Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Der innere Mensch lernt immer mit
Von zehrenden und aufbauenden Kräften in der Erziehung
Zusammenfassung eines Vortrages von Claus-Peter Röh, Waldorflehrer
Auf den ersten Blick zeigen sich heutige Kinder selbstbewusst, fordernd und sinneswach. Lassen wir uns als Erzieher auf eine Begegnung und einen zweiten Blick ein, so zeigen sich mitten im Alltag überraschende innere Seiten der Kindesindividualität. Wie lernen wir, das Innere der jungen Menschen wahrzunehmen?
Claus Peter Röh, langjähriger Waldorflehrer, hielt im Mai dieses Jahres dazu einen Vortrag in der Rudolf Steiner Schule Bergedorf.
Veranstalter dieses Vortrages waren: Forum Leben e.V., Novalis-Zweig und Rudolf Steiner Schule Bergedorf
Claus-Peter Röh ist seit 26 Jahren Klassen- und Musiklehrer in der Freien Waldorfschule Flensburg; er ist als Gastdozent an Lehrerseminaren und im Initiativkreis der Pädagogischen Sektion in Deutschland tätig.
In diesem Vortrag möchte ich eine Polarität beschreiben, zwischen dem, was innerlich im Kind immer anwesend ist, wenn wir ihm in der Erziehung begegnen und dem, was ein Kind äußerlich ausbildet in den verschiedenen Entwicklungsphasen. Das steht in einem Zusammenhang.
Ich möchte beginnen mit einem Satz von Schiller aus den ästhetischen Briefen: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. „
Dieses Rätsel der menschlichen Individualität wollen wir in drei verschiedenen Stufen an den Kindern beobachten und dabei fragen, wie wir als Lehrer und Eltern dem gegenüber stehen, sei es helfend, fragend oder Neues sehend.
Vor 21 Jahren wurde unser Sohn geboren. Es war ein freudiges Erwarten und dann eine dramatische Geburt. Ich persönlich durfte ihn gleich nach der Geburt waschen, und da machte dieser kleine Bursche einen Moment die Augen auf und blitzte mich ganz kurz so an, dass ich mir angesichts dieses Blickes ganz klein vorkam. Äußerlich war er klein und hilflos, aber innerlich riesengroß, als habe er in diesem Blick den ganzen Sternenhimmel anwesend. Einmal war dieser Blick da. Dann hat er die Augen geschlossen und war danach ein normales Kleinkind. Aber ganz am Anfang stand diese Begegnung.
„Wir beide – und ich!“
Nach der Geburt beginnt diese lange Zeit des Aufwachsens. Und schon drei Jahre später kann folgendes passieren: Eine dreijährige Dame stolziert im Herbst mit dem Vater, beide haben Blätter gesammelt und schieben eine Schubkarre. Als Erwachsener meint man ja, man muss immer alles reflektieren, und dem Vater rutschte der Satz raus: „Ach ist es schön, dass wir beide heute Blätter fahren.“ Für das Mädchen war das Schöne das Tun und nicht das darüber Philosophieren; so sie blieb abrupt stehen und sagte: „Wir beide – und ich!“
In den drei Jahren ist dieses anfänglich noch ganz mit dem Kosmos verbundene Kind auf die Erde gekommen und sagt entschieden „Ich“. Hier beginnen sich diese zwei Ströme nun zu trennen: Der zweite, neue Strom der äußerlichen Entwicklung entfaltet sich mit diesem ersten Ich-Bewusstsein in der freudigen Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt. Der erste, ursprüngliche Strom der reichen Innerlichkeit wandert stiller weiter, er bleibt deutlich anwesend und kann in der großen Hingabefähigkeit, Lernfähigkeit und in der kindlich unschuldigen Art, weisheitsvolle Fragen zu stellen, erlebt werden. Nach und nach muss dieser erste Strom losgelassen und im Alltäglichen vergessen werden, sonst würden wir ja keine freien Menschen werden. (siehe Zeichnung S. 8)
„Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es im Himmel aussieht.“
So ganz ohne Nachwehen geht das nicht; ein Viereinhalbjähriger sagt dann beispielsweise: „Mama, ich möchte wieder ein Baby sein, da kann man alles“. Oder eines Abends in einer stillen Stunde kommt dann die Bemerkung: „Also ehrlich, – ich möchte doch sterben. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es im Himmel aussieht.“ Da ist wieder diese Sehnsucht nach der Geburtszeit zurück.
es entstehen zwei Ströme
Später geht es mit großem Schwung in die Schulzeit. Da entstehen zwei Ströme: Zum einen will sich das Kind freudig und kraftvoll mit der Erde verbinden und alles lernen. Gleichzeitig wird der erste Strom als „Goldgrund“ des Kindseins innerlich noch stark erlebt und so werden die Märchenerzählungen im 1. Schuljahr mit tiefster Hingabe verfolgt.
Bei aller Freude und Mühe des Erlernens der ersten Buchstaben und Zahlen sind jene innerlichen Kräfte des jungen Menschen stets anwesend und so kann in einer ersten Klasse beispielsweise Folgendes passieren: Eine sehr temperamentvolle, bewegungsfreudige Schülerin, bereitet den Erwachsenen Sorge, weil sie so schnell spricht, dass keiner mehr hinterherkommt und sie versteht. Durch Erlebnisse in der frühen Kindheit scheint sie einen solchen Druck in sich zu haben, dass die Gedanken regelrecht aus ihr herausschießen. Wir Erwachsenen wollten ihr gerne helfen, kamen aber dabei an unsere Grenzen. Ich bewegte innerlich einige Wochen lang die Frage, was ich für sie tun könnte. Da kam ein Basartag, auf dem ich Märchen erzählte. Ich richtete den Raum her für die vielen Zuhörer und bemerkte, dass dieses Mädchen plötzlich ganz still hinter mir stand. „Darf ich mit rein?“ „Natürlich darfst du das.“ Sie ging mit in den Raum, ich stellte die Glocke bereit, machte das Schild fertig, und plötzlich fing sie in ihrer schnellen Sprache an, über ihr Leben zu erzählen. Es hat sich in ihr etwas geöffnet, was im Schulalltag zusammen mit den anderen Kindern nicht möglich war: „Wenn ich mal groß bin, will ich zwei Berufe haben. Einen, mit dem ich ganz viel Geld verdiene, damit ich viel Gutes in der Welt machen kann; und zweitens will ich versuchen so viel zu lernen, dass ich ganz viele Kinder der Welt bei mir aufnehmen kann.“ Es kommen Ideale an die Oberfläche, die ich vorher nie von ihr gehört hatte, und ich sehe das, was sonst verborgen ist. Dann kommen die anderen Zuhörer und ich beginne mit der Erzählung des orientalischen Märchens. Das Mädchen hat sich direkt vor mich hingesetzt und auf einmal bemerke ich, dass sie das ganze Märchen nach einem halben Sekundentakt unmittelbar staunend mitspricht, ruhig und deutlich. Ich dachte: „Wenn du das kannst, dass du so wach bist und das mitsprichst, dann kannst du auch bald ruhiger sprechen. Da wird sich bald etwas bewegen!“ Mir wurde klar, dass sie selbst ihr schnelles Sprechen ändern wollte, auch wenn ihr das sonst nicht sofort gelang. In der Klasse hat sie es dann auch nach einigen Wochen dieses unmittelbaren Mitsprechens geschafft, dass ihre Sprache sich deutlich verwandelte.
im Erkennen der Selbstheilungskräfte entstand ein Vertrauen
Nun kann man fragen, wo jene Veränderung ihren Ursprung hatte. Bei allem Bemühen der Erzieher kam der entscheidende Impuls zur Verwandlung doch eindeutig aus der Innerlichkeit dieses Kindes. Unser Verhältnis zu einander hatte sich durch dieses Erlebnis geändert. Im Erkennen jener Selbstheilungskräfte entstand ein Vertrauen in die Wandlungsfähigkeit dieses jungen Menschen, das half, die äußeren Herausforderungen und Hindernisse des Alltags zu überwinden.
Die folgende Begegnung mit der Innerlichkeit eines Kindes geschah in der zweiten Klasse: Ein Mädchen hatte eine wunderschöne Puppe mit, die sie zum Geburtstag bekommen hatte. Alle spielten auf dem Schulhof, und irgendwann gab es ein riesiges Geschrei, weil diese schöne Puppe fürchterlich zerzaust, zerrissen und unter einen Deckel geschoben war. Sogleich wurde ein Schüler von allen angeklagt, dass er das gemacht hätte und am Ende verfolgten sie diesen armen Burschen über das ganze Schulgelände, um ihn zu bestrafen. In rettender letzter Sekunde stellte sich jedoch heraus, dass nicht er, sondern ein anderer Junge die Tat begangen hatte. Jener aber stritt alles ab und hatte sogar den Unschuldigen noch mit verfolgt! Da alle äußere, direkte Ansprache wie abprallte an ihm, blieb die Methode der „moralischen Geschichte“. Das ist eine selbst erfundene Geschichte, die, auch wenn sie für alle ist, sich an diesen einen Menschen wendet. Ich erzählte also am nächsten Tag solch eine Geschichte, bei der auch etwas entzwei ging, dann ein anderer die Schuld dafür bekam. Es wurde in der Klasse immer stiller, keiner sagte etwas, und dann kam die Stelle, wo jener angeklagt wurde und vor der ganzen Meute fliehen musste: Er rennt in den Wald zu einer Hütte, reißt die Tür auf und schließt sie hinter sich. In dem Moment, als der Mob die Türe aufreißt und die ungerechte Strafe verüben will, erfolgte ein lauter Ruf durch die Stille der Klasse: „Aber der war es doch gar nicht!“ Tatsächlich hatte jener Junge gerufen, welcher am Vortag alles geleugnet hatte! In dem Augenblick wusste ich, dass in diesem jungen Menschen noch eine andere Kraft verborgen war, welche nur schwer an die Oberfläche kommen konnte. Das hat mir sehr geholfen. Es endete so, dass wir beide es, trotz aller Schwierigkeiten, bis zur achten Klasse miteinander schafften.
Es meldete sich dieses Innere – ob man das nun Gewissen oder Höheres Ich nennen will – , das nicht täglich im Äußeren zum Tragen kommt, aber doch stets anwesend ist. Wenn man das als Erzieher kennen lernt, gewinnt man ein anderes, ein tieferes Verhältnis zu diesem jungen Menschen.
sie stehen nun den Erscheinungen der Welt bewusster gegenüber
Waren die Kinder in der ersten und zweiten Klasse noch im Goldgrund des ersten Stromes und der Hingabefähigkeit geborgen, so erleben sie in der 3. Klasse, bzw. im 10. Lebensjahr einen weiteren starken Ich- Einschlag. Sie stehen nun den Erscheinungen der Welt bewusster gegenüber und stellen beispielsweise fest, dass der Lehrer immer einen Fleck an der Tasche hat: „Du hast einen Tintenfleck an deiner Tasche! Dein Kragen da oben ist nicht ganz richtig!“ Sie sehen alles realer. Aber sie sind mit dem Verlust des Geborgenseins auch viel einsamer als früher. Dieses Alter nennt man „Rubikon“. Beim Mittagessen kommen dann Fragen wie: „Seid ihr meine wirklichen Eltern?“, oder abends fragt das Kind die Mutter: „Wenn Ihr einen Unfall habt, Papa und du, was wird dann aus mir werden?“ Plötzlich denken sie an den Tod.
Zu der Entwicklung in der 5. Klasse folgendes Beispiel. Im Grammatikunterricht wurden Aktiv und Passiv behandelt. Ein neuer Schüler war in der Klasse, der sehr viel sprach. Es war zunächst nicht leicht für ihn, in die Gemeinschaft zu finden, so sprach er nur noch mehr. In der Grammatik wurde nun Passiv und Aktiv eingeführt mit der Geschichte des Hermes. Dieser freche Götterbote, kaum ist er geboren, steigt aus der Wiege und klaut seinem Bruder Apoll 50 Rinder. Apoll bekommt das heraus und wird zornig. Und da gibt es einen herrlichen Disput zwischen den beiden. Apoll: „Und ich weiß, du warst es!“ Hermes, wieder in der Wiege liegend, scheinbar von nichts wissend, spricht im Passiv: „Ich werde hier beschuldigt, Bruder Apoll. Ich weiß gar nicht, was das soll. Wird denn nicht gehört die Not, meine Kindheit wird bedroht!“ Ein zürnender, gerechter Apoll, der im Aktiv die Gerechtigkeit einfordert, und im Passiv, in der Wiege liegend, der freche kleine Hermes. Jetzt fragt man in der Klasse, wer den Hermes spielen will – alle Finger gehen sogleich hoch. Und wer will den zürnenden, gerechten Apoll spielen? – Keiner meldete sich. Es entstand eine lange Stille. Plötzlich meldete sich dieser neue Schüler: „Ich könnte das wohl machen.“ Man stelle sich ihn vor, mit seinen vielen Worten und seiner anfänglichen Unsicherheit, – und jetzt soll er streng Schuld zusprechen und Strafe einfordern! Ich dachte, dass das nie gut gehen würde. Nach der Stunde bin ich zu ihm und fragte, ob er es denn wirklich wollte? „Ja, ich will!“ Dann wurde gearbeitet, es gab viele Proben bis zur Monatsfeier. Und er wurde immer sicherer. Ich habe ihn durch das Theater und das Künstlerische völlig anders kennen gelernt. Bei der Aufführung bekam er einen rauschenden Applaus. Er war über sich hinausgewachsen und hatte den Alltagsmenschen überwunden!
eine künstlerische Tätigkeit kann helfen, die „Korrespondenz“ zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen in Bewegung zu versetzen
Offenbar kann eine engagierte künstlerische Tätigkeit helfen, die „Korrespondenz“ zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen in Bewegung zu versetzen. Unsere Aufgabe als Erzieher wäre dann, im künstlerischen Tun neue Ansätze und Fähigkeiten bei den jungen Menschen wahrzunehmen.
Wenden wir den Blick auch einmal zu den älteren Schülern, so sehen wir zum Beispiel die 12.-Klässler einerseits schon sehr fest im äußeren Leben stehend: Ihr Abschlussjahr und große Entscheidungen der Berufs- und Studienwahl stehen bald vor ihnen. Im Unterricht haben sie ein großes Bedürfnis nach gedanklich klaren Auseinandersetzungen und Begriffsklärungen. Andererseits zeigen sie in Gesprächen immer wieder den Wunsch und die Fähigkeit, der Frage nach dem Wesen und nach dem Sinn des Menschseins bewusst nachzugehen. Gerade bei der Auswahl und Ausführung ihrer Jahresarbeiten wählen sie dann künstlerische Themen, um diese Fragen durch Musik, Eurythmie, Malerei oder Dichtung zum Ausdruck zu bringen. So hat eine 12.-Klässlerin sich mit dem Thema „Biographie und Lyrik“ beschäftigt und folgendes Gedicht selbst verfasst:
„Wir sind nicht frei geboren.
Wir gehen vorgegebene Wege, unser Leben ist eingesperrt.
Wir haben uns gefesselt in der Dunkelheit.
Eine Tür steht weit offen. – Licht flutet herein.“
auf welche Weise kann man die Fähigkeit der Wahrnehmung erüben
Wir haben nun auf verschiedenen Entwicklungsstufen Begegnungen mit dem Inneren des jungen Menschen betrachtet und es schließt sich die Frage an, auf welche Weise man die Fähigkeit der Wahrnehmung in solchen Begegnungssituationen erüben kann.
Da möchte ich drei Ebenen nennen:
ein Abglanz der Imagination
1. – Wenn ich beginne, neue Fragen an ein Kind zu stellen, das mir Rätsel aufgibt, ist dieser erste Schritt ein Abglanz der Imagination: Das Bild, das ich habe – jeder Mensch hat von dem anderen ein Bild – beginne ich zu verändern. Diese erste Stufe ist im Schulalltag oft dort zu erleben, wo Schüler oder Schülerinnen in der Gemeinschaft so markant auftreten, dass sich den Mitschülern und den Lehrern ein vordergründiges Bild von ihnen geradezu aufdrängt. Durch das markante Verhalten kann sich unter Umständen dieses Bild so festsetzen, dass sich schon ein gewohnheitsmäßiges Urteil eingenistet hat. Und dann zeigt dieser junge Mensch bei einer bestimmten Gelegenheit plötzlich eine ganz andere Seite von sich, im Orchester, beim Faschingsfest oder bei einer Monatsfeier. Bemerke ich als Erzieher diese andere Seite, so verändere ich das Bild des Schülers, das ich in mir trage, es kommt in Bewegung.
wie ein Hörraum, in dem eine Qualität von Inspiration drinnen steckt
Die 2. Stufe: Durch eine bestimmte Situation im Unterricht oder Zuhause, die im Moment passiert, erlebt man plötzlich einen Begegnungs-Raum, in dem sich nicht nur das innere Bild bewegt, sondern in dem sich das Wesen des anderen für einen Augenblick ausspricht oder zeigt. Äußerlich mag solch ein Raum des Neu-Hörens nur ganz kurz erscheinen, innerlich kann er Welten zwischen Menschen bewegen.
Als Beispiel eine Begegnung am Ende des Unterrichts: Die Pausenklingel läutet, fast alle Viertklässler sind noch im Klassenraum und auf einmal raucht etwas auf dem Schulhof – es ist kurz nach Neujahr und es war wohl ein Knaller. Plötzlich kam ein Junge herein und rief ganz laut: „Da draußen sind große Jungens, die haben einen Knaller gezündet. Das finde ich unmöglich, dass die das tun!“ Es war aber gar niemand außer ihm auf dem Schulhof gewesen. Mir war aus Erfahrung klar, dass eine direkte Konfrontation mit ihm nichts nützte. Er setzte sich auf eine Tischkante, ich setzte mich neben ihn, und wir schauten sozusagen nach vorne in die gleiche Richtung der Zukunft. „Du, kannst du dir vorstellen, dass noch gar keiner auf dem Hof war?“ Nach einem schmunzelndem Zögern: „Joo ….“, blitzte auf einmal etwas auf und die sonstige Härte und Freude am Widerstand löste sich auf. Dann er gab zu, dass er es war.
So ein Erlebnis hat nicht nur ein Bild verändert, sondern das innere Wesen des Jungen konnte sich für einen kleinen Augenblick zeigen. Es war wie ein Hörraum, in dem eine Qualität von Inspiration drinnen steckt.
ein unmittelbar wirkender Wille zur Veränderung lebt auf
3.- Wenn ich jetzt die Stufe der Intuition innerhalb einer Begegnung beschreibe, muss ich zugeben, dass es noch schärfere, schwierigere Situationen gibt: Ich habe vielleicht einen jungen Menschen zu Unrecht gestraft oder zurechtgewiesen. Und ich habe dann das Gefühl: „Das muss ich morgen sofort wieder in Ordnung bringen.“ Es ist hier nicht nur so, dass sich das innere Bild ändert oder man den jungen Menschen erkennt, sondern es regt sich etwas bis in den tiefsten Willen, wenn man zum Beispiel etwas wieder gut machen will. Das entsteht oft durch Krisen, bzw. Fehler, die man macht.
Bei einem Jungen war es so, dass ich ihn wegen seines Verhaltens korrigiert hatte, und das auch noch sehr vehement und vor den anderen Schülern. Im Nachhinein merkte ich, dass das nicht gerecht und nicht im Lot war. Die Situation ging mir sehr nach und vor allem ließ mir keine Ruhe, dass mir mit dem Erkennen meines Unrechts umso stärker die wirklichen Fähigkeiten und Qualitäten dieses Schülers bewusst wurden. Ich wusste, dass ich das am nächsten Tag sofort wieder in Ordnung bringen müsste. Diese Gedanken nimmt man dann mit in die Nacht, und sofort am Morgen sind sie wieder da.
wir beide haben uns sozusagen bis in den innersten Willen hinein erkannt
Ich komme dann in die Klasse, auch er kommt ganz ruhig herein, und ich gehe auf ihn zu: „Gestern war ich nicht ganz gerecht bei dem einen Moment im Malen, das tut mir leid.“ Er sagte: “Ich hätte das aber auch nicht tun sollen.“ Da wurde deutlich, dass das Erleben des Unrechts bei uns beiden eine große innerliche Betroffenheit ausgelöst hatte, die bis in den starken Willen zur Veränderung wirkte. Auf dieser 3. Stufe hatte ich mich, wenn auch zunächst sehr schmerzlich, mit dem Wesen des Schülers und seinen eigentlichen Fähigkeiten so tief verbunden, dass wir beide uns sozusagen bis in den innersten Willen hinein erkannt haben. Noch über längere Zeit wirkte die Verbundenheit dieser Begegnung in uns nach.
Zusammenfassend ergeben sich folgende Qualitäten einer Begegnung auf diesen drei Stufen:
1- Als Abglanz der Imagination beginne ich das Bild des anderen Menschen aus innerer Aktivität zu bewegen und zu verwandeln.
2- Als eine Qualität von Inspiration entsteht im Augenblick der Begegnung ein Raum des Hörens und Wahrnehmens, in welchem sich der andere Mensch in dieser Situation neu ausspricht.
3- Auf dritter Stufe bildet sich aus der Begegnung heraus als Qualität der Intuition eine so große, oft wechselseitige Betroffenheit und Nähe im Innersten des Menschen, dass ein unmittelbar wirkender Wille zur Veränderung auflebt.
es muss sich in mir selbst auch etwas bewegen
Wie kann ich das üben – als Erzieher, Vater, Mutter? Als erstes muss mir klar sein, dass ich selbst mit im Boot sitze, also nicht nur vom Kind verlangen kann „Du musst dich ändern.“ Es muss sich in mir selbst auch etwas bewegen. Dann muss ich lernen, die Situation der Begegnung so zu nehmen, dass ich in ihr „höre“ oder „lese“. Einerseits muss ich reagieren als betroffener Mensch, andererseits muss ich darüber stehen und fragen, wo das Ganze eigentlich hin will.
„Das Kind ist vielfach heute schon etwas ganz anderes, als es äußerlich zum Ausdruck bringt.“
Neben dem äußeren Menschen ist immer auch dort, wo sich Entwicklung vollzieht, der innere Mensch anwesend. Dazu sagt Rudolf Steiner einen wunderschönen Satz: „Das Kind ist vielfach heute schon etwas ganz anderes, als es äußerlich zum Ausdruck bringt. Man hat sogar schon extreme Fälle: Kinder können äußerlich aussehen wie die ungezogensten Rangen, und in ihnen kann ein so guter Kern stecken, dass sie wertvollste Menschen später werden. Gerade auf pädagogisch-erzieherischem Gebiete muss zuerst der Grundsatz Platz greifen, dass der Mensch heute innerlich etwas wesentlich anderes ist, als er äußerlich zum Ausdruck bringt.“ (GA 177/ 8.10.1917)
wenn man diese innere, unsichtbare Ebene beim Kind kennt und berührt, hat das bis in die Gesundheit hinein eine aufbauende Wirkung
Wenn man diese innere, unsichtbare Ebene beim Kind kennt und berührt, hat das bis in die Gesundheit hinein eine aufbauende Wirkung. Das ist etwas Rätselhaftes und es hat mit der Kunst zu tun. Wenn wir rein kognitiv angesprochen werden, sind wir ein anderer Mensch, als wenn uns künstlerisch etwas ergreift. Es gibt dazu einen Vortrag von Rudolf Steiner „Der unsichtbare Mensch in uns. Das der Therapie zugrunde liegende Pathologische“ (GA 221).
Das ist der sichtbare Mensch, links, mit dem Ich, den Empfindungskräften, bzw. dem Astralleib, mit den Lebenskräften (Ätherleib) und schließlich mit dem physischen Leib. (Zeichnung S. 12)
wenn der Lehrer zu viel redet …
Dieser äußere Mensch hat oft die Tendenz, ganz scharf zuzugreifen und sich die Dinge schnell zu eigen zu machen. Die Erwachsenen oder Kinder hören etwas und schon haken sie ein und wollen alles wissen, sind ganz direkt. Wenn man das so direkt macht, hat das eine bestimmte Wirkung. Man stelle sich vor, ein Freund hat eine lange Reise gemacht und bringt 687 Dias mit. Die zeigt er nun seinen Freunden. Die ersten 22 Dias sind ganz spannend, man ist noch ganz wach dabei. Nach weiteren 47 Bildern merkt man dann, dass man dem irgendwie passiv ausgeliefert ist, sich vielleicht bewegen möchte. Nach 63 Dias kann man eine innere Festigkeit bemerken. Und das steigert sich immer mehr, je mehr Bilder man gezeigt bekommt.
So geht es auch den Kindern, wenn der Lehrer zu viel redet, zu viel Kognitives vermittelt. Dann werden sie unruhig. Wenn das Ich zu direkt zugreift, zu viele Fakten bekommt, macht das nicht frisch, sondern es wirkt zehrend. Das führt zu immer mehr Verfestigung. Wenn die Schüler beispielsweise bei einer schriftlichen Prüfung 5 Stunden lang schreiben, kommen sie hinterher ganz blass aus dem Raum. Das ist ein Abbau von Lebenskräften. Es braucht dann einen Gegenpol, z. B. an die frische Luft gehen, sich bewegen.
Staunen zeigt ein viel unmittelbareres Verhältnis zu der Sache, es ergreift sofort den ganzen Menschen
Der innere Mensch ist bei allem mit dabei, lernt immer mit, nimmt aber die Fakten nicht auf eine direkte Weise auf. Wenn ich beispielsweise in einer unteren Klasse den Unterricht mit Singen und Bewegung beginne, können die Kinder danach in Ruhe etwas aufnehmen. Das Ich in dem unsichtbaren Menschen lernt ganz anders. Es horcht erst mal, es ist in Bewegung. Wenn man beispielsweise einmal eine neue Wohnung gesucht hat, hat man zwei in sich, die diese Wohnung kennen lernen: Auf der einen Seite bedenkt man äußerlichen Fakten, die Kosten, die Lage, Entfernung zum Arbeitsplatz usw.; der innere Mensch nimmt etwas ganz anderes wahr, z. B. die Atmosphäre; er braucht gerne mehr Zeit. Er horcht, sieht, spürt und ist in gewisser Hinsicht klüger als der äußere Mensch. Auch das Staunen gehört zum unsichtbaren Menschen. Rudolf Steiner sagt dazu: „Es ist gut für die Menschen, dass sie, bevor sie ihre Intelligenz auf eine Sache anwenden, erst ihren Astralleib über die Sache ausbreiten. Dadurch wird eine Art Gefühls- und Gemütsbasis geschaffen und in diese wird dann das Verständnis eingetaucht. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir gleich mit dem Verstande abstrakt an die Sache herangehen. Das bewirkt, das wir auf einer viel breiteren Basis des Verständnisses arbeiten.“ (GA 127/ 7.1.1911) Das Staunen zeigt ein viel unmittelbareres Verhältnis zu der Sache, es ergreift sofort den ganzen Menschen.
der unsichtbare Mensch in uns will die Aktivität
Besonders schlimm ist das direkte „Einfüllen“ mit Fakten, wenn man dabei auch noch passiv ist. Der unsichtbare Mensch in uns will die Aktivität, das innerliche Engagement. Beispielsweise bei der Gestaltung eines Epochenheftes geht das Kind den Weg durch das Fühlen, also durch den Astralleib, indem es schöne Bilder zu den Texten ausmalt. Durch das Tun wird dann auch eine Verbindung mit dem Ätherleib geschaffen. Das ist quasi ein Strom (siehe Skizze), der von unten kommt und sich wärmend im Menschen verbreitet: „Ich bin hier richtig, ich bin gerne hier und will mitgestalten an der Welt“ – dieses Gefühl von innerer aktiver Beheimatung im Thema entsteht. Wenn man sich an einer Sache erwärmt, ist man in ihr drin und kann andere Gedanken denken, kann reichere Bedeutungen und Verknüpfungen erfassen.
Stellen wir uns einen Oberstufenschüler vor, welcher in einer Band spielte. Er tat das so gerne und engagiert, dass andere Schulthemen nicht so wichtig waren. Die Pädagogen hatten die Frage, ob er wohl in der 12. Klasse auch wieder Interesse an anderen Themen entwickeln würde. Jetzt passierte Folgendes: Im Kunstunterricht waren Expressionismus und Impressionismus das Thema und die Lehrerin zeigte ein Stillleben von Cezanne: „Jeder malt jetzt sein eigenes Stillleben, aber wie ihr es macht, müsst ihr selbst finden. Sucht in euch selbst, wie ihr das ausführt“, so die Lehrerin. Dieser Schlagzeuger malt plötzlich ganz feine Stimmungen und die Lehrerin ist völlig verwundert: „Wie bist du darauf gekommen, das ist ja ganz fein aufgelöst, nicht äußerlich expressionistisch, sondern es hat einen weiten, tiefen Innenraum.“
„Ich habe versucht, meinen Traum zu malen“
Darauf erwidert er: „Um ehrlich zu sein, ich habe versucht, meinen Traum zu malen.“ Sie war begeistert, dass ein junger Mensch gerade in der Begegnung mit der Kunst aus dem Innersten heraus ganz neue Fähigkeiten und Qualitäten zum Ausdruck bringen kann.
So kann man zusammenfassend sagen: Der unsichtbare, innerlich-geistige Mensch lernt immer mit. Und wenn es gelingt, dass der ganze Mensch mit-leben darf, sich im künstlerischen Tun tief mit Themen verbindet und sich dabei verwandelt, nimmt er für seine Biografie entscheidende Impulse auf: Ich gehöre zur Welt, ich stelle mich aktiv in die Welt hinein.
Abschließen möchte ich das Bild des inneren und äußeren Menschen nun mit einem Gedicht des Lyrikers Juan Ramón Jiménez (* 24. Dezember 1881 in Moguer, Andalusien; † 29. Mai 1958 in San Juan, Puerto Rico, war ein spanischer Lyriker und Prosaist. 1956 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Anm. d. Red.)
Ich bin nicht ich
Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.