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„Aus-Dauer“ Kraftquelle für Meditation und inneres Leben
Artikel von Matthias Bölts, Musiker
Der Entschluss zum Meditieren beinhaltet den Entschluss, sich auf einen Weg des inneren Übens zu begeben. Und wenn der Weg, wenn das Üben beginnt, dann beginnt damit auch ein Prozess, in welchem das Vor-Setzen in das Um-Setzen übergeht. Dies ist oft mit dem Zauber und Rückenwind des Anfangs, aber auch mit manchen Widerständen verbunden. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis die Motivation nachlässt und erste Anzeichen von Ermüdung auftauchen: Wie lange noch? Wann kann ich eine Pause machen? Oder anders gefragt: Woher nehme ich die Kraft, dranzubleiben, nicht aufzugeben und abzulassen von dem Vorgenommenen? Die nachfolgenden Gesichtspunkte sind aus der Überzeugung und der Erfahrung entstanden, dass Ausdauer als Kraft schrittweise ausbildbar ist. Ausdauer hat verschiedene Facetten und entspringt unterschiedlichen Quellorten. Diese Darstellung möge den Leser anregen, seine diesbezüglichen Gedanken zu überprüfen und seine eigene Ausdauerkraft Schritt für Schritt zu steigern.
Matthias Bölts: Musiker; lebt mit seiner Familie in Hamburg. Leitung von MenschMusik Hamburg; www.menschmusik.de; Projekte, Seminare und Publikationen zu Fragen des inneren Lebens und der Meditation.
Übungs-Verabredung mit sich selbst
Die Entwicklung eines inneren Lebens und meditativer Praxis sind maßgeblich eine Angelegenheit des Durchtragens und der Ausdauer. Diese werden gestärkt, wenn klare Übungs-Verabredungen mit sich selbst getroffen werden, besonders was das Ende anbelangt. Oft wird nur der Anfang berücksichtigt und das Ende vernachlässigt oder vergessen. Damit verpasst man die Möglichkeit, den Rahmen immer wieder neu zu definieren und das Vorgenommene mit den eigenen Zielen und Möglichkeiten abzustimmen. Das Üben versandet und das bedrückende Gefühl, einen selber gefassten Vorsatz nicht erfüllt zu haben, wird als Ballast weiter mitgeschleppt. Innere Überforderungen oder Unterforderungen gehören zum Prozess des Übens dazu. Das Wesentliche jedoch ist, den Rhythmus von aktivem Üben und anschauendem Besinnen einzurichten. Er erzeugt die Freiheit, alte Entschlüsse neu zu ergreifen.
Vielleicht erinnern Sie aus ihrer Kindheit die folgende Situation: Sie sind auf einer langen Wanderung; die Schritte werden kleiner und langsamer und die Beine müde und schwer. »Wie lange noch?« Lautet die Antwort: »Gleich sind wir am Ziel!« , so sind alle Ermüdungsanzeichen schnell vergessen und die Kräfte kehren zurück. Heißt es aber: »Das war erst der Anfang unserer langen Wanderung!«, so ist die erste Krise da, und es braucht andere Mittel, um neuen Schwung zu bekommen. Das Beispiel möchte zeigen, wie sehr unsere Ausdauer abhängt von dem Bewusstsein des Zieles und des Endes. Das ist auf viele andere Situationen übertragbar: Die Kraft zum Handeln entspringt dem Überblicksbewusstsein für das Ganze, verbunden mit dem Gefühl der Machbarkeit.
Der nächste Schritt
Dadurch eröffnet sich ein weiterer Aspekt der Ausdauer: Das Gefühl der Machbarkeit, der Handhabbarkeit. Ausdauer lebt von der situativen Erfindung des nächsten Schrittes. Gerade bei großen Aufgaben ist das unverzichtbar, Teilschritte, Etappen zu erkennen oder zu definieren. Der Wille kann besser einsteigen und dranbleiben und ist nicht angesichts der noch nicht bewältigten »Berge« an Arbeit paralysiert. Beppo der Straßenkehrer ist auf diesem Gebiet ein echter Könner. Michael Ende beschreibt ihn in »Momo« mit den folgenden Worten: Beppo verrät Momo das Geheimnis seiner Arbeit: »Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.« Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: »Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.«
Treue zum eigenen Entschluss
Doch: Was bedeutet »Ausdauer«? Es ist die Kraft, das eigene Leben und Handeln mit der Dauer-Sphäre der eigenen Entschlüsse und Ziele verbunden und angeschlossen zu halten im Sinne von »Aus-Dauer« oder »aus Dauer«. Ausdauer bedeutet aber auch Widerstandsfähigkeit. Denken Sie beispielsweise an die extremen Ausdauersportdisziplinen wie Marathon- oder Triathlon. In der Sportwissenschaft wird Ausdauer als »Ermüdungswiderstandsfähigkeit«, also das möglichst lange Aufrechterhalten einer physisch-psychischen Belastung ohne nennenswerten Leistungsabfall, in Verbindung mit möglichst rascher »Regenerationsfähigkeit« definiert. Üben konfrontiert mit den Grenzen des eigenen Willens. Hier kann man der eigenen Willensschwäche begegnen und sogar dem Widerwillen, sich ins Geistige zu erheben. Der »innere Schweinehund« erwacht und erzeugt Widerstände, oft einfallsreich gekleidet in Scheinargumente und gekonnte Ablenkungsmanöver. Der Wille, sich in meditativer Praxis mit geistiger Wirklichkeit und geistigen Wesen zu verbinden, wird immer wieder geprüft, insbesondere in seiner Ausdauerkraft. Die »Gravitationskräfte« in der eigenen Seele werden in dem Maße wahrnehmbar, wie innere Aktivität in der Hinwendung zum Geist aufgebracht wird. Ruhiges Hinschauen und inneres Annehmen ist hier förderlicher als Ausblenden, Abspalten oder vorschnelles Bekämpfen.
Rudolf Steiner beendet seine sogenannte letzte Ansprache Ende September 1924 mit den Worten der Michael-Imagination. Darin heißt es: »So erscheint der Christuskünder den erharrenden, durstenden Seelen; ihnen strahlet euer Leuchte-Wort in des Geistesmenschen Weltenzeit. « Hier ist von »Erharren« die Rede, dem geduldigen und ausdauernden Warten, bis etwas Ersehntes geschieht. Ausdauer meint auch, einem einmal gefassten inneren Entschluss treu bleiben zu können. Die Treue gegenüber einem Entschluss verweist auf die innere Treue gegenüber sich selbst. Werde ich mir selber untreu, wenn ich die vorgenommenen Übungen vernachlässige oder aufgebe? Innere Wahrhaftigkeit und der Mut zu unbequemen Selbstgeständnissen können helfen, die Scham zu überwinden, die beim »Anschauen« der Untreue aufkommt.
Meditation ist liebevoller Wille …
In einem anderen Zusammenhang deutet Rudolf Steiner auf die Notwendigkeit, sich aus freiem inneren Entschluss in ein Verhältnis zum Geistigen zu versetzen, um Anschluss an die Michael-Kräfte zu bekommen: »Die Michael-Kräfte lassen sich einzig und allein dadurch erringen, dass der Mensch mit seinem liebevollen Willen sich zum Werkzeug für die göttlich-geistigen Kräfte macht. Denn die Michael-Kräfte wollen nicht, dass der Mensch zu ihnen fleht, sie wollen, dass der Mensch sich mit ihnen verbündet.« Doch zugleich braucht es die Liebe zur übenden Tätigkeit, die unabhängig ist vom Erfolg und dem Erreichen eines Zieles. Das Ausbleiben geistiger Erlebnisse beim Meditieren ist beispielsweise ein verbreiteter Grund zum Aufgeben und Ablassen. Dahinter steckt oft eine halbbewusste Erwartung und eine Bedingung, welche als seelische Gestimmtheiten Geist-abweisend wirken. Geistige Anwesenheit ist nicht planbar und vorhersehbar. Ausdauerkraft bildet sich unter diesem Gesichtspunkt, wenn der Weg zum Ziel wird und die meditierende Tätigkeit selber als sinnvolle Tat in ihrem Wert erkannt und gefühlt wird – unabhängig von »Erfolgen«. Oft bringt das Leben selber die entscheidenden Antworten und Impulse. Das Wesentliche erscheint nicht dann und nicht so, wie ich es erwarte: laut und dringlich. Es »spricht« leise, in den scheinbar unbedeutenden Nebensächlichkeiten des Alltags.
… und geduldiges Erwarten
Ausdauer gründet auf Geduld. Und Geduld bedeutet, »den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung zu lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen und dann gebären. … Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit.« – so Rainer Maria Rilke in einem seiner Briefe an Franz Xaver Kappus. Es ist ein wahres Kunststück inneren Lebens, diese Waage zwischen übendem, aktivem Dranbleiben und geduldigem Abwarten und Loslassen zu halten. Die Besinnung auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Üben« kann das Halten dieser Waage verstärken. In Grimms »Wörterbuch der deutschen Sprache« wird Üben mit Ackerbau in Verbindung gebracht im Sinne von »den Boden bearbeiten«. Ungeübter Boden ist so gesehen Brachland. Ebenso bedeutet Üben, eine gottesdienstliche Handlung zu begehen, zu feiern und zu verehren. Übende Aktivität ist also immer auch verbunden mit dem Bewusstsein der Grenzen des willentlich Machbaren, mit dem inneren Selbstverständnis, durch Üben die Saat zwar säen, um ihr Wachsen und Gedeihen aber nur bitten zu können. Ergebenheit und Vertrauen gegenüber dem Leben und der immer gegenwärtigen Führung der geistigen Wesen unterstützen diesen Prozess.
Zusammenfassung: Was stärkt Ausdauer?
1 Identifikation – innere Verbundenheit mit der Sache
2 Machbarkeit – individuelle Handhabbarkeit des nächsten Schrittes
3 Sinnhaftigkeit – Klarheit über Ziel und Sinn des eigenen Tuns
4 Aus-Dauer – Treue zu den eigenen Entschlüssen
5 Widerstandsfähigkeit – Annehmen Können der eigenen Schwäche
6 Geduld – Gleichgewicht von Eigenaktivität und Loslassen herstellen
7 Liebe zur Tätigkeit
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Dieser Artikel ist zuerst in „Die Christengemeinschaft“ 3/2020 erschienen