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„Dann ist Vergangenheit beständig, das Künftige voraus lebendig, der Augenblick ist Ewigkeit …“ (Goethe)
Gespräch über die Zeit
Mit Matthias Bölts, Musiker und Ulrich Meier, Pfarrer
Gerade jetzt am Jahresende erleben wir die Zeit sehr verschieden. In unserer Zivilisation verläuft die Vorweihnachtszeit meistens hektisch, danach sollte Stille eintreten. Am Jahresende blicken wir auf das vergangene Jahr zurück und denken über die Zukunft nach. Die 12 Heiligen Nächte gelten als ein besonderer, herausgehobener Zeitraum.
Wie können wir mit Zeit schöpferisch umgehen, ihr gegenüber ein aktives Verhältnis gewinnen? Wie gehen wir angemessen mit Vergangenem, Zukünftigem und Gegenwärtigem um? Welche Dimension hat Zeit in der Meditation?
Matthias Bölts und Ulrich Meier hatten in diesem Jahr im Rudolf Steiner Haus zwei Seminare zum Thema „Zeitbewusstsein entwickeln“ gegeben. Ein drittes wird in 2023 folgen.
Interviewpartner: Ulrich Meier, Pfarrer der Christengemeinschaft seit 1990. Davor Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher und zwei Jahre Tätigkeit im Landschulheim Schloss Hamborn. 16 Jahre Gemeindepfarrer in Hannover, seit 2006 in Hamburg Mitarbeit in der Leitung des Priesterseminars und Gemeindepfarrer in Hamburg-Mitte. Redakteur der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“.
Matthias Bölts: Musiker; Orgel-, Chorleitungs- und Kompositionsstudium in Berlin; Mitarbeit in der Leitung von MenschMusik Hamburg; Dozent für Musikalische Phänomenologie und Musiktheorie; Seminare und Publikationen zu Fragen des inneren Lebens und der anthroposophischen Meditation; Matthias Bölts lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Christine Pflug: Gerade jetzt am Jahresende erleben wir unterschiedliche Zeitqualitäten: Die Vorweihnachtszeit ist im Allgemeinen stressig, danach kommt Ruhe. Man kann das mit äußeren Umständen begründen, aber ist das die einzige Ursache? Wie kann man an diesem Jahresabschnitt festmachen, dass wir Zeit so verschieden erleben?
Ulrich Meier: Zeiterleben heißt ja zunächst, dass man die gemessene Zeit unterschiedlich erfahren kann. Wie kommt es, dass ich sie manchmal als drängend, stressig, ungestüm erlebe und dass sie ein anderes Mal in Ruhe fließt, bis dahin, dass ich das Gefühl habe, die Zeit vergeht gar nicht?
Im Dezember treffen zwei Zeiten aufeinander: Advent ist eine Erwartungszeit, sie ist darauf ausgerichtet, dass in der Zukunft das Entscheidende passiert. Alle Gegenwart ist nur eine Einstimmung, Vorbereitung und eine Zuwendung auf das Unbekannte, auf das wir zugehen. Dem gegenüber soll Weihnachten, traditionell gesehen, eine erfüllte Zeit sein. Es geht also eigentlich darum, was in der Ruhe geschieht, wenn sich das Kommende, oder besser gesagt der Kommende in die gewordenen Verhältnisse einlebt.
ein inneres Entschleunigen
Matthias Bölts: Ich denke, dass die Adventszeit als ein fortschreitendes inneres Entschleunigen verstanden werden kann: Mit jeder Kerze mehr könnte man einen Schritt stiller werden – bis zur „stillen Nacht“. Historisch gesehen war es ja früher auch eine Fastenzeit. Dass wir zivilisatorisch eher das Gegenteil machen, erscheint mir als eine Verstellung dieser Absicht.
die „Zeit zwischen den Jahren“
C. P.: Von den anschließenden 12 Tagen, bzw. Nächten, sagt man, es sei eine Zeit, die aus dem Jahreslauf herausgehoben ist, eine „Zeit zwischen den Jahren“. Welche Qualität ist das?
U. Meier: Es ist ja zunächst ein äußerliches Kalenderereignis, das zwischen dem Mondenjahr, wo ein Monat nur 4 Wochen hat, und dem Sonnenjahr, genau diese 12 Tage und 13 Nächte einfügt, damit der Frühlingspunkt nicht wandert. So steht diese Zeit zwischen dem westlichen Weihnachtsfest und dem orthodoxen, das auf den 6. Januar fällt. Diese äußere Tatsache hat starke spirituelle Auswirkungen. Menschen können in dieser Zeit schlimme Krisen erleben, tiefe geistige Erfahrungen machen, völlig aus der Spur kommen oder sich endlich finden.
Die Zeit wird räumlich
C. P.: Das Prinzip, dass Zeit räumlich wird, ist immer wieder in Einweihungswegen beschrieben worden. Wie ist das zu verstehen? Wie kann man darin aktiv werden?
U. Meier: Genau das ist die Arbeitsfrage in unseren Seminaren: Kann man den eigenen Zeitgarten so anlegen, dass es Augenblicke gibt, in denen sich die Zeit erfüllt? Aus der religiösen Perspektive geschieht das zum Beispiel in der Wiederholung. Man nimmt die Zeit aus ihrem Fluss heraus und hält inne. Wenn ich wiederholt in eine Meditation, ein Gebet, ein Sakrament eintauche, trete ich in einen durch Zeit gestalteten Raum ein.
M. Bölts: „Denn gemeinsam sind Anfang und Ende beim Kreisumfang“, das ist ein Satz des Heraklit. Er beschreibt gedanklich-imaginativ, was im mittelalterlichen Symbol der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, symbolisiert wurde. Einmal zeigt das Bild der Schlange, dass sie sich auf dem Boden schlängelt, nacheinander und vorwärts, in dem anderen Bild wird sie zum Kreis und damit zur Ewigkeitsschlange. Das ist mit der Möglichkeit der 12 Heiligen Nächte verbunden: Der Schritt aus der Erfahrung der Zeit als fließendes Nacheinander hin zur Zeit als Raumerlebnis – „Zum Raum wird hier die Zeit“ (Parsifal). In dieser Umwendung des Bewusstseins wird im Menschen eine Instanz wach, die sich selber als Teil einer Überzeit, einer Zeitlosigkeit, einer Ewigkeitszeit erlebt.
C. P.: Moderne Komponisten haben in Ihren Werken ein anderes Verhältnis zur Zeit. Wie ist das?
M. Bölts: Einer, der uns diesbezüglich beschäftigt hat, war Morton Feldman, ein Kollege und Zeitgenosse von John Cage, der dafür bekannt ist, dass er die Zeit selbst zum Inhalt der Komposition gemacht hat. Feldman sagte, er wolle die Zeit selber kennenlernen, aber nicht im Zoo, sondern im Dschungel. Worauf deutet diese Unterscheidung von Zoo und Dschungel?
Im äußeren Raum ist die Zeit nicht zu finden, sondern immer nur ihre Wirkungen. Die Uhr, bei der der Zeiger weitergeht, ist eine Erscheinung im Raum. Wenn ich der Zeit dahin folge, wo sie selber zu Hause ist, muss ich aus dem Raum heraus, an den meine Sinne und mein Bewusstsein normalerweise gebunden sind und in das rein seelische Erleben hinein.
Zeiterleben ist immer Zeitintegration in die Gegenwart.
C. P.: Wie können wir Zeit schöpfen oder erschaffen?
U. Meier: Ein erster Alltagsansatz wäre: „Ich nehme mir Zeit für etwas.“ Das setzt voraus, dass ich mich für eine Zeit nicht treiben oder drängen lasse, sondern dass ich mir Räume schaffe, in denen ich bestimme, wie ich diese Zeit füllen möchte. Eine Hilfe sind Dinge, die es schon gibt, beispielsweise ein Kunstwerk, das ich betrachten kann. Schaffe ich es, 10 Minuten mit meiner Aufmerksamkeit bei diesem Kunstwerk zu bleiben? Ich integriere damit etwas Vergangenes in die Gegenwart. Unsere gesamte Kulturwelt ist davon bestimmt, dass wir uns mit den Dingen, die bereits geschaffen sind, noch einmal neu beschäftigen und dabei entdecken, dass in ihnen auch eine Gegenwart liegt. Zeiterleben, so sagt Wolfgang Schad, ist immer Zeitintegration in die Gegenwart. Das gilt für Vergangenheit und Zukunft. Das Dehnen der Zeit, den gestaltenden Umgang mit der Gegenwart selbst, würde ich in die Mitte stellen.
wie man den Punkt erreicht, die Zeit zu verdichten oder zu weiten
M. Bölts: Bevor man sich dieser großen Frage zuwendet, braucht man ein Instrumentarium, das aus der Nötigung der Zeit durch Stress oder Langeweile heraushilft. Man kann dann sagen: „Alles, was ich anschauen kann, sitzt mir nicht mehr im Nacken“. Ein von der seelischen Dynamik unabhängiger Bewusstseinsstandpunkt der Beobachtung ist notwendige Grundlage. Das Zweite wäre, darauf basierend die Gestaltungs- und Führungsmöglichkeit von Zeit zu erlernen und das Dritte, wie man den Punkt erreicht, die Zeit zu verdichten oder zu weiten.
C. P.: In diesen Bereich gehören auch die Momente des Verweilens, die Kurzweil oder die Langeweile …
M. Bölts: Es gibt in uns die Instanz, die in der Lage ist, die Art und Dauer des Verweilens zu gestalten. Sie ist in der Lage, Kurzweil oder Langeweile als zwei Formen des Zeiterlebens selbst zu suchen. Martin Heidegger hat anregende Bemerkungen zur Langeweile gemacht und sie als die Grundstimmung des Philosophierens bezeichnet. Er fragt: „Vielleicht verstehen wir ihr Wesen (die Langeweile – MB) nicht, weil sie uns noch nie wesentlich geworden ist.“ Rudolf Steiner beschreibt Langeweile im Zusammenhang mit Meditation: Meditation beruht, indem alle äußere Sensation ausgeschlossen wird, auf einem willentlich herbeigeführten Zustand der Langeweile. Das führt zu der Frage: Wie übe ich Langeweile? Wie kann ich einen Augenblick dehnen und gleichzeitig in ihm wach anwesend bleiben?
eine ungerichtete Aufmerksamkeit im Verweilen …
U. Meier: In der Frage „Kann ich Zeit dehnen?“ liegt eine Konfrontation mit mir selbst. Sie geht gegen Gewohnheiten der bewegten Zeit. Man hält seine Aufmerksamkeit aufrecht, ist in einem wachen Zustand, aber tritt in einen Bereich wie Traum oder Schlaf. Was verhilft mir dazu, das Prinzip der Pause, die wir nachts haben, in den Tag zu führen? Es wäre eine ungerichtete Aufmerksamkeit im Verweilen …
M. Bölts: Eine Alltagsübung dazu wäre, dass man beispielsweise nicht in einer Kaffeetasse rührt, um die Milch zu verteilen, sondern dass man die Aufmerksamkeit auf das Wie verlegt. Wie rühre ich eigentlich um? Wie kann ich mich für die Rotationsbewegung interessieren? Was macht die Hand, was der Löffel, wie klappert der? Normalerweise sind wir ergebnisorientiert, aber bei dieser Übung steht der Prozess im Vordergrund. Dann wendet sich die Aufmerksamkeit von dem sonst funktionellen Abhaken der Alltagstätigkeiten ab. Da bin ich zwar noch nicht in einem Überzeitlichen, aber auf dem Wege dahin.
C. P.: Damit wären wir bei dem Zitat von Goethe: „Dann ist Vergangenheit beständig, das Künftige voraus lebendig, der Augenblick ist Ewigkeit …“
Der Zusammenhang von Ewigkeitserfahrung im Hier und Jetzt.
M. Bölts: Dieses Zitat ist für mich anregend, denn Goethe verweist mit diesen Worten auf den Zusammenhang von Ewigkeitserfahrung im Hier und Jetzt. Es geht einerseits um den Kontakt mit meinem eigenen Zukunfts-Ich. Wie integriere ich es in mein gewordenes, biografisch mitgebrachtes Ich? Das Gegenwarts-Ich wird hier im Sinne einer dritten Ich-Instanz zum Vermittler, welches die beiden anderen miteinander verbindet. Durch sie kann dann dieses vertikale Kairos-Moment der Geistesgegenwart im wahrsten Sinne des Wortes entstehen.
am Jahresende
C. P.: Gerade jetzt am Jahresende werden viele Menschen voraus- und zurückblicken. Wie macht man das: Vergangenheit integrieren und Kontakt zum eigenen Zukunfts-Ich herstellen?
U. Meier: Vergangenheit integrieren heißt nicht, sie festzuhalten, sondern sie anzunehmen und zugleich auch loszulassen. Es geht darum, sich das Vergangene noch einmal anzuschauen und zu durchleben, um es dann zur Seite zu legen. So kann man es auch an Silvester machen: Schaue es dir an, und dann lass es gehen.
M. Bölts: Danach lasse ich dann die Zukunft auf mich zu-kommen, ich plane sie nicht, sondern begebe mich in eine Verfassung des Hörens. Es ist wie das Eintreten in einen Hörraum, der ähnlich konfiguriert ist wie im Konzert der Moment der Stille vor dem ersten Ton – nur ausgedehnter und ohne wirklich zu wissen, was kommt. Dies ist die „adventliche“ Seite von Zukunft im Sinne von advenire – herankommen. Die entsprechende seelische Gestimmtheit entspricht dem Liedtitel „Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich Dir?“
C. P.: Manche können so etwas hören, andere sehen es …
U. Meier: Für mich lebt in der Frage nach der Zukunft ein handlungsorientierter Ansatz: Nicht „gute Vorsätze“ für das neue Jahr auflisten, sondern klare Entschlüsse vorbereiten. Jeder Entschluss führt mich in die angesprochene Begegnung von Alltags-Ich und höherem Ich. Wenn es gelingt, hört mein Alltags-Ich, was mir mein höheres Ich zuträgt, und dann entscheide ich, dieses oder jenes zu tun.
C. P.: Warum soll man sich mit dem Thema Zukunft überhaupt beschäftigen?
M. Bölts: Das ist das Motiv unseres dritten Zeit-Seminars im kommenden Jahr. Es geht uns nicht um eine Hobby-Philosophiererei, sondern darum, in der Auseinandersetzung mit diesen Themen ein Organ für Entwicklung zu schaffen. Entwicklung hat immer Anteil an etwas Überzeitlich-Geistigem, was aber im sinnlich-alltäglichen Leben passiert. Um Entwicklung wahrzunehmen und zu gestalten, gehört das Feld der Zeit dazu, in der sie geschieht. Entwicklung weist aber immer auch über die Zeit hinaus.
Das dritte Seminar wird in 2023 stattfinden. Im Programm des Rudolf Steiner Hauses und im Hinweis werden die genauen Daten abgedruckt.