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Das Motiv von Kreuz und Auferstehung bei Joseph Beuys
Artikel von Jörg Kirschmann, Pfarrer der Christengemeinschaft
Im vergangenen Jahr wurde an vielen Orten Joseph Beuys‘ und seines Werkes gedacht anlässlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages. Zahlreiche Ausstellungen wurden ausgerichtet, die die Möglichkeit boten, sein Werk auf Aktualität hin zu befragen. Die Ausstellungen trugen Titel wie „Joseph Beuys und die Schamanen“, „Die unsichtbare Skulptur“, „Denken ist Plastik“, „Der Erfinder der Elektrizität/Joseph Beuys und der Christusimpuls“, um nur wenige Beispiele zu nennen, die auf die Spannbreite Beuysscher „Themen“ und die damit verbundene Erweiterung des Kunstbegriffs verweisen mögen. Was bleibt?
Neben einem überaus umfangreichen zeichnerischen Werk, einer Reihe von Plastiken vor allem aus der Frühzeit seines Schaffens, kann man gerade in den Ausstellungen vielen Arbeiten begegnen, die im Zusammenhang mit Aktionen entstanden sind, die doch ursprünglich ganz von der Anwesenheit Beuys‘ und den daran teilnehmenden Menschen lebten. Nun sind sie gleichsam Relikte, die trotz intensiver Betrachtung oftmals rätselhaft erscheinen. Und doch kann das Erlebnis eintreten, dass sie aus einer gewissen Entfernung zur konkreten Wahrnehmung in einer Art Nachbild plötzlich anfangen zu „sprechen“, verständlich zu werden, wenn nicht sogar auffordern, selbst Teil dieses Kunstwerkes zu werden.
Hinsichtlich des Zukunftsaspekts seines gesamten Schaffens erscheint dieser vielleicht am deutlichsten und beispielhaftesten in seiner letzten großen Aktion „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“: etwas wurde in die Kultur „eingepflanzt“ und impulsiert, dessen Wirkung und gesamtes Ausmaß sich erst in der Zukunft zeigen wird. Die Kunst beginnt, alle Lebensfelder zu ergreifen und zu durchdringen. Und bei alledem, so scheint mir, darf nicht unterschätzt werden, welchen Beitrag Beuys zu einer zeitgemäßen Auffassung des Christentums jenseits aller konfessionellen Orientierung geleistet hat.
Wie kann man die Welt wieder menschlich machen …
In einem Interview aus dem Jahr 1982 formulierte er es so:
„Immer im Mittelpunkt die Frage, wie man die Welt wieder menschlich machen kann, dann aber auch so menschlich, wie sie nie menschlich war.
Das heißt, dass das Christentum in der Essenz heute erst beginnen kann. Das, was wir bisher hatten vom Christentum, war ja wie eine sehr unreine Vorform, die allerdings ihre innere Notwendigkeit hatte im Entwicklungsgang zum Materialismus hin, damit die Menschen da ankommen, wo Christus angekommen ist: Nämlich in der Materie, um sie dann zu transsubstanziieren.“
Was lässt sich dazu an dem Motiv des Kreuzes, das Beuys‘ gesamtes Werk durchzieht, ablesen und vor allem erleben? Friedhelm Mennekes, katholischer Priester, Ausstellungsmacher und Interviewpartner vieler Künstler, bringt es auf den Punkt, indem er im Blick auf Beuys‘ Umgang mit diesem Motiv schreibt: Das Kreuz ist [ihm] zur Kultur geworden.
„… die Sache von den Kräften her bestimmen“
Wenn Beuys einmal in Bezug auf das Christentum sagte (1970): „Ich versuche ja bis heute, … die Sache von den Kräften her zu bestimmen und nicht von irgendeinem aus der Geschichte gegebenen Inhalt“, so findet dies nicht zuletzt in der Gestaltung des Kreuzes, die sich im Laufe seines Schaffens vielfach verwandelt und entwickelt hat, seinen Ausdruck.
Dabei begann er durchaus von der Tradition her, d.h. auch auf abbildliche, ikonografische Weise, sich an dieses Motiv heranzutasten.
den Aspekte der Auferstehung erlebbar machen
Ende der 40er-Jahre entstehen Arbeiten wie „Sonnenkreuz“ (1947/48), ein Vortragekreuz (1949), eine Pietà (um 1951), auch Grabmäler. Immerzu ist er auf der Suche, wie sich in der Ausgestaltung des Kruzifixus‘ nicht nur der Todesaspekt, sondern vor allem der Gesichtspunkt der Auferstehung erlebbar machen lässt. Besonders deutlich wird dies am „Sonnenkreuz“, einer gut 36 cm großen Bronzefigur, die den leidenden Christus zeigt: den Körper schmerzhaft gebogen, die Beine angezogen, die Arme wie empor gerissen, ohne Kreuzesbalken, gleichsam freischwebend. Das Bemerkenswerte aber ist dabei vor allem, dass das Haupt keine Dornenkrone, sondern eine Weinrebe trägt, so, als solle daran der Sinn, oder besser die Frucht des Leidens zur Erscheinung gebracht werden („Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“). Über dem geneigten Haupt ist eine sich drehende Sonne dargestellt, die durch ihre tangential von der Sonnenscheibe in den Umkreis führenden stabförmigen Strahlen wie in Bewegung gebracht wird und der gesamten Gestalt eine Auftriebskraft verleihen.
Wenn Beuys sagt, dass „Christus [derjenige ist], in dem Leben, Tod, Todüberwindung und das Neue Leben als tragendes Weltprogramm persönlich-ablesbar manifest geworden ist …“ und sich der „Mensch als Göttlicher und Gott als Mensch in der tiefsten Krise des Existierens [begegnen], wird dies von seinen frühen Arbeiten an unmittelbares Erlebnis.
die Vereinigung von Tod und Auferstehung
Der Aspekt der Kräftewirkung, aber auch wiederum die Vereinigung von Tod und Auferstehung wird an einer Arbeit wie dem Grabmal für Fritz Niehaus (1951) eindrucksvoll anschaulich: aus einer halbkreisförmigen Sandsteinfläche ist ein einfaches Kreuz, deren in ihrem Ausgangspunkt leicht versetzte Balken sich in die Peripherie wie in den Kosmos weisend erheben, herausgearbeitet. Oder erscheint in dem Halbkreis die Sonne, unter- bzw. aufgehend, wie ein Lichtbrunnen, das Kreuz selbst wie eine Lebensrune?
Mit 33 Jahren geriet Joseph Beuys in eine tiefe Lebenskrise, über die er später sagte: „Ich wollte von der Erde verschwinden …Es war ein wirkliches Sterben“ und „In der Krise wirkten zweifellos Kriegserlebnisse nach, aber auch aktuelle, denn im Grunde musste etwas absterben. Diese Phase war für mich eine der wesentlichsten, da ich mich auch konstitutionell völlig umorganisiert habe. Der Initialvorgang war ein allgemeiner Erschöpfungszustand, der sich allerdings in einen regelrechten Erneuerungszustand umkehrte.“ Er hatte den deutlichen Eindruck, dass das, was er während dieser Lebenskrise erlebte, nicht nur mit seinem individuellen Schicksal zusammenhing, sondern die allgemeine Gegenwart kennzeichnete. Er spürte, dass so, wie in seinem Leben auf ein Todeserlebnis Erneuerung und Auferstehung folgen konnte, dies auch innerhalb der Menschheit möglich sein würde: „ … denn die alte Evolution ist bis heute abgeschlossen. Das ist der Grund der Krise. Alles, was sich an Neuem vollzieht, muss sich durch den Menschen vollziehen…“.
Wenige Jahre später, 1958, erhielt Beuys einen Auftrag für die Gestaltung eines Ehrenmals für die Gefallenen der beiden Weltkriege. In Büderich, auf der linken Rheinseite Düsseldorf gegenüberliegend, steht der Rest einer mittelalterlichen Kirche, ein eckiger, in gelblichem Tuff- und Sandstein gemauerter massiver, sich über vier Stockwerke erhebender Kirchturm. Die hierfür geschaffene Arbeit sollte sein größtes – im engeren Sinne plastisches – Werk im öffentlichen Raum werden.
Wie „Vorarbeiten“ schuf er zuvor zwei aufeinander bezogene, knapp 1 m hohe Kreuzformen: „Symbol des Opfers“ und „Symbol der Erlösung“. Beides sind sehr stilisierte Korpusse, die jeweils durch die ausgebreiteten Arme ein Kreuz bilden. Erscheint im ersten die Dornenkrone eines Kruzifixus‘ wie bewegt, wird im zweiten die gesamte Figur von einer aufwärtsschwebenden Bewegung ergriffen und erinnert bis in die Andeutung von Gewänderfalten an die Auferstehungstafel des Isenheimer Altars. Das Büdericher Mahnmal für die Weltkriegstoten wurde in der Zeit der Krise und Genesung konzipiert. Es vereinigt nun beide Elemente, Tod und Auferstehung. Hinter zwei zusammen beinahe 1 Tonne schweren eichenen Torflügeln, die mit eisernen Beschlägen versehen sind – geweihartig im Motiv „Sender-Empfänger“ die Verbindung zum Geistigen zum Ausdruck bringend – hängt frei vor der Wand eine 3 Meter hohe Gestalt aus Eichenholz. Gehalten wird sie im Brust-Herz-Bereich durch einen runden eisernen Brustschild, durch den der Korpus über ein an dem von einem Nimbus umgebenen Kopf vorbeiführenden Eisenband mit der Aufhängung verbunden ist. Diese scheint sich wie im Licht des nach oben geöffneten Turmraumes zu verlieren. Trotz des enormen Gewichts wirkt diese Gestalt schwebend. Beuys hat das Kreuz zu einem Zeichen des Lebens transformiert.
„Provokation heißt hervorrufen …“
Die Art und Weise, wie uns hier das Motiv von Kreuz und Auferstehung entgegentritt, hat etwas von einer „vollendeten Schönheit“. Doch Beuys erhielt zunehmend den Eindruck, „dass über den abbildlichen Weg mit der Christusfigur das Christliche selbst nicht zu erreichen ist“. So verwandelt sich dieses Motiv im Folgenden immer mehr in etwas Andeutendes, „Anfängliches“.
Stellvertretend dafür sei die Arbeit „Drei Jurakreuze“ von 1961 genannt. Vielleicht erscheint sie auf den ersten Blick durch den „Abfallcharakter“ der Materialien – Konservendosen – provozierend, dann aber in einem ganz wörtlichen Sinn von „hervorrufen“: „Provokation heißt hervorrufen. Wenn etwas hervorgerufen wird, ist das an sich schon ein Auferstehungsprozess …“ (Beuys).
Auf sieben mit Kalkresten bedeckten waagerechten rohen Brettern wurden in unterschiedlicher Weise aufgeschnittene Weißblechdosen genagelt: es entstehen drei an aufgerichtete Kreuze erinnernde Formen. In ihrer Unterschiedlichkeit werden die Beziehungen der drei auf Golgatha Gekreuzigten deutlich. Lässt sich etwas einfacher und zugleich exakter darstellen? Dem Betrachter stellen sich Fragen: welche „Haltung“ nehme ich selbst ein? Und denkt man an den Ursprung der Dosen: will das Zentralereignis des Christentums, „Lebensmittel“ werden?
… dass er Christus von seinem Wesen und seiner Wirkung her als den „Bewegenden“ erfasst
Wenn Beuys dann mehr und mehr durch seine „Aktionen“ das Bewegungselement zu etwas Bestimmendem seiner Kunst werden lässt, mag ein wesentlicher Impuls dazu darin liegen, dass er Christus von seinem Wesen und seiner Wirkung her als den „Bewegenden“ erfasst.
„Der Mensch muss diesen Vorgang der Kreuzigung, der vollen Inkarnation in die Stoffeswelt durch den Materialismus hindurch, selbst erleiden. Er muss sterben, er muss völlig verlassen sein von Gott, wie Christus damals vom Vater in diesem Mysterium verlassen war. Erst wenn nichts mehr ist, entdeckt der Mensch in der Ich-Erkenntnis die christliche Substanz und nimmt sie real wahr. Die Form, wie diese Verkörperung Christi sich in unserer Zeit vollzieht, ist das Bewegungselement schlechthin. Der sich Bewegende … Es ist also das Auferstehungsprinzip: die alte Gestalt, die stirbt oder erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde, seelenfördernde Gestalt umzugestalten.“.
Alles wird in Bewegung übergeführt, auch das Kreuzeszeichen. Es erscheint oft als halbes Kreuz, das noch vervollständigt werden muss. So in der Aktion „Eurasia“, wo der seherisch begabte „Ostmensch“ und der vernunftorientierte „Westmensch“ erst „zusammengefügt“ werden müssen (wie hochaktuell!), um ein Ganzes, ein ganzer Mensch zu werden.
Das Kreuz wird zum Universalzeichen, zum „Zeichen für den Menschen“, zu einem Aktivierungszeichen, zum lebendigen Impuls, Herzschlag, schließlich zur Quelle menschlicher Kreativität (Mennekes). Das Kreuz – ein Zeichen der Auferstehung.
Das Auferstehungsmotiv und die Aktion „7000 Eichen“
Das Auferstehungsmotiv klingt wohl in eindrucksvollster Weise in seiner letzten großen Aktion „7000 Eichen“ an. Das Tote, Erstarrte – die neben jedem Baum gesetzte Basaltstele, der Baum – das Lebendige, Wachsende. Beuys:
„Heute wird der Wald von selbst zu dem, wozu das Holz des Kreuzes benutzt wurde … die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten … [um sie] aufzurichten“.
Was also bleibt von Beuys und seinem Werk? Das liegt an jedem einzelnen von uns!
Eine seiner letzten Installationen „Palazzo Regale“ wirkt wie eine Grabstätte. In ihr stehen zwei Vitrinen. In der einen inmitten verschiedener Gegenstände aus wichtigen Aktionen ein Luchsmantel, in der anderen mancherlei, was an „Wegzehrung“ erinnern mag, vor allem Fett und Objekte, die an Antennen denken lassen. Der Betrachter kann den Eindruck haben: hier hat jemand seine äußere Hülle abgelegt, er kann sich aufgefordert fühlen, gleichsam „hineinschlüpfen“.
In der Dankesrede zur Verleihung des Lehmbruck-Preises zwei Wochen vor seinem Tod zitiert Beuys ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert:
Schütze die Flamme.
Denn schützt man die Flamme nicht,
ach eh’ man’s erachtet,
löscht leicht der Wind
das Licht,
das er entfachte.
Es gilt, die Flamme zu schützen, die Flamme der Begeisterung. Beuys‘ Werk vermag auch heute noch zu begeistern.
Jörg Kirschmann