Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Corona – was ist die Chance in der Krise?
verschiedene Beiträge zu dem Thema
Was bedeutet eine Epidemie für den kulturellen und geistigen Fortschritt der Menschheit?
Einige Gedanken zu dem Thema von Dr. med. Wolfgang Rißmann, Psychiater
Bereits 1972 erstellten die Mitglieder des Club of Rome eine Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft: „Die Grenzen des Wachstums“ (Originaltitel: englisch The Limits to Growth).
Das benutzte Weltmodell diente der Untersuchung von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffreserven und Zerstörung von Lebensraum. So wurden Szenarien mit unterschiedlich hoch angesetzten Rohstoffvorräten der Erde berechnet, oder eine unterschiedliche Effizienz von landwirtschaftlicher Produktion, Geburtenkontrolle oder Umweltschutz angesetzt. Bis heute sind von diesem Buch über 30 Millionen Exemplare in 30 Sprachen verkauft worden.1973 wurde der Club of Rome dafür mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Trotz dieser warnenden Vorausschau können wir heute 48 Jahre später feststellen, dass diese Warnrufe wenig gehört wurden. Nach wie vor äußern sich führende Wirtschaftsfachleute und Politiker so, dass eine gesunde Wirtschaft wachsen müsse. Wie weit und wohin soll sie eigentlich wachsen?
Die Folgen beobachten wir überall. Das Wirtschaftsleben sondert sich immer mehr vom Geistes- und Rechtsleben ab und verselbständigt sich ins Uferlose und bestimmt die Politik und das Geistesleben. Bei politischen Beziehungen sind heute immer wirtschaftliche Gesichtspunkte entscheidend. Politiker verhandeln mit anderen Staaten häufig zusammen mit den Chefs großer Industriebetriebe. Forschung richtet sich immer mehr nach ökonomischen Zielen aus. – Das Gesundheitswesen z.B. ist immer mehr von Gewinnmaximierung aller Beteiligten bestimmt. Pharmafirmen, privaten Krankenhausketten, sogar einem Teil der Ärzte, aber auch manchen Patienten geht es in erster Linie nur um den persönlichen Profit und Gewinnzuwachs und nicht um selbstlose Hilfe zum Gesundwerden. Es fehlt ein spiritueller Begriff von Krankheit und Heilung. Gleichzeitig müssen wir erleben, wie immer weniger Menschen bereit sind, in der Kranken- und Altenpflege sich persönlich einzusetzen. Ohne Hilfe von Pflegenden aus Osteuropa oder anderen Ländern wäre die Pflege in Deutschland nicht mehr möglich.
Der Freiburger Medizinhistoriker und Medizinethiker Giovanni Maio spricht gegenwärtig überdeutlich über diese fatale Entwicklung z.B. in seinem Buch „Geschäftsmodell Gesundheit – Wie der Markt die Heilkunst abschafft. Suhrkamp Verlag 2014.“
Umso überraschender und erfreulicher ist ein im Dezember 2019 erschienenes Buch, in welchem acht junge Menschen, – alle etwa 20 Jahre alt – eine rückhaltlose Beschreibung der gegenwärtigen Kulturentwicklung vornehmen und zu einer energischen Kehrtwende aufrufen (Der Jugendrat der Generation Stiftung: Ihr habt keinen Plan. Darum machen wir einen. 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft. Hrsg. von Claudia Langer. Blessing Verlag München 2019, 12,- ).
Die jungen Menschen beschreiben zehn Lebensfelder und Problemkreise:
– Klima retten
– Ökozid verhindern
– Den entfesselten Markt wieder an die Leine legen
– Soziale Gerechtigkeit schaffen für eine zukunftsfähige Gesellschaft
– Vorbereitung der Arbeitswelt auf die Zukunft
– Gute Bildung für alle garantieren
– Der Demokratie neues Leben einhauchen
– Globale Gerechtigkeit endlich konsequent angehen
– Frieden garantieren und Menschenrechte einhalten
– Digitale Welt gestalten, bevor es zu spät ist
Interessanterweise berühren diese zehn Punkte den gesamten sozialen Organismus. Man kann den Eindruck gewinnen, dass hier junge Menschen mit kräftigen Impulsen aus ihrer vorgeburtlichen Existenz in die Welt getreten sind und nun die Zukunft neu gestalten möchten.
Es gilt also, das Wirtschaftsleben wieder an die natürlichen Bedürfnisse der Menschen anzupassen und nicht dem persönlichen Gewinnstreben freien Lauf zu lassen. Das menschliche Maß ist gefragt. Nicht unendliches Wachstum kann in die Zukunft führen, sondern nur ein Gleichgewicht zwischen Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Unendliches Wachstum der Wirtschaft ist wie ein Krebsgeschwür und wird sich selber zerstören.
Es gibt ja durchaus positive Ansätze in dieser Richtung, z.B. die GLS-Bank oder die landwirtschaftlichen Betriebsgemeinschaften und Assoziationen. Im Bereich der Medizin sind menschlich überschaubare Gesundheits- und Familienzentren entstanden oder auch Solidargemeinschaften. Medizin wird in Zukunft immer mehr eine soziale Frage sein, wo Patienten, Pflegende, Therapeuten, Pharmazeuten und Ärzte brüderlich miteinander arbeiten.
Allerdings werden persönlicher Verzicht und Bescheidenheit aus Einsicht immer notwendiger werden. Nicht jeder Mensch wird in Zukunft ein eigenes Auto benötigen, nicht jeder ein eigenes Haus, nicht jeder muss Anspruch auf eine Ferienflugreise haben usw. Ich bitte das nicht moralisch zu verstehen, sondern als klare Einsicht in das Notwendige. Soziales Interesse, Nachbarschaftshilfe, liebende Pflege der Natur und vieles andere werden die tragenden Kräfte der Zukunft sein.
Wir können nur hoffen, dass die gegenwärtige Krise eine Neubesinnung unserer Denk- und Lebensweise hervorrufen wird.
Zu den geistigen Vorgängen, die in einer Epidemie wirksam sind, hat Rudolf Steiner sehr Vieles geäußert, insbesondere zu der Frage der Bakterien und Ansteckung, aber vor allem zu sinnvoller und wirksamer Prophylaxe. Eine Zusammenfassung findet sich in der Sammlung von Taja Gut: Rudolf Steiner, Stichwort Epidemien. Rudolf Steiner Verlag Dornach 2010.
Was ist die Chance der Corona-Krise?
Von Dirk Grah, Regionalleiter der GLS-Bank Hamburg
Am Ende des ersten Weltkrieges formulierte Ernst Barlach folgende Worte in einem Brief: „Ach, der Krieg! Ich dachte neulich etwas, wie ich gelesen, auch andere gedacht haben: Wenn der Wahnsinn der Menschen zu Vernunft kommen soll, so müssen höhere Mächte eingreifen, z.B. die Pest oder die Cholera. Sie kann man nicht beschießen, und sie wird die Heere auseinander sprengen. Die Dinge sind den Menschen über den Kopf gewachsen, sie scheinen mir ohnmächtig, da keine überlegenen, elementaren Köpfe und Geister zur Hand sind, sie zu ordnen.“ (6.6.1918).
Wir haben inzwischen drei Monate erlebt, wie es sie in der Menschheitsgeschichte so noch nicht gegeben hat. Die Wirtschaft führt gerade ein Experiment durch, was in keinem ökonomischen Lehrbuch zu finden ist. Es hat auch keine Abstimmung darüber geben, ob wir das wollen oder können?! Trotzdem gibt es einen allgemeinen Konsens darüber, dass dieses Runterfahren des gesellschaftlichen Lebens alternativlos ist.
Die Menschheit zeigt, dass im Anflug einer großen Gefahr solidarisches und abgestimmtes Handeln möglich ist. Die demokratischen Institutionen sind nicht nur gefordert, sondern werden auch überwiegend akzeptiert. Das eigene Handeln wird den staatlichen Institutionen freiwillig untergeordnet.
Und es gibt noch ein interessantes Phänomen: Es wird auf die Wissenschaftler*innen gehört.
Erinnern wir uns noch vor die Zeit von vor sechs Monaten: Die jungen Menschen sind freitags zu tausenden auf die Straße gegangen mit der Forderung, dass die Menschheit endlich auf die Wissenschaftler hört, was diese zu der Klimaentwicklung zu sagen haben. Die Jugendlichen haben ein rasches und abgestimmtes Handeln gefordert, damit die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft stattfindet und wir das verabredete 1,5° – 2° Ziel noch einhalten können. Vor allem aus der Politik kamen die Bedenken, dass ein solches starkes Umsteuern unsere Gesellschaft, aber vor allem die Wirtschaft überfordern würde.
Jetzt hat die Menschheit eine solche gemeinsame Vollbremsung hingelegt, obwohl keiner weiß, was das für ökonomische Folgen haben wird. Das, was uns eint, ist das solidarische Handeln gegenüber denjenigen Menschen, die durch dieses Virus am meisten bedroht sind.
Es wird jetzt von Vielen gesagt, dass die Welt nach der Corona-Krise eine andere sein wird, aber die Geschichte hat auch gezeigt, dass „nach der Krise auch vor der Krise“ ist, es geht also so weiter, als wäre nichts gewesen.
Ich persönlich glaube das aber nicht. Erstens ist noch überhaupt nicht ausgemacht, welche ökonomischen Langzeitwirkungen auf uns zukommen werden und zweitens wird sich jetzt herausstellen, ob wir bereit sind, solidarisches Handeln auch im Wirtschaftlichen zu praktizieren.
Steiner hat ja immer betont, dass in der Wirtschaft „brüderliches“ Handeln gefordert sei. Auch wenn die weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten jedem deutlich sind, hat der nationale Egoismus in den letzten Jahren eher zugenommen.
Ich habe aber die Hoffnung, dass sich gerade in Europa eine neue Solidarität entwickelt, auch wenn wir erst einmal die alten Grenzen wieder hochgezogen haben, obwohl allen klar war, dass ein Virus eine nationale Grenze überhaupt nicht kennt. Ich hoffe, Europa versteht, dass unsere Wirtschaft so voneinander abhängig ist, dass es für uns in Deutschland nicht unwichtig ist, wie es der Mailänder Bekleidungsindustrie oder den spanischen Autozulieferern geht.
Ich habe aber noch eine andere Hoffnung: Die Menschheit versteht, dass wir unsere Mobilität drastisch verändern können, ohne dass uns unbedingt Lebensqualität verloren geht. Das könnte der erste globale Ansatz sein, um unsere Klimakrise nachhaltig zu beeinflussen.
Die große Transformation in eine klimaneutrale Wirtschaftsweise wird nicht ohne ein solidarisches und verändertes Verhalten möglich sein. Wenn wir nicht grundlegend unsere Einstellung gegenüber den anderen Lebewesen auf unserem Planeten korrigieren, wird das nichts das letzte Virus gewesen sein, was uns zwingt, unser Verhalten zu verändern.
Das neue solidarische Handeln kann jetzt unmittelbar bei der Auflösung der unhaltbaren Zustände der griechischen Flüchtlingslager erprobt werden.
Eine noch viel größere Aufgabe steht uns bevor, wenn das Virus den afrikanischen Kontinent erreichen haben wird. Hier ist die Weltgemeinschaft richtig gefordert, um eine Katastrophe abzuwenden.
Leben, Freiheit und Erkenntnis
Von Lars Grünewald, Kulturwissenschaftler, Seminarleiter
Artikel 1 unseres Grundgesetzes bezeichnet die Menschenwürde als den obersten Wert unserer Gesellschaftsordnung. Was ist Menschenwürde? Artikel 2 nennt die beiden fundamentalen Bestimmungen des Würdebegriffes, nämlich 1) Freiheit und Selbstbestimmung sowie 2) Leben und körperliche Unversehrtheit. In der Corona-Krise prallen diese beiden Werte frontal aufeinander.
Die Politik hat sich angesichts einer wirklichen oder vermeintlichen Lebensbedrohung zur rücksichtslosen Beschränkung und Beseitigung von Freiheitsrechten entschlossen; und ein großer Teil der Bevölkerung teilt diese Werteentscheidung. Das bedeutet: Die Politik und die meisten Menschen sind bereit, die Freiheit für das Leben aufzugeben, auch wenn die erlassenen Einschränkungen mit unserem Grundgesetz unvereinbar sind.
Wer jetzt einwendet, dass das Leben die Voraussetzung der Freiheit sei, der übersieht, dass freiheitliche Gesellschaften und Gemeinschaften nur dadurch entstehen konnten, dass Menschen bereit waren, ihr Leben für die Freiheit zu opfern. Das Leben teilt der Mensch mit Pflanzen und Tieren; frei ist nur der Mensch. Das bedeutet: Gibt der Mensch seine Freiheit auf, so vernichtet er damit sein eigentliches Menschsein.
Die gegenwärtige Krise gibt jedem Menschen die Möglichkeit, eine bewusste persönliche Entscheidung zwischen Leben und Freiheit zu treffen: Ist ein unfreies Leben eigentlich lebenswert? Darüber hinaus kann ich mir aber die Frage stellen: Wozu verwende ich meine Freiheit? Will ich mein Leben hauptsächlich genießen (eine Eigenschaft, welche der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat) oder möchte ich in meinem Leben etwas schaffen, was auch für andere Menschen von Wert sein kann? Auch diese Entscheidung ist jedem freigestellt; und auch zu solchen Überlegungen kann die Krise anregen.
Die Basis für bewusste und gerechtfertigte Entscheidungen ist die menschliche Urteilskraft. Jeder Mensch, der sich im Internet vielseitig informiert weiß, dass die Gefahr von Covid-19 durch unterschiedliche Virologen und andere Mediziner höchst unterschiedlich bewertet wird. Die Massenmedien geben aber lediglich die Behauptungen von der überragenden Gefährlichkeit des Virus wieder; und die Politik folgt einseitig und ausschließlich dieser vor allem vom Robert-Koch-Institut vertretenen Position. Rudolf Steiner warnt jedoch nachdrücklich vor jeder Form von unreflektiertem Autoritäts- und Wissenschaftsglauben.
Falsche Informationen schaffen falsche Erkenntnisse, und falsche Erkenntnisse begründen verfehlte Handlungen. Wer seine eigenen Handlungen und die Beurteilung der Handlungen anderer auf ein sicheres Fundament stellen will, der muss sich selber um wahre Erkenntnisse bemühen, anstatt diese von anderen konsumfertig zubereitet einfach zu übernehmen und auf diese Weise zur Medienmarionette zu werden. Eine vordringliche Konsequenz aus der Corona-Krise für alle an ihrer Freiheit interessierten Menschen wäre daher die Ausbildung der eigenen Urteilskraft.
„Wir segeln in die furchtbarsten Zustände hinein, wenn das verrenkte, karikierte Denken, das nichts zu tun hat mit Wirklichkeit, das Programme macht aus den menschlichen Leidenschaften, Emotionen heraus, überall Platz greift. Ein wirklichkeitsgemäßes Denken wird aber Wirklichkeit schaffen. Daher handelt es sich zunächst darum, ein wirklichkeitsgemäßes Denken zu gewinnen“ (Rudolf Steiner in Zürich am 26.10.1919).
Das Geschenk im Verlust
Von Julia de Vries, Betriebsleiterin auf dem Demeter-Hof Domäne Fredeburg
Jede Krise ist auch eine Chance, sagt man.
Auch die sogenannte Coronakrise wird ihre Chancen haben, wenn wir sie erkennen und nutzen.
Wo kann ich sie bei mir und in meinem eigenen Umfeld vielleicht schon erahnen?
Ich lebe und arbeite als eine von acht BetriebsleiterInnen in einer Hofgemeinschaft auf der Domäne Fredeburg. Einem nach biol.- dyn. Richtlinien bewirtschafteten Betrieb mit vielen verschiedenen Acker- und Gemüsekulturen, Rindern, Milchverarbeitung und einem großen Hofladen mit angeschlossener „Küche und Café“, Ferienzimmern und unserem Verein KulturLandWirtSchaft e.V. mit Hofpädagogik und kulturellen Veranstaltungen. Unser Herzensanliegen ist es, neben der naturerhaltenden Landwirtschaft, ein Begegnungsort für viele Menschen und unterschiedliche Aktivitäten zu sein. Es geht dabei immer wieder ganz konkret um Sinneswahrnehmungen, um riechen, schmecken, fühlen, sehen, hören, erleben ….
Zunächst verlangt diese Krise von uns und vor allem von den Menschen unseres Umfeldes, auf diese Begegnungen und Sinneseindrücke hier auf dem Hof weitestgehend zu verzichten. Eine innere Geste, die dem menschlichen Bedürfnis nach Verbundenheit und Nähe, Entdeckerfreude und gemeinsamem Genuss, zuwiderläuft. In dieser Zeit der stärkeren Zurückgezogenheit wird der Wert der Begegnungen und die Qualität eines solchen Ortes plötzlich ganz neu erlebt. Welche Orte fehlen mir? Wo und mit wem würde ich jetzt gerne Zeit verbringen? Und warum?
Wir erleben in unserem Hofladen nach den ersten Hamsterkäufen nun wieder ein größtenteils „normales“ Einkaufsverhalten. Die Kunden sind uns weiterhin treu und möchten nicht auf die gesunden und frischen Lebensmittel verzichten. Die Bedeutung der eigenen Gesundheit hat eine neue Dimension erhalten und könnte sich auch zukünftig auf das Einkaufs- und Essverhalten der Menschen auswirken. Koche und backe ich in Zukunft vielleicht doch wieder vermehrt selbst, weil ich gemerkt habe, wie viel Spaß es macht? Kaufe ich bewusster „vor meiner Haustür“ ein? Unterstütze ich den Bauern, den ich kenne, vielleicht sogar ganz praktisch bei Pflege- und Erntearbeiten, weil ich gemerkt habe, wie wichtig es mir ist, dass er da ist und mich mit guten Lebensmitteln versorgt? (Ich bin berührt von den vielen Hilfsangeboten aus unserem Hofumfeld.) Ich lerne in dieser Krise meine Grundbedürfnisse ganz neu wahrzunehmen. Am Verlust erkenne ich den Wert. Dies als Geschenk zu verstehen und mein Leben in und nach der Krise in einzelnen Bereichen bewusster nach diesen Bedürfnissen auszurichten, kann der Gewinn am Ende sein.
In einer Hofgemeinschaft diese Krisensituation zu durchleben, ist ein großes Glück. Einsam bin ich hier nicht. Wir treffen uns zum Singen oder Meditieren und natürlich bei der täglichen Arbeit. Und doch habe ich persönlich sehr schnell bemerkt, wie sehr ich die menschlichen Begegnungen und die Verbundenheit zu meinem unmittelbaren Umfeld brauche. Sie können nur für kurze Zeit durch digitale Möglichkeiten ersetzt werden. Der Mensch braucht den Menschen. Die Schulklassen auf dem Hof und auch die Kulturveranstaltungen fehlen mir. „Lebendige“ Nahrung für die Seele ist eben auch wichtig. So hoffe ich, dass genau diese Angebote, die wir unserer Region zu Verfügung stellen können, in der Zukunft eine erhöhte Wertschätzung erfahren und die persönliche Begegnung, die gegenseitige Fürsorge und das bewusste Verhalten im Sinne der Gesunderhaltung unserer Umwelt, als echte Geschenke und persönliche Glücksmomente erlebt werden.
Über die Aufgabe und Kraft der Musik und die Entwicklung eines neuen Hörsinns
Von Matthias Bölts, Musiker und Leiter von MenschMusik Hamburg
Italien, 16. März 2020: Mit organisierten Flashmobs, aber auch spontan, machen viele Italiener ihre Balkons zu musikalischen Miniaturbühnen. Beim „flashmob sonoro“ (klingender Flashmob) sind dabei unzählige Flötisten, Pianisten, trommelnde Kinder, Gitarrenspieler und tanzende Menschen versammelt, um gemeinsam Lieder gegen Angst und Einsamkeit in der Isolation zu singen. Es entsteht ein Zeichen der Solidarität und Lebensfreude in Zeiten der Corona-Krise.
Diese Bilder gehen um die Welt. Sie erzählen von der Möglichkeit der Musik, unmittelbarer Ausdruck zu sein von elementarer Freude und Schmerz, von ihrem Potential, zu trösten und im Innersten zu berühren. Besonders „anschaulich“ wurde die verbindende, die Vereinzelung überwindende Kraft der Musik im „Konzert der Balkone“. Musik trägt in sich die Kraft, Angst und Furcht zu überwinden, die Seele zu weiten und zu öffnen.
Der deutsche Schriftsteller Johann Gottfried Seume schreibt in seinem Gedicht „Die Gesänge“ 1804:
„Wo man singet, lass dich ruhig nieder, Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; Bösewichter haben keine Lieder.“
Der individuelle Freiheitsraum und der zwischenmenschliche Begegnungsraum sind gegenwärtig am stärksten angegriffen und Angst-besetzt – mit Angst vor Ansteckung, vor Krankheit und Tod einerseits und andererseits durch den magischen Sog in ein scheinbar objektives digitales Informationsgeschehen. Der soziale Herzensraum scheint gegenwärtig gleichsam zerrissen zwischen angstgesteuerter individueller Isolation und Abkapselung und einer durch die Fesselung an Massenmedien gelenkten globalen Gleichschaltung der menschlichen Bewusstseine.
Was aber möchte eigentlich in diesem Herzensraum „klingen“? Was möchte dort leben? – dort, wo die Begegnung von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz geschieht.
Die Besinnung auf eine alte manichäische Weisheit: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ kann innere Ruhe geben und Orientierung schaffen.
Goethe weist mit diesen Worten auf eine tiefe Erfahrungsmöglichkeit des Lebens: Licht verstärkt Schatten, Dunkles lässt das Lichte stärker leuchten. Man kann es als innere Aufforderung erleben, sich dem Sog der die Seele verdunkelnden Schatten zu entziehen und das Bewusstsein der eigentlichen Lichtquelle zuzuwenden.
Aber wie kann eine Umwendung des Bewusstseins gelingen?
Der Musiker Johann Gottfried Walther schreibt 1732 in seinem „Musikalischen Lexikon“:
„Corona, oder Coronata, also wird von den Italianern dieses Zeichen (gemeint ist das Zeichen der Fermate) genennet, welches, wenn es über gewissen Noten in allen Stimmen zugleich vorkommt, ein allgemeines Stillschweigen, oder eine Pausam generalem bedeutet“. – ein überraschender und bemerkenswerter Zusammenhang.
„Corona“ erscheint im Sinne dieser Worte als die „Moll – Innenseite“ des gesellschaftlichen Lockdowns, als Aufforderung zum bewussten Innehalten und aktiven Hören.
Es geht um die Erfahrung, um das Gewahrwerden von Stille als lebendiger Substanz, nicht als Leere oder Abwesenheit von Geräuschen. Yehudi Menuhin:
„Diese echte Stille… ist Fundament allen Denkens, darauf wächst alles Schöpferische von Wert. Alles, was lebt und dauert, entsteht aus dem Schweigen. Wer diese Stille in sich trägt, kann den lauten Anforderungen von außen gelassen begegnen.“
Ein solcher Umgang mit Stille kann sich steigern in die Erfahrung dessen, was Rudolf Steiner im meditativen Prozess als „leeres Bewusstsein“ beschreibt. Hier geht es um die Ausbildung eines neuen Hörorgans der Seele, es geht um Ohren für Künftiges, für Wesentliches und Lebendiges. Grundlage hierfür ist das Üben von gesteigerter Wachpräsenz bei gleichzeitigem Sich-ganz-Zurückzunehmen in selbstloser Hingabe, ohne abzuschweifen, ohne einzuschlafen. Auch das Loslassen der Pläne und Lösungen von gestern und der übende Umgang mit dem Unvorhersehbaren unterstützen die Entwicklung dieses Inspirationsorgans. Schon die letzten Wochen haben gezeigt, wie die Sensibilität für das, was in der Lebenssphäre der Erde und in dem Raum des Zwischen-Menschlichen anwesend ist oder anwesend sein möchte, enorm gestiegen ist.
„Brannte nicht unser Herz in uns bereits, als ER auf dem Weg zu uns sprach und uns den Sinn der Schriften erschloss?“ (Lukas 24,32)
Positive Keime der Pandemie
Von Tille Barkhoff, Eurythmistin und Kulturschaffende
Das Gegenteil von Ordnung ist Chaos. Unsere gesellschaftliche Ordnung wird gerade massiv gestört und bewegt sich dadurch aus der Ordnung in Richtung Chaos. Die Routine des Alltags ist unterbrochen. Es gibt keine verlässlichen Prognosen, wie es weitergehen wird. Und einige Menschen kommen sogar in existenzielle Not. Je länger dieser Zustand anhält, desto deutlicher werden die Veränderungen in den unterschiedlichsten Bereichen.
Auch in künstlerischen Prozessen finden wir die Polarität von Ordnung und Chaos. Zu Beginn eines Schaffensprozesses ist oft noch nicht klar, wo es hingehen soll. Es herrscht noch ungestaltetes Chaos mit tausend Möglichkeiten. Erst am Ende, wenn das Kunstwerk fertig ist, wird die Ordnung, die Komposition erreicht. Will man ein Bild malen, sind die ersten Farbflecke oft noch zufällig und chaotisch. Diese Unvollkommenheit regt uns aber erst an, sie verbessern zu wollen, „etwas daraus zu machen“!
Liebe Christine Pflug, Du hast mich gefragt etwas darüber zu schreiben, wo ich Positives in unserer Pandemie-Situation finde, ob sie vielleicht auch positive „Keime“ birgt.
Schon allein darin, dass sie unser Leben plötzlich chaotisiert, scheint mir etwas Positives zu liegen. Denn wenn wir alltägliche Gewohnheiten verlassen, entsteht Bewegung und es können sich neue Möglichkeiten ergeben!
Dass die „Corona-Veränderungen“ wirklich problematisch sind, will ich damit nicht bestreiten. Wie auch andere, sind viele Künstler in wirklich existentielle Notlagen gekommen. Das will ich nicht schmälern! Ich selber musste auch Soforthilfe beantragen. Ängste, Ärger, manchmal auch Selbstmitleid waren da nicht fern.
Aber für mich ist die Situation auch zur Chance geworden. Ich hatte mich schon länger um neue Formen der Kunstförderung bemüht und kann nun endlich etwas tun. Die schon immer schwierige Situation freischaffender Künstler wird plötzlich allgemein sichtbar, und viele Menschen sind bereit spontan zu helfen! Dadurch konnte die „#KunstNothilfe“ (ein Onlineportal) relativ schnell eingerichtet werden und schon Ende der 2. Woche helfen!
Die Anträge zeigen die reale Not vieler Künstler, aber auch viele phantasievolle Wege im Umgang damit: Eine Künstlerin hat uns Ihren Antrag in Gedichtform, als Rap, geschickt! Ein Künstler, der nicht weiterarbeiten konnte, hat in seinem Antrag berichtet, dass er jetzt, mit seinen Nachbarn „Balkonkunst“ betreibt. Ein Musiker hat uns einen selbst komponierten Song weitergeleitet: darüber, dass auch Lächeln ansteckend sein kann! Und ein Künstler hat uns sogar die finanzielle Zuwendung wieder zurückgegeben mit der Begründung, dass er jetzt auch staatliche Soforthilfe bekommen hat und andere Kollegen aus Bundesländern, die keine Soforthilfe zahlen, es wohl dringender bräuchten.
Ich konnte so neben der Not also auch viel Phantasie, Improvisationsgeist und Solidarität wahrnehmen. Das sind für mich solche positiven „Keime“, die in Notsituationen entstehen oder überhaupt dann, wenn Veränderung da ist.
Ich vermute, dass viele Menschen auf die eine oder der anderen Weise neue Einblicke und Erfahrungen gesammelt haben und damit auch kreativ geworden sind. Dass sie, wie beim Bildermalen, in den ersten chaotischen Farbflecken schon ein Potenzial entdeckt haben, und das dann weiter verfolgen und entwickeln wollen. Vielleicht können wir manche der kleinen positiven neuen Ansätze, die wir jetzt auch erleben (mehr gemeinsame Familienzeiten, Solidarität mit denen, die es stärker getroffen hat etc.) dadurch in den Alltag “nach Corona“ retten, indem wir sie uns bewusst machen bzw. uns aktiv entscheiden, sie weiter zu pflegen.
Ich bin gespannt, welche neuen Blickrichtungen, Initiativen etc. wir in die „Nach-Corona-Zeit“ herübergerettet haben, welche positiven „Corona-Keime“ in 3 Jahren Früchte tragen werden!
Neue Verbindungsräume
Von Theresa Schram, Sängerin und Chorleiterin
Die äußere Arbeit mit dem Chor pausiert seit März.
Das brachte mich in den letzten Wochen dazu, neue Wege zu suchen, miteinander kreativ und in Verbindung zu bleiben.
Dabei wurde mir klar, was für mich die Essenz einer jeden Chorprobe ausmacht: Es ist die Präsenz, die wir entwickeln, wenn wir gemeinsam singen und aufeinander hören.
Ich habe also meinen Chor dazu eingeladen, während unserer regulären Chorprobenzeit jede/r an seinem Ort, einen „inneren Chorraum“ zu betreten, dort zu singen – Improvisationen, Übungen und Lieder- dabei an die anderen zu denken, sie innerlich zu hören und sich überraschen zu lassen, was daraus entsteht.
Ich bekomme zahlreiche Rückmeldungen von Chormitgliedern, wie sie mit der aktuellen Situation und diesem Angebot umgehen, wie sie sich beim Singen zu Hause tatsächlich mit den anderen verbunden fühlen, wie sie dadurch kreativ werden, was sie dabei über ihre eigene Stimme herausfinden und somit auch als Einzelne davon profitieren.
Besonders gefreut hat mich die Rückmeldung von einem Menschen aus dem Chor, der im Moment für mehrere Wochen im Krankenhaus ist. Er hat sich sehr über die Einladung gefreut: Er kann aus der Entfernung teilnehmen, was ihm bei regulären Proben im Moment nicht möglich wäre.
Ich habe den Eindruck, dass es eine Chance für jeden Einzelnen und für uns als Chor ist, eine innere Schicht des Singens und der Verbindung untereinander zu entdecken, die uns sicherlich zu Gute kommen wird, wenn wir uns wieder treffen, um miteinander zu singen.
„ … Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. …“
Von Jörg Kirschmann, Pfarrer der Christengemeinschaft in Lübeck
Zuallererst: „ … Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. …“ Was, wenn wir nicht gerade in Zeiten wie dieser diesen Satz aus Friedrich Hölderlins Christushymne „Patmos“ beherzigen könnten?
Denn was wir gerade erleben, ist eine menschheitsumspannende Krise, die uns vor Herausforderungen stellt, die wir, gerade, was unser Menschsein anbelangt, auch als eine Prüfung empfinden können. Es stellt sich ja nicht nur die Aufgabe einer äußeren Bewältigung der Krise, die ungeheuer viele Gedankenkräfte in Anspruch nimmt und darüber hinaus unzähligen Menschen einen selbstlosen Dienst abverlangt. Es stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis zu uns selbst, das heißt auch zu unserem geistigen Ursprung, und nicht zuletzt nach unserem Verhältnis zu unserem Mitmenschen. Ruft uns die Krise nicht auf zu einem Innehalten in dem Sinne, dass wir uns unseres inneren Haltes gewahr werden sollen? Denn für viele von uns wurden, abgesehen von den ganz individuellen Schicksalsereignissen, noch nie in ihrem Leben für unumstößlich gehaltene Sicherheiten in diesem Maße erschüttert, noch nie geriet so viel Gewohntes ins Wanken.
Ein wirklicher „Einschlag“ dieser Krise fiel – zumindest hier in diesem Land – mit dem Beginn der Passionszeit zusammen. Was immer man auch über die Frage der Berechtigung der Einschränkungen der äußeren Freiheiten denken mag, Tatsache ist doch, dass uns während dieser Zeit eine Begegnung, wie wir sie bisher als etwas Selbstverständliches gewohnt waren, versagt blieb. Vor allem betraf es – und niemand vermag zu sagen, wie lange sich dies noch hinziehen wird – das Erlebnis der Gemeinschaft. Denn kann eine Videokonferenz ein wirkliches Gemeinschaftserlebnis herstellen? Wohl kaum. Was aber gerade in dieser Zeit für viele Menschen zu einer existentiellen Erfahrung wurde, ist das tiefe Verbundensein durch die intensive Hinwendung, vielleicht sogar mit zeitlicher Verabredung, zu einem gemeinsamen geistigen Inhalt, auch durch Meditation und Gebet.
„Entbehrung“ und „Sehnsucht“, zwei Grunderfahrungen des Menschseins, von denen der Kultus der Christengemeinschaft in der Passionszeit an zentraler Stelle spricht, bekommt vor dem Hintergrund dieser Krisensituation einen besonderen „Klang“. Stellt sich die Frage: Werden wir diese Qualität des über Wochen erübten inneren Verbundenseins mit dem anderen Menschen wie auch mit geistigen Inhalten, vielleicht auch dem Kultus, weiterhin in unser Leben und geistiges Streben mit einbeziehen können? Dann wäre diese Krise nicht nur überstanden, sondern es wäre den schwierigen Lebenssituationen etwas abgerungen worden, was als Heilsames in die Zukunft zu führen vermag und den Gegenkräften, die die Entmenschlichung in immer spürbarerer Weise vorantreiben wollen und werden, etwas Wirksames entgegensetzt.
Denn wie schnell vergessen wir es im Alltag: auf Passion folgt Ostern! Was am ersten Karfreitag der Menschheit auf den Großteil der damaligen Zeitgenossen den Eindruck der Ohnmacht, ja, des Scheiterns machte, trug in Wirklichkeit bereits Auferstehungskräfte in sich. „Es ist vollbracht!“ Dieses Wort Christi, sterbend vom Kreuz herab gesprochen, bedeutete nicht „Es ist überstanden!“, sondern beinhaltet eine vollkommene Bejahung des Passionsweges. Leiden, nicht des Leidens wegen, sondern als Kraftquell. Etwas, das Joseph Beuys meinte, als er sagte: „Leiden ist die Substanz des Lebens“; Leiden als Grundkraft des Schöpferischen.
Aus der Zeit der Romanik kennen wir Kreuzigungsdarstellungen, bei denen der Gekreuzigte als König zu sehen ist. Man könnte auch sagen: Es ist der Mensch, wie er gedacht ist. Das Herz, die Mitte ungeschützt, denn die Arme sind ausgebreitet – ein Bild vollkommener Souveränität und Freiheit. Alles Leiden, alle Schwere ist überwunden, der Gekreuzigte, das allumfassende Menschheitswesen, ist ganz bei sich und zugleich dem anderen zugewandt. Das Kreuz selbst Ausdruck des Verbundenseins in der Aufrechte: mit Ursprung, Schicksal und Zukunft, in der Waagerechte: mit dem Mitmenschen verbunden.
Hatte Johannes dieses Zukunftsbild des Menschen schon vor sich, als er das Golgatha-Geschehen miterlebte? Bei Hölderlin heißt es über den Gekreuzigten: „ … Und es sahn ihn, wie er siegend blickte/Den Freudigsten die Freunde noch zuletzt …“ Was in Christus durch einen Menschen errungen worden ist, kann nun im Menschheitlichen seine Vollendung finden.
Vielleicht kann die Hinwendung zu diesem Zukunftsbild uns in Zeiten wie der gegenwärtigen ermutigen und stärken.
Wie man es auch noch sehen könnte …
Von Christine Pflug, Biografieberaterin und HP für Psychotherapie
Letzten November war im hinweis ein Interview mit Herrn Dr. Schuberth zu den drei Prüfungen, die Feuer-, Wasser- und Luftprobe. Sie sind auf einem Schulungsweg zu bestehen, ereignen sich aber im eigenen, realen Leben.
Und – so Rudolf Steiner: Es gibt Menschen, die nicht gezielt einen Übungsweg gehen und trotzdem in ihrer Biografie an diese drei Stufen geführt werden. Mich bewegt daher die Frage: Wie muss ein biografische Situation beschaffen sein, damit sie die Qualität einer solchen Probe hat? Um diese Proben verkürzt (und damit auch unzulänglich) zusammenzufassen: Es geht darum, dass äußerer Halt wegbricht, die Stütze der äußeren Verhältnisse fehlt, und der Mensch sich nicht mehr von den eigenen Wünschen, Neigungen und Abneigungen führen lassen kann, Gewohnheiten, Konventionen, bislang Bewährtes keine Orientierung mehr gibt. Ich kann nicht beurteilen, ob jemand in dieser aktuellen Lage eine Feuer-, Wasser- oder Luftprobe zu bestehen hat. Aber Viele von uns erleben: Der Boden schwankt. Welche Schritte gehe ich jetzt und in welche Richtung? Auf was gründe ich meine Handlungen? Planbares und Bewährtes funktioniert nicht mehr. Und vielleicht lugt sogar der Tod um die Ecke und fragt: „Bist du bereit, mir zu begegnen? Kannst du den großen Abschied vollziehen?“
Es sind Grenzerfahrungen, „Bodenlosigkeiten“, die wir erleben können und aushalten müssen. Und – wenn wir uns dieser Situation innerlich stellen – vielleicht entsteht ganz leise und intim etwas Neues. Möglicherweise gewinnen wir daraus eine neue Lebensfülle. Die Helligkeit der Tage, das Zwitschern der Vögel, eine wärmende Begegnung mit einem Menschen, der feine Duft von Stiefmütterchen, die erste Kugel Eis in diesem Jahr, ein unerwarteter Gesang, eine leise Heiterkeit und Dankbarkeit … Vielleicht ist es Weniges, das sehr viel werden kann.