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Der Rhythmus
die Achillesferse des modernen Menschen I und II
Artikel von Martin Straube, Arzt
Rhythmen im Organismus sind ein Ordnungssystem, sind Grundlage unseres Lebens, sie gliedern Tag und Nacht, Leben und Tod, sie ordnen alle vegetativen Funktionen, versorgen uns mit Kraft, machen uns immer ganz.
Der rhythmische Wechsel von Nähe und Distanz ist grundlegend für alles soziale Handeln. So schafft Rhythmus immer auch das Ganze, denn es verbindet die gegensätzlichen Pole.
Das alles sind wichtige Aspekte, die über Gesundheit und Krankheit entscheiden.
Martin Straube, geb. 1955, anthroposophischer Arzt, tätig in Hamburg (Institut Diogenes). Mitarbeiter der Carus-Akademie; in der Victor-Thylmann-Gesellschaft zuständig für die Patientenakademie. Seit vielen Jahren Referent in der Fort- und Weiterbildung für Ärzte, Apotheker, Heilpraktiker und Kunsttherapeuten. Autor von Büchern und zahlreichen Aufsätzen. Vortragsredner in Hamburg.
Das Bild von Rembrandt „meditierender Philosoph“ (siehe Seite 6) trägt den Titel nicht ganz zu Recht. Denn es ist nur ein Drittel von dem damit beschrieben, was das Bild zeigt.
Von links oben scheint das helle Tageslicht durch das Fenster von außen auf die Stirn des Denkers. Ein schöner Aspekt: Unser Denken sucht „einleuchtende“ Wahrheiten. So sehr wir auch in uns ruhen mögen, unser Denken bildet die Welt ab und versucht sie zu verstehen. Dieses Leuchten, das mit „einleuchten“ gemeint ist, leuchtet von außen nach innen. Es ist eben „ein“leuchtend, sonst würden wir „aus“leuchtend sagen. Und so malt Rembrandt das Licht auch von außen durch das Fenster hereinleuchtend, wo es im Innern des Kopfes zur Ruhe kommt, wie es in dem Bild auch dargestellt ist.
Es gibt aber noch eine zweite Lichtquelle in dem Bild, die aber nicht von außen kommt, sondern in dem Raum selber leuchtet, und sie ist nicht in erster Linie hell, sondern warm: Das Feuer am unteren rechten Bildrand, an dem eine Frau arbeitet, das Feuer schürt, vielleicht, um darauf zu kochen. Das Licht von außen, das das Haupt des Philosophen erleuchtet, ist ein kühles Licht – kühl für den kühlen Kopf, den wir zum Denken brauchen…. Das Feuer nun, das wir unten sehen, wärmt. Die Vorstellung, dass hier eine Mahlzeit bereitet wird, ist schön. Es würde deutlich machen, dass dieses Feuer im Inneren des Raumes, das wärmt und der Zubereitung des Essens dient, das ganze Bild Rembrandts als Allegorie erscheinen lässt: Die Philosophenszene mit den kühlen Tageslicht, das im Bewusstsein des Philosophen verinnerlicht wird, als Bild des Kopfes, in dem unser Nerven-Sinnessystem sein Zentrum hat und in dem alles zur Ruhe kommt und die Feuerszene als Bild unseres Stoffwechselsystems, das uns erwärmt, wo wir die Nahrung verarbeiten, in dem alles in Bewegung ist und das ganz in unseren Inneren zuhause ist, während unser Kopf die Außenwelt abbildet.
Ob Rembrandt das so gesehen hat, ist gleichgültig. Der kreative Prozess gestaltet eben oft Urbilder, die unsere Interpretation erst im Nachhinein entdeckt. Und das Bild Rembrandts ist umso erstaunlicher, als das raumgreifendste Element des Bildes, die Mitte, wunderbar in dieses Bild passt: Die Treppe, die Oben und Unten verbindet, aber eben nicht als gerade Leiter, sondern im Bild der Spirale.
„der erste“ Rhythmus
Die Spirale ist das ikonographische Zeichen des Rhythmus. Wann ist Rhythmus entstanden? Das Alte Testament erzählt in der Schöpfungsgeschichte:
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.
Was hier mit „wüst und wirr“ übersetzt ist, heißt im Urtext Tohuwabohu, was wir auch als Chaos, ungeordnet und strukturlos verstehen. Indem das Licht hinzukam, entstand eine erste Ordnung: Tag und Nacht, Abend und Morgen. Und in der Tat ist dieser Rhythmus der grundlegendste Rhythmus in allen lebendigen Systemen und darf daher zu Recht „der erste“ genannt werden.
Als Michelangelo zwischen 1475 und 1483 die Sixtinische Kapelle ausmalte, gestaltete er an der Decke eine Reihe von Fresken, die die Schöpfungsgeschichte darstellen. (Siehe S. 8) Dem Altar zu beginnt die Reihe mit der Darstellung der Trennung von Licht und Finsternis, wobei Gottvater, als aktiver Schöpfer und damit als Hersteller dieser ersten Ordnung auch spiralig gemalt wird. Das rechte Knie wendet sich ganz nach links, die linke Schulter nach vorne, der rechte Arm nach hinten und der linke nach vorne, auch der Kopf ganz nach links-hinten-oben. Die ganze Gestalt ist spiralig verdreht, der Mantel schwingt dabei gegenläufig: wie eine Doppelhelix erscheint hier der erste Schöpfungsakt, der Schöpfer selber in seiner das Bild füllenden Diagonale bildet die Grenze von Licht und Finsternis. Im Wechsel von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht, von Morgen und Abend, entsteht Rhythmus, ein Ordnungssystem, eine Zeitgestalt, in Form einer Spirale.
Die Bedeutung des rhythmischen Geschehens im Menschen
Für unsere Medizin kann man sagen, dass es Rudolf Steiner war, der als erster die Bedeutung des rhythmischen Geschehens im Menschen herausgearbeitet hat. Rhythmus: dieses fragile Element zwischen Ruhe und Bewegung, das, womit die Schöpfungsgeschichte beginnt: erst war Tohuwabohu, dann kam das Licht hinzu, und es ordnete sich das Chaos, denn mit Tag und Nacht kommt es zum ersten Rhythmus. Rhythmus ordnet.
Wenn wir die Spirale als Bild von Rhythmus ansehen dürfen, so können wir die geschwungene Wendeltreppe in Rembrandts Gemälde als Bild des Rhythmus zwischen ruhendem, aber bewusstem Nerven-Sinnes-System und den unbewussten Prozessen unseres bewegten Stoffwechsels betrachten.
Die Treppe verbindet zwischen oben und unten, und so ist auch das Nervensystem zentriert in unserem kühlen, aber hellen Kopf (oben), der Stoffwechsel in unserem dunklen, warmen Bauch (unten).
Rhythmus schafft so immer auch das Ganze, denn es verbindet die gegensätzlichen Pole.
Rhythmus schafft so immer auch das Ganze, denn es verbindet die gegensätzlichen Pole. Das kennen wir auch aus dem Alltag, z.B. wenn ein Ehepaar sich nicht einigen kann, wohin es im Sommer in Urlaub gehen soll, da er nach Norwegen und sie nach Griechenland will. Dann gibt es drei Möglichkeiten: beide fahren getrennt, dann ist die Beziehung kaputt, oder beide fahren zusammen, werden sich aber nicht einig und fahren also nach Paderborn, weil es genau dazwischen liegt. Dann ist die Beziehung diplomatisch gerettet, aber beide sind gleich unglücklich. Oder aber sie fahren das eine Jahr nach Norwegen, und sie freut sich, durch die Augen eines geliebten Menschen ein neues Land kennenzulernen, und er freut sich, sie an seiner Begeisterung teilhaben zu lassen – und im nächsten Jahr machen sie es umgekehrt. Schon ist eine Win-Win-Situation geschaffen, indem beides stattfinden kann, aber zeitlich auseinandergelegt: Es beginnt ein Rhythmus! Und er macht alles ganz, er erhält die Integrität.
Rhythmus ist auch eine adaptative Kraft. Noch nie stand ein Boxer bei einem Boxkampf starr am Rande des Ringes, um, wenn der Gegner nahe genug ist, einmal aus der Ruhe heraus zuzuschlagen – nein, er tänzelt um den Gegner herum, er übt das Tänzeln ewig mit Seilchenspringen etc., da man aus dem Rhythmus heraus am schnellsten, am effektivsten und am kräftigsten reagieren kann.
Und Rhythmus gibt Kraft: Jeder Wanderer oder Fahrradfahrer kennt es. In unserem Rhythmus wandern oder Radfahren bedeutet, wir kommen weiter und sind weniger erschöpft, als wie wenn wir im Rhythmus eines anderen wandern oder fahren müssten. Z.B. der Wärmerhythmus entsteht zwischen Stoffwechsel und Sinnestätigkeit: Die Wärme ist ein Produkt des Stoffwechsels, aber Zeitgeber und Formkraft des Rhythmus kommt aus dem ersten Licht, das morgens in die Augen scheint. Da ist es wieder, was in dem Bild von Rembrandt so bewegend ist: Der Rhythmus, die Spirale der Treppe, der Weg, das Verbindende ist zwischen dem Licht von außen und der Wärme von innen!
Rhythmen im Organismus ordnen alle vegetativen Funktionen
Rhythmen im Organismus sind ein Ordnungssystem, sind Grundlage unseres Lebens, sie gliedern Tag und Nacht, Leben und Tod, sie ordnen alle vegetativen Funktionen, versorgen uns mit Kraft, machen uns immer ganz. Sie verbinden die zwei Welten: ruhende Sinnes-Nerven-Funktion und bewegten Stoffwechsel durch ihren ewigen Pulsschlag, der immer zwischen Ruhe und Bewegung wechselt.
Dieses System von Rhythmen entsteht langsam. Wenn ein Kind geboren wird, hat es noch keinen Schlaf-Wach-Rhythmus, noch keinen Ruhe-Aktivitätsrhythmus, der Puls und die Atmung sind noch instabil. Zunächst müssen dem Kind die Rhythmen vorgelebt werden, bis es sie langsam adaptiert.
Vorgelebte Rhythmen sind für Kinder wie Nahrung
Vorgelebte Rhythmen sind für Kinder wie Nahrung, denn erst im 9./10. Lebensjahr werden sie so weit angenommen, dass sie sich im Organismus des Kindes ordnen und eine stabile Funktionsreife erlangen. Erst dann sind sie belastbar.
Dies ist ein außerordentlich komplexer Prozess. Während sich in den Jahren zwischen Geburt und Schulreife besonders das Nervensystem ausbildet und nach der Pubertät die Stoffwechsel- und Gliedmaßenorgane vollständig entwickeln, sind es die rhythmischen Funktionen, die in der Mitte der Kindheit ihre volle Belastbarkeit erwerben. Dieser Prozess vollzieht sich still und ruhig und ist in der Aufmerksamkeit der Medizin nicht angekommen. In den Zeiten vor der Moderne war dies auch nie ein großes Problem. Das Leben in der Natur, geprägt von vielen religiösen Ritualen, bestimmt von Sonnenauf und -untergang, von den Verrichtungen in der Landwirtschaft, dem Wochenrhythmus mit dem „heiligen Sonntag“, den intensiv erlebten Jahreszeiten und den religiösen Festen, bot genügend Rhythmen und Rituale, die ein heranwachsendes Kind adaptieren konnte, um stabile Rhythmen zu erwerben. Das hat sich grundlegend verändert mit zunehmender Urbanisierung, dem Verzicht oder Verlust religiöser Rituale in einer Zeit, in der ein Miterleben von Naturrhythmen allenfalls als Ferien oder Wochenendsevent aus dem Alltag verschwunden ist und immer mehr Stressoren die rhythmischen Zeitstrukturen verhindern.
Zugleich hat sich die Phase der Schulreife verändert: immer früher zeigen Kinder die körperlichen Zeichen der Schulreife (Proportionsumkehr der Gliedmaßen, Zahnwechsel, Umgestaltung der Leibesform mit Entwicklung von Taille und Muskelrelief), aber immer später zeigen sich die Zeichen seelischer Reife, wie Lernwille, verlängerte Aufmerksamkeitszeiten, Konzentration auf Lerninhalte. So kommt die Schulreifezeit der Mitte der Kindheit immer näher. Zugleich verändert sich die Pubertät. Seelisch dauert sie immer länger (bis ca. 18 Jahre), während die körperliche Pubertät immer früher eintritt. Die erste Monatsblutung, die als Zeitpunkt des Pubertätsbeginnes zählt, verschiebt sich im Mittel alle 10 Jahre um 3 Monate nach vorne und liegt jetzt bei 11,5 Jahren; in einzelnen Fällen wurden regelmäßige Monatsblutungen schon bei 6jährigen Mädchen gesehen. Auch hier greift der Zeitpunkt des Pubertätsbeginnes gravierend in die stille Zeit der Mitte der Kindheit hinein. Die Umbruchphasen der Schulreife und der Pubertät sind unruhige Zeiten für die Entwicklung von Kindern und die Rhythmusstabilisierung in der Mitte der Kindheit braucht eine ruhige Entwicklungsbedingung. Kinder ziehen sich vor dieser Zeit gerne zurück, sie erzählen nicht mehr alles ihren Eltern, was sie beschäftigt, sie behalten Geheimnisse für sich, sie schützen diese auch schon manchmal unbeholfen mit Lügen. Viele Kinder schließen die Türen hinter sich oder suchen gerne enge Räume auf. Aus diesem Rückzug kommen Fragen: Fragen, ob die Eltern wirklich die Eltern seien, oder ob es nicht Verwechselungen auf der Geburtsstation gegeben habe; Fragen nach der Herkunft und nach dem Tod kommen nicht selten mit einem melancholischen Unterton. Besonders typisch sind auch Fragen wie diese: „Papa, wenn jetzt das Haus brennt, wir beide alleine zuhause sind und nur einer gerettet werden kann, würdest Du Dich retten, oder mich?“ zeigen, was hinter diesen Fragen lebt: wer bist Du eigentlich im Verhältnis zu mir?
Der rhythmische Wechsel von Nähe und Distanz ist grundlegend für alles soziale Handeln
Nach dieser Zeit können wir eine Fähigkeit entdecken: die Fähigkeit den sozialen Umraum in nahestehende Menschen und ferner stehenden zu differenzieren. Nähe und Distanz – das sind die sozialen Rhythmen, die wir für den Rest unseres Lebens beherrschen können, die aber hier ihren Ursprung haben. Diese Differenzierungsmöglichkeit ist eine Errungenschaft, die gleichzeitig mit der Differenzierung der Rhythmen einhergeht. Z.B. wenn man einem Kind vor dieser Zeit den Puls misst und es auffordert, tief ein- und dann, nach einer Pause, tief auszuatmen, dann fühlt man beim tiefen Einatmen eine Verlangsamung des Pulses, bis das Herz fast stehen zu bleiben scheint. Beim tiefen Ausatmen beginnt der Puls hingegen zu rasen. D.h., der Organismus kann bis zu diesem Zeitpunkt die beiden Rhythmen von Puls und Atmung nicht unabhängig voneinander regulieren („respiratorische Arhythmie“). Danach bleibt der Puls stabil, egal, wie geatmet wird, der Organismus differenziert diese Funktionen. Das ist für stabile Rhythmen von großer Bedeutung, so wie der rhythmische Wechsel von Nähe und Distanz grundlegend für alles soziale Handeln ist!!
Rudolf Steiner, der als erster die Bedeutungen dieser Rhythmen erkannte, hat z.B. im Lehrplan der Waldorfschulen nicht nur den „rhythmischen Teil“ als wesentlichen Bestandteil des Hauptunterrichtes eingeführt, um dem Hunger nach rhythmischen Vorbildern zu genügen, oder mit der Eurythmie ein gänzlich neues Schulfach kreiert, sondern hat kurz vor dieser Mitte der Kindheit die Hausbauepoche eingefügt. Damit wird dem Kind mit seinem Bedürfnis nach geschlossenen Räumen das Signal gegeben, dass man es in seinem Bemühen ernst nimmt. Kurz nach dieser Phase, wenn die Differenzierungsfähigkeiten auftreten, kommt die Bruchrechenepoche, um der entstandenen Fähigkeit Futter zu geben. Erst jetzt werden in der Musik der Kanon und die Mehrstimmigkeit eingeführt, in dem man seinen Rhythmus gegen den Rhythmus der anderen Stimmen behaupten muss.
Rhythmus ist daher eine zentrale Äußerung von Leben, schafft immer das Ganze neu, macht uns anpassungsfähig und gibt Kraft. Zugleich ist die Geburt des rhythmischen Systems auch die Quelle allen sozialen Lebens.
An das differenzierte und ganzzahlige Verhältnis von Puls und Atmung schließen sich nun alle anderen Rhythmen im Organismus an (Hirngrundaktivität, Nervenaktivität, Flimmerepithelrhythmus, Darmperistaltik, elektrische Widerstandsschwankungen in der Haut, Verdauungsrhythmen, die Rhythmen jedes Organes, die vielen hormonelle Rhythmen, Schlaf-Wach-Rhythmus, um nur wenige zu nennen). Alle werden nun differenziert gehandhabt, treten in dieses mathematische Ordnungssystem ein und sind die Grundlagen der Gesundheit.
… das alles ist eine der wichtigsten Fragen, die über Gesundheit und Krankheit entscheiden.
Neben den biologischen Rhythmen, die weitestgehend einer inneren Uhr folgen (wenn wir sie nicht stören), sind viele andere Rhythmen willkürlich: Der Wechsel von Ruhe und Aktivität, Der Wechsel von Kontakt und Rückzug, Nahrungsaufnahme, Schlafenszeiten etc. Manche Menschen singen, musizieren, tanzen, üben rhythmische Sportarten, rezitieren Gedichte, meditieren oder pflegen andere Rituale. Wie sehr der Mensch nun aber in der Lage ist, diese willkürlichen Rhythmen, oder oft Unrhythmen, mit den inneren festgelegten Rhythmen in Einklang zu bringen, oder trotz Unrhythmus der Lebensbedingungen die inneren Rhythmen aufrecht zu halten, oder ob die Stressoren des Lebens dieses fragile System der Rhythmen stören oder zerstören – das alles ist eine der wichtigsten Fragen, die über Gesundheit und Krankheit entscheiden. Goethe sah hier einen Spielraum. In seinem wohl bekanntesten Gedicht
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
drückt er aus, dass draußen in der Ferne die Berge, das Mineralreich („Gipfel“), etwas näher die belebte Welt der Pflanzen („Wipfel“) und innerlicher die beseelten Tiere („die Vöglein im Walde“) 1:1 dem Rhythmus der Sonne und der Gestirne folgen. Nur der Mensch habe eine leichte Möglichkeit der Emanzipation von diesen kosmisch vorgegebenen Rhythmen („warte nur balde“). Zugleich aber macht er mit dem „bald ruhest du auch“ deutlich, dass eine völlige Abkoppelung nicht möglich sei.
Die Verbundenheit der Rhythmen des Menschen mit den Rhythmen außerhalb von ihm
Diese Verbundenheit der Rhythmen des Menschen mit den Rhythmen außerhalb von ihm drückt sich nicht nur im Tagesgang oder im Mondenzyklus (28 Tage) aus, sondern z.B. in der Atmung: Die Sonne benötigt 25.920 Jahre, bis der Frühlingspunkt der Sonne wieder am selben Punkt des Tierkreises steht, also pro Tierkreiszeichen 2.160 Jahre. Bei 18 Atemzügen pro Minute sind es 1.080 Atemzüge pro Stunde, also 25.920 in 24 Stunden. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von wenig mehr als 70 Jahren wachen wir 25.920 mal auf und schlafen 25.920 mal ein. So scheint ein loser Zusammenhang zwischen den Rhythmen des Leibes und großer Weltenrhythmen zu bestehen. Und die Gefahr besteht darin, dass wir uns zu sehr davon abkoppeln.
Die Störungen rhythmischer Funktionen sind vielfältig und gravierend. Davon wird in der nächsten Ausgabe von „Hinweis“ mehr berichtet werden. Es sei aber hier schon betont, dass Rudolf Steiner das Problem weitblickend im Auge hatte, wie aus den erwähnten Elementen der Waldorfpädagogik zu schließen ist. Besonders aber in der Medizin wird dieser Aspekt besonders wichtig.
Im ersten Teil dieses Aufsatzes haben wir in der letzten Ausgabe des HINWEIS den Rhythmus und das rhythmische System kennengelernt und auch festgestellt, dass die vielfältigen Vorbilder an Rhythmen aus der Natur und Kultur wichtig sind, damit ein heranwachsendes Kind sie adaptieren kann, um so sein rhythmisches System um das 9./10. Lebensjahr herum zu stabilisieren. Einen eigenen Rhythmus findet der Heranwachsende dann erst mit der Mündigkeit.
Das Ich sei da, sagt Rudolf Steiner, wo Gleichgewichte sind. Gleichgewicht in einem lebendigen System ist immer Rhythmus.
Nun haben diese Vorbilder für die Rhythmen nachgelassen. In der Serie von Bildern des Ehepaares Sonia und Robert Delaunay wird deutlich, wie zunächst (im Bal bulier von Sonia Delaunay, Seite 6) Rhythmen das längliche Format durchziehen; wie Taktstriche gliedert sich die Fläche in Abschnitte, die das Leben davor aber eigenständig formt, Gestalten daraus entstehen, Paare sich bilden, die dann wie zu einer Musik zu tanzen scheinen. Die runden Gebilde, die zunächst (links) eher Köpfe zu sein scheinen, lösen sich los und werden zu Gestirnen, die sich über das bunte Treiben erheben.
Auch in dem Bild Voyages lointains, ebenfalls von Sonia Delaunay sehen wir in vier sich steigernden Abschnitten durchgehende Rhythmen, aus denen sich Figuren formen, die ganz aus Rhythmen bestehen, als wäre der Rhythmus überhaupt das Schöpfungsprinzip für die Vielfalt allen Lebens.
Auch Robert Delaunays „portugiesische Frau“ lässt im Betrachter erahnen, dass das Begießen der Blumen durch die Frau die vielfältigen Rhythmen der Natur überhaupt erst erzeugt, der Mensch aber (die blumengießende portugiesische Frau) damit ganz zur Einheit wird, nicht nur der Hut dieselben Formen und Farben annimmt, wie die Blumenpracht, auch ihre Gestalt setzt sich in den rhythmischen Flächen der Umgebung fort.
Andere Bilder aber zeigen, wie das urbane Leben diese Rhythmen zunehmend stört, so Robert Delaunay in seinem Karussell-Bild zeigt, wie in den immer schneller werdenden Rhythmen die Menschen teilweise zur Zielscheibe werden und im Zentrum des Bildes, wie einzelne Figuren darin verschwinden, von denen man nur noch die Beine sieht, während der Rest des Körpers wie in einem Strudel bereits verschwunden ist.
Auch in Robert Delaunays Bild „Hommage a Bleriot“ (Bleriot war der erste Pilot, der den Ärmelkanal überquerte) sehen wir, wie der Propeller Rhythmen schafft, die wie Blasen im Schaum aufsteigen, sich auflösen, gegenseitig stören und halt machen vor den monolithischen Zeugnissen der Großstadt.
Dass die Rhythmen, die heute auf Kinder und Jugendliche wirken, nicht mehr die sind, die einst in Bullerbü als Vorbilder nachzuahmender Rhythmen des menschlichen rhythmischen Systems vorhanden waren, braucht nicht diskutiert zu werden.
Rhythmus und Blutdruck
Eine Studie aus Italien macht etwas deutlich.
Über 20 Jahre wurde eine gleichbleibende Gruppe von Nonnen in einem Kloster regelmäßig untersucht. Gleichzeitig wurden Frauen außerhalb des Klosters über denselben Zeitraum auch regelmäßigen Untersuchungen unterzogen. Der Unterschied war im Wesentlichen der, dass die Nonnen im Kloster einen strengen und gleichbleibenden Rhythmus lebten. Jeden Tag zur selben Zeit aufstehen, die Mahlzeiten, die Arbeits- und Kontemplationszeiten waren immer dieselben, die Wochen glichen sich, und der Jahreslauf wurde nicht nur in der Natur, sondern auch durch die starken Jahresfeste sehr betont erlebt und durchfühlt. Außerhalb des Klosters herrschten diese Rhythmen nicht vor, und nur wenigen mag es gelungen sein, bei den wechselvollen Ansprüchen des Alltages einen eigenen und stabilen Rhythmus mit vergleichbar starken Ritualen zu leben.
Der Unterschied fand sich bei den Reihenuntersuchungen besonders beim Blutdruck. Da der Organismus versucht, die festgelegten schnellen Rhythmen des Nervensystems und die willkürlichen Rhythmen des Stoffwechsels, der Motorik und des Lebenswandels zu einem rhythmischen System mit geordneten Relationen der Rhythmen untereinander zusammenzufassen, sind es nur die Rhythmen des Kreislaufes und der Atmung, die diesen Spagat schaffen könnten. Da aber außerhalb des Klosters ständige Wechsel in den Anforderungen herrschten, konnte es dem Organismus nicht gelingen, sie zu einem geordneten System zusammenzufassen. Das herausragende Ergebnis war der kontinuierliche Anstieg des Blutdruckes bei den Frauen außerhalb des Klosters, während der Blutdruck bei den Nonnen über die 20 Jahre konstant im Normbereich verblieb.
Der hohe Blutdruck aber ist die Hauptursache des Herzinfarktes.
Erkrankungen des rhythmischen Systems
Anfang des 20. Jahrhunderts kannte man den Herzinfarkt nicht, kein Lehrbuch der inneren Medizin erwähnt ihn. Es wird ihn gegeben haben, aber er wurde nicht beobachtet. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist er immer häufiger geworden und führt seit Jahrzehnten die Todesfallstatistik an. Mit der Veränderung der Mitte der Kindheit, wie im ersten Teil (HINWEIS Oktober 2014) beschrieben und durch die veränderten Rhythmuseinflüsse sind unsere Rhythmen nicht mehr im selben Sinne stabil, wie noch im 19. Jahrhundert. Und die Folge sind Erkrankungen des rhythmischen Systems, neben dem Herzinfarkt die vielen anderen Kreislaufstörungen und -erkrankungen, Rhythmusstörungen auch anderer Organe (Darm: Reizdarmsyndrom; Hirngefäße: Migräne, Schlaganfall; Genitalsystem: Immer häufiger werdende Unfruchtbarkeit, Störungen der Libido oder organische Störungen wie Impotenz u.a., Schlafstörungen u.v.a.m.). Auch das Immunsystem dürfen wir zu den rhythmisch arbeitenden Systemen rechnen. Und alle immunabhängigen Erkrankungen nehmen zu (Chronische Infekte, Tumore, autoaggressive Erkrankungen und Allergien). Ferner ist es ein Rhythmus, wenn wir die Welt und im Wechsel uns selber wahrnehmen und so beispielsweise den gedeckten Tisch mit Appetit betrachten; aber gestört ist die Wahrnehmung nach innen, wenn wir dann den Hunger nicht spüren, übergewichtig werden, der Rhythmus der Bewegung möglicherweise auch nachlässt, der Blutdruck aus oben genannten Gründen ansteigt und dann mit dem metabolischen Syndrom Diabetes, Gicht und Ablagerungserkrankungen auftreten, die die Rhythmen aller innerer Organe überfordern und einen Teufelskreis bewirken mit weiteren Gefäßschäden, noch höherem Blutdruck, manifesten Herzerkrankungen und weiteren Stoffwechselstörungen.
All diese Erkrankungen haben viele Gründe. Aber die Störung des Rhythmus ist eine der großen Ursachen.
Gemeinschaft und Alleinsein
Bedenken wir die innere Verknüpfung des Erwerbs essentieller sozialer Fähigkeiten mit dem Erwerb stabiler Rhythmusfunktionen, wie es im letzten Monat dargestellt wurde, so müssen wir nicht lange suchen, um zu bemerken, dass die Rhythmen ruhiger Gespräche, des Wechsels von der Teilnahme an tragenden Gemeinschaften mit einem zur-Ruhe-kommen im Alleinsein immer seltener werden und Gemeinschaften als beliebig, Alleinsein immer mehr als langweilig empfunden werden. Zugleich sind soziale und gesellschaftliche Stressoren ebensolche Rhythmusgifte, die eine schnelllebige Zeit mit vermehrtem Druck in Beruf, Familie und Partnerschaft mit sich bringen, d.h., dass auch seelisch dieser Rhythmus oft gestört ist. Und für den Organismus ist es gleich, ob die Rhythmusstörungen körperlicher oder seelischer Natur sind.
Stattdessen wird der Rhythmus blockiert
Das Fatale ist, dass die wissenschaftliche Medizin für diese fragile Zeitgestalt, wie es die rhythmische Ordnung ist, weder Schutz noch Heilung bietet, wenn Störungen auftreten, z.T. sogar im Gegenteil. Wenn als Folge solcher Rhythmusstörungen z.B. ein hoher Blutdruck auftritt, dann hat die Medizin sehr effiziente Mittel, den Blutdruck zu senken. Aber das ist nicht das Hauptproblem.
Nehmen wir eine der am häufigsten verwendeten Arzneigruppen zur Blutdrucksenkung, die Beta-Blocker. Sie senken den Druck, aber sie mindern noch mehr die Rhythmuskompetenz des Herzens und des Kreislaufes: der Puls schlägt im Takt und bleibt im fast selben Tempo, wenn wir uns aufregen oder uns langweilen. Dabei müsste das rhythmisch schwingende und anpassungsfähige rhythmische Herz-Kreislaufsystem auf die Erfordernisse reagieren: mit Beschleunigung bei Aufregung oder Arbeit, mit Entschleunigung in Ruhe oder im Schlaf. Stattdessen wird der Rhythmus blockiert. Und es muss die Frage erlaubt sein, ob es daran liegt, dass trotz effizienter Blutdrucksenkung viel weniger Infarkte verhindert werden, als man erwartet hat, denn die Bilanz ist erschreckend.
Man könnte jetzt Bücher füllen, um das Klagen fortzusetzen und den Untergang des Abendlandes zu prophezeien, die neuen Medien noch erwähnen, über Facebook klagen, die Weltlage zu bemühen und die Wirkung der vielen Alltagsgifte zu beschreiben.
Das würde nur Niemandem helfen.
Es ist erfreulich zu sehen, wie das Bewusstsein für die Probleme gewachsen ist, wie Achtsamkeitsübungen, Meditationskurse etc. aus dem Boden zu schießen scheinen, wie die Salutogenese, die Resilienzforschung etc. Übungen und Methoden entwickelt, die dem hier in Rede stehenden Problem entgegengehalten werden.
Die Konstitution des Menschen muss sich wandeln
Rudolf Steiner hat weit vorher, schon am Anfang des 20. Jahrhundert, als das alles für die Allgemeinheit noch nicht im geringsten absehbar war, was heute so leicht zu erkennen ist, den Zustand des „modernen Menschen“ beschrieben, sprach von „neuartigen Erkrankungen“ und hat ausführlich dargestellt, was sich noch weiter in dem genannten Sinne ereignen kann. Aber er beschrieb es als ein notwendiges Durchgangsstadium. So wie sich die kindliche Konstitution nicht einfach fortsetzen lässt bis zum Erwachsenenalter, da Entwicklung nie gradlinig verläuft, sondern eine erworbene Konstitution immer erst abgebaut werden muss, bevor eine neue entsteht (die kindliche Konstitution wird in der Pubertät abgebaut, es entsteht ein Durcheinander auf allen Ebenen, bis sich die Konstitution des mündigen Menschen langsam herausbildet), so muss sich die Konstitution des Menschen wandeln, bevor spirituellere Entwicklungsphasen der Menschheit an die Stelle der harten, zum Materialismus neigenden momentanen Konstitution treten können.
Und zu Beginn dieser Entwicklungsphase, in der so viele Störungen und Krankheitsbilder auftreten, hat er vieles beschrieben und inauguriert, was in solchen Situationen hilfreich ist. Seine besondere Fürsorge galt den Kindern und dem Unterricht in den Schulen. Wie bereits erwähnt, sind der rhythmische Teil des Unterrichtes, der Wechsel in der Ansprache von Kopf, Herz und Hand, das Einfügen von vielen Künsten, von Eurythmie, von rhythmischer Gymnastik und der Lehrplan, der auf die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern Rücksicht nimmt (wozu es kein Sitzenbleiben geben darf, damit der Klassenverband als Ganzer die verschiedenen Entwicklungsphasen gleichzeitig durchläuft), elementare Bestandteile des Waldorf-Lehrplanes. Dass diese Elemente heute wichtiger sind, als zur Zeit der Gründung der Waldorfschulbewegung, muss nicht erwähnt werden.
Geschenke für die Organe
In der Medizin sind grandiose Mittel entstanden, die Rhythmuskapazität des Organismus zu stärken, nicht nur allgemein, sondern auch für jedes Organsystem. Rudolf Steiner hat großen Wert auf die Entwicklung von Arzneimitteln gelegt, die den Organen und ihren Funktionen dazu verhelfen, wieder ihren eigenen Rhythmus finden zu können. Eine Art von Hilfe zur Selbsthilfe für das Herz: „Cardiodoron“, für den Darm: „Digestodoron“, für die Leber: „Hepatodoron“ (und viele mehr). „Doron“ heißt das „Geschenk“. Es sind Geschenke, die man seinen Organen gibt. Es ist eine völlig neue Art von Medizin, die den Organen beispielhaft ein Vorbild zeigt, an dem sie sich orientieren können und die ihnen hilft, ihre eigene Arbeitsweise wieder zu finden. Mit einem Cardiodoron stärkt man beim Herzen gerade das, was ein Beta-Blocker dem Herzen nimmt.
Dazu haben sich Therapieformen entwickelt, zum größten Teil auf Steiners Anregungen zurückgehend, die das ergänzen: Heileurythmie, Kunsttherapien, Rhythmische Massage, Rhythmische Einreibungen, die direkt die rhythmischen Funktionen ansprechen, sie stärken und nähren.
Besonders in den künstlerischen Therapien wird dies nicht nur passiv erfahren, sondern aktiv gehandhabt: Mit den Sinnen beobachten, mit dem ästhetischen Gefühl abwägen und den Gliedern verändern oder weiterarbeiten, das in Ruhe, mit aller Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in einem ganz individuell gefundenen Rhythmus von Betrachten und Tun, dabei im Werk immer sich selber begegnend und sich selber geoffenbart finden. Der „Homo ästheticus“ ist vielleicht sogar der gesunde Mensch, das Gegenbild zu dem, was als Problem oben beschrieben wurde. Angesichts der Gefährdung, der der moderne Mensch ausgesetzt ist, angesichts dessen, dass die wissenschaftliche Medizin neben all dem Großartigen, was sie vermag, gerade an diesem Punkt mit leeren Händen dasteht, muss eine moderne Medizin für den modernen Menschen gefordert werden.
Die anthroposophische Medizin ist eine solche moderne Medizin. Sie macht dies nicht am unmündigen Patienten vorbei, sondern fordert ihn auf, aktiv mitzutun. Die Patientenakademie in Hamburg versucht dafür die Grundlagen zu schaffen.
Wo Rhythmus ist, lebt das Ich. Passive Gleichgewichte sind kein Rhythmus. Einen Rhythmus findet man nur durch eigene Aktivität. So wird es nie einen Rhythmus-Schrittmacher geben. Pädagogik und Medizin können die Grundlagen schaffen, aber die Organe selber, besonders der Mensch selber, müssen beteiligt sein.