gegenstandswelt. Das ist nicht einfach und erfordert viel Aufmerksamkeit.
Im zweiten Schritt achte man auf die inneren Reaktionen, die die äußere Realität auf mich macht, auf sympathische oder antipathische Gefühle, auf mein Gefallen und Missfallen, auf Begehren und Verabscheuen. Mein Inneres reagiert in subjektiv persönlicher Weise auf die Außenwelt. Ich achte also auf meine Beziehungsaufnahme mit dem Äußeren, die sich spontan in unterschiedlichen Empfindungen und Gefühlen entwickelt. In der Begegnung mit dem Patienten nennen das die Tiefenpsychologen die „Gegenübertragung.“
Das Dritte ist der Zugang zu dem objektiven Wesen der Dinge und den wirkenden Gesetzen. In der Begegnung mit dem Patienten kann das heißen: Wie ist der obere, der untere Mensch gestaltet? Hat der Betroffene warme oder kalte Füße? Wie ernährt er sich? Wie schläft er? In welcher Wechselwirkung stehen die seelischen Probleme mit dem Zustand des Leibes sowie seiner Persönlichkeit und Biografie? Wie wirkt das alles zusammen? Man arbeitet an einer Erklärung der Phänomene und macht sich ein menschenkundliches Gesamtbild.
Rudolf Steiner gab hier keine begriffliche Definition, sondern beschrieb diese drei Tätigkeiten: „Der Mensch wird gewahr, dass er in einer dreifachen Art mit der Welt verwoben ist. Die erste Art ist etwas, was er vorfindet als gegebene Tatsache, durch die zweite Art macht er die Welt zu seiner eigenen Angelegenheit, die dritte Art betrachtet er als ein Ziel, zu dem er unaufhörlich hinstreben soll.“ ¹²
Es ist spannend, dass seit etwa 30 Jahren in der Psychotherapie viel von Beziehungsgestaltung gesprochen wird; eine Therapie könne nur sinnvoll sein, wenn ich in eine wirkliche Beziehung mit dem anderen komme. Aber was ist das eigentlich? Es sind drei Beziehungsprozesse: Die erste Beziehung ist die Wahrnehmung des Gegebenen, die zweite ist die Verinnerlichung und die dritte ist die Erkenntnis der Zusammenhänge. Steiner sagte, das Erste geschehe mit Hilfe des Leibes, der der physischen Außenwelt angehört, das Zweite sei die Seele und das Dritte der Geist im Menschen.
An dieser Stelle wurden die Zuhörer aufgefordert, diese drei Prozesse für sich innerlich zu wiederholen: Wie unterscheide ich die? Handhabe ich sie bewusst oder unbewusst? Ein Austausch darüber schloss sich an.
Für mich ist deutlich, dass die Übungsfelder einer künftigen Psychologie und Psychotherapie erstens eine Sinnesschulung, zweitens eine Schulung der seelischen Beobachtung und drittens eine Erkenntnisschulung sein müssen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Aspekt andeuten. Eine Weiterführung oder auch Fundgrube für eine künftige Psychologie sind die Vorträge Steiners “Allgemeine Menschenkunde“ vom September 1919 vor Begründung der Waldorfschule. ¹³ Rudolf Steiner begann hier mit der Fähigkeit des Vorstellens und erläuterte, was das ist.
Vorstellungen haben mit Vergangenheit zu tun, das Wollen mit der Zukunft
Vorstellungen haben zu tun mit der Vergangenheit bis hin zu dem vorgeburtlichen Dasein. Sie haben Bildcharakter, führen zu einer Distanzierung gegenüber der Welt, einer Art leisen antipathischen Haltung.
Als zweites schilderte er das Wollen. Das habe mit der Zukunft zu tun, in seinen Konsequenzen bis hin zu dem nachtodlichen Dasein. Wollen ist mit Wärme verbunden, besitzt Keimcharakter und hat mit meiner persönlichen Intention zu tun.
Rudolf Steiner arbeitete damit eine Art Urpolarität der Seele heraus. Das seelische Leben vollziehe sich fortwährend zwischen gedanklich gestützter Begriffsbildung und handlungsorientierter Intentionalität. Dabei sah er die Fähigkeiten von Vorstellen und Wollen gleichzeitig im Zusammenhang mit den Lebensvorgängen des Leibes. Seelisches Erleben und Verhalten sei aus sich selber nicht eigentlich verstehbar, sondern vollziehe sich auf der Grundlage des Leibes. Das geschieht, indem sich das Vorstellen auf Abbauvorgänge und das Wollen auf aufbauende Prozesse im Bereich der Lebenskräfte abstützt. Seelisches Vermögen entstehe nicht aus dem Leib, werde aber an der leiblichen Tätigkeit als Bewusstsein gespiegelt. Diese Grundkonzeption des leiblich-seelischen Zusammenhangs gelte es bis in Einzelheiten auszuarbeiten, um den herkömmlichen Leib-Seele-Dualismus zu überwinden.
Fühlen zwischen Vorstellen und Wollen
Erst dann kam Rudolf Steiner auf die Mitte des seelischen Lebens zu sprechen, auf das Fühlen. Es entstehe zwischen Vorstellen und Wollen. Fühlen habe viel mit Rhythmus zu tun; es lebt unmittelbar im Augenblick, im Hier und Jetzt. Dieses Jetzt findet z.B. in der Achtsamkeitsmeditation große Beachtung. Diese Form der meditativen Übung ist für viele Menschen heute hilfreich, weil sie mit allen möglichen Erinnerungen an die Vergangenheit gebunden sind oder sich sehnsüchtig mit ihren Wünschen und Hoffnungen an die Zukunft richten, aber nicht in der Gegenwart mit adäquaten Gefühlen anwesend sein können. Die Achtsamkeitsmeditation verhilft dazu, in das Hier und Jetzt einzutreten und die Ruhe der Gegenwärtigkeit zu erleben.
Diese Grundkonzeption des seelischen Lebens mit Vorstellen, Wollen und in der Mitte dem Fühlen kann die Keimzelle einer wirklich neuen Psychologie sein. In der praktischen Umsetzung gilt es, die einzelnen Seelenfähigkeiten in innerer Übung zu intensivieren z.B. durch Denk-, Willens- und Gefühlsübungen und sie in ein inneres Gleichgewicht zu bringen.
Eine künftige Psychologie wird an der Geschichte der Seelenkunde neue Grundsatzfragen entwickeln. Sie wird zweitens versuchen, die gegenwärtigen Ansätze integrativ aufzugreifen und drittens in einem fortwährenden inneren Übungsprozess sich neue Fähigkeiten zu erwerben, um lebenspraktisch und therapeutisch tätig zu werden.