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Deutsch-türkische Begegnungen
Hamburger Waldorfschüler und Istanbuler Gymnasiasten im Austausch
Haben die Deutschen Vorurteile gegenüber den Türken? Falls dem so ist, konnten über 450 Schüler der Rudolf Steiner Schule Bergstedt diese ausräumen. Und inzwischen sind sie alle begeistert, die deutschen und die türkischen Schüler.
Im Sommer 2006 waren ca. 150 Mittelstufenschülerinnen und Schüler eines deutschsprachigen Gymnasiums in Istanbul (Istanbul Erkek Lisesi) und der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt an einem Schüleraustausch beteiligt.
Dieses Jahr war dann die Oberstufe an der Reihe: im Rahmen der Vermessungsepoche flog die 10. Klasse – inzwischen 11. Klasse – im Mai nach Istanbul. Gemeinsam mit 30 gleichaltrigen Mitschülern des naturwissenschaftlich orientierten Gymnasiums ‚Istanbul Lisesi’ vermaßen sie das Geländes der Istanbuler Technischen Universität. Jetzt im September fand dann der Gegenbesuch der Istanbuler statt.
Ich traf die Schüler im Thalia Theater bei den Proben für das Stück „Nathan der Weise“, was auch ein Teil des gemeinsamen Programms ist.
Gesprächspartner:
David Vogt, Berenike Brügmann, SchülerIn aus Bergstedt; die Schüler Mete Bayraktar und Sinan Özgün Demir, die Schülerinnen Göksu Köksoy und Özten Özcelik aus Istanbul; alle im Alter von 17 bis 18 Jahren.
Der Initiator dieses ganzen Projekts ist Erhan Erdogan, Leiter der Sprachschule Independencia in Hamburg-Eimsbüttel. Er selbst ist ein ehemaliger Schüler des Istanbuler Lisesi Gymnasiums. Zusammen mit Marie-Luise Sparka, Lehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule Bergstedt, konzipierte und koordinierte er den Austausch. Die Hamburger Rudolf Steiner Schulen haben über ein Jahr lang zusammengearbeitet und sich auf unterschiedliche Weise an den drei Projekten, Sommerschule, Sommerakademie, Aufführung des Stückes „Nathan der Weise“, beteiligt. Parallel zur ‚Sommerschule 2007’ beteiligten sich 75 Schüler der neunten Klasse (es waren auch einige Zehntklässler dabei) des Istanbul Lisesi am Unterricht der Gleichaltrigen in den Steiner-Schulen in Altona, Bergedorf und Harburg. Der festliche Abschluss wurde am 13.9. in der Farmsener Schule gefeiert. Unterstützt wurde das Ganze von der Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen Hamburg.
In der Kantine des Thalia-Theaters traf ich auf die fröhlich schnatternde, lachende, kichernde türkisch-deutsche Truppe. Sie waren warm und vertraut miteinander und auch aufgeregt – gestern angekommen und heute schon bei Theaterproben.
Die türkischen Schüler lernen in ihrem Gymnasium Deutsch und waren vorher schon in Deutschland, speziell um die Sprache zu erlernen. Überhaupt ist es ein Privileg, auf diesem Istanbuler Lisesi zu sein. Auf der Homepage steht zu lesen: „Zahlreiche Ehemalige (unseres Gymnasiums) tragen Verantwortung in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft ihrer Heimat – aber auch als lebendige Brücken zwischen unseren Ländern. Unsere Schule ist ein staatliches mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium der Türkischen Republik. Gleichzeitig ist sie eine Deutsche Auslandsschule (Begegnungsschule) und gehört damit zu dem Netzwerk der von Deutschland geförderten Schulen. Unsere Schülerinnen und Schülern müssen bei der nationalen Zugangsprüfung für Gymnasien sehr hohe Punktzahlen erreichen.“
Als die Bergstedter Schüler im Mai in Istanbul waren, wohnten die meisten in türkischen Familien und umgekehrt waren die türkischen SchülerInnen jetzt auch in deutschen Gastfamilien.
Der Aufenthalt in den Familien war das Allerbeste
Das fanden sie spontan am allerbesten – der Aufenthalt bei der anderen Familie. Göksu, eine türkische Schülerin: „Ich war sechsmal in Deutschland und der Aufenthalt in der deutschen Familie war das schönste – wie man mit mir umging und das Essen.“
Dem Schüler Sinan, er will später Ingenieur werden, gefiel das Vermessungspraktikum in der technischen Universität am besten, auch dass er sein Deutsch verbessern konnte und deutsche Kultur kennen lernte. Der Schüler Mete: „Mir hat am meisten gefallen, dass wir etwas mit Naturwissenschaften gemacht haben, in Physik und Mechanik. Dass wir in der Universität waren und das Leben dort getestet haben, macht mir Spaß. Jetzt sind wir mit einem Theaterprojekt beschäftigt, singen, malen, sind bei vielen kulturellen Unternehmungen – das ist gut für unsere Bildung; und natürlich lernen wir dabei Deutsch.“
Und – man staune – das Hamburger Wetter finden sie alle gut. „Da kann man nachts endlich schlafen.“ Auch: „Die Busse sind hier pünktlich. Das gibt es nicht in Istanbul.“
Es gibt viele junge Menschen in Istanbul
Hamburg ist im Vergleich zu der 15 Millionen Stadt Istanbul viel ruhiger und nicht so anstrengend. „Es gibt viel mehr Verkehr, Lärm und Chaos, aber man arrangiert sich. Die Autofahrer hier würden oft sehr unfreundlich reagieren“, fällt der deutschen Schülerin Berenike auf. Der Hamburger David über Istanbul:
„Es gibt viele junge Menschen in der Stadt, die Bevölkerung scheint nicht so alt wie hier. Mit ist auch aufgefallen, dass sich nicht so viele Frauen in der Stadt aufhielten.“ Dazu Mete energisch: „Das liegt aber nicht daran, dass es ihnen verboten wird, sondern sie wollen das nicht. Meistens sind die Männer auf den Straßen, weil sie in den Geschäften arbeiten und nicht die Frauen.“
„Ich hatte mit mehr strengen Regeln gerechnet“
Was war den Deutschen an der türkischen Kultur aufgefallen? David: „Ich hatte mit mehr strengen Regeln gerechnet, dass beispielsweise die Leute fünfmal am Tag auf den Knien beten. Das ist nicht passiert, nicht in den Familien und auch nicht auf den Straßen.“ Dazu Göksu: „Die Deutschen, die nie in der Türkei waren, denken, dass es wie im Iran ist. Das ist aber nicht der Fall. Ich kann mich als Frau beispielsweise anziehen wie ich will.
„Wir sind eine demokratische Republik und haben keine strengen islamischen Regeln“
Wir sind eine demokratische Republik und haben keine strengen islamischen Regeln.“ Sinan: „Wir haben Religionsfreiheit. Ich kann Islamist sein, aber auch an eine andere Religion glauben.“ Für Sinan hat der Islam eine Bedeutung, „aber nicht so extrem“. Göksu bekennt sich ausdrücklich nicht zum Islam, „und das kann ich in der Türkei ganz offen sagen. Hier in Deutschland gibt es viele Frauen mit Kopftüchern, aber nicht in der Türkei. Ich denke, dass hängt vom kulturellen, finanziellen Hintergrund und dem Bildungsstand der Familie ab.“
Ich weise auf die Bücher von Necla Kelek hin, eine türkische Soziologin, die in Hamburg lebt. (Necla Kelek: Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Kiepenheuer & Witsch.) Sie führte im Hamburger Schanzenviertel in der Moschee mit jungen Türkinnen Gespräche. Diese jungen Frauen wurden im Alter von ca. 15 bis 17 Jahren von der Türkei aus nach Deutschland verheiratet – gegen einen Brautpreis – ohne ihren zukünftigen Mann zu kennen, geschweige denn selbst zu wählen. Hier werden diese „Importbräute“ von der Schwiegerfamilie quasi als Haushaltshilfe und zum Gebären der Kinder gehalten, bekommen nicht die Gelegenheit Deutsch zu lernen und dürfen auch nicht aus dem Haus. Es sei denn zur Moschee, in der Necla Kelek sie dann interviewte.
Meine Frage an die Schüler: „Ist Ihnen so etwas bekannt?“ „Ja, das wissen wir, leider gibt es das. Wenn die dann aus der Familie ausbrechen, werden sie auch ermordet. Aber das passiert meistens im Südosten der Türkei, bzw. sie kommen aus dieser Gegend. Es sind Kurden.“ Sinan: „Ich denke, sie hatten in der Türkei keine Ausbildung und Arbeitsmöglichkeiten und gingen deshalb nach Deutschland. Die meisten Türken, die in Deutschland arbeiten, kommen aus Dörfern, und ohne jemals eine Stadt gesehen zu haben, gehen sie nach Deutschland. Sie haben wenig Bildung und bekommen dann in Deutschland einen Kulturschock. Deshalb haben sie hier Probleme. Sie sind aber nicht repräsentativ für die anderen Türken.“
Ich frage, ob sie die Filme von dem türkischen Regisseur Fatih Akin kennen. Damit sind sie bestens vertraut. In dem Film „Gegen die Wand“ ist ein Handlungsstrang, dass der große Bruder seine Schwester verfolgt, weil sie als verheiratete Frau einen Liebhaber hatte. Sie wurde deshalb von der Familie geächtet, und der Bruder will sie um der Familienehre willen umbringen.
Sinan: „Es gibt natürlich extreme Familien. Selbstverständlich kann man die Polizei zu Hilfe holen.“
Mete: „Der Bruder wird dann verhaftet, aber aus seiner Sicht macht das nichts, weil er es wegen der Ehre gemacht hat. Solche Taten werden aber jedes Jahr weniger und kommen meist nur im Südosten der Türkei vor, oder es sind Bewohner in den Städten, die aus dieser Region kommen.“
Göksu: „In meiner Familie herrscht nicht so eine Vorstellung von Ehre wie z. B. in dem Film. Meine Eltern wissen, dass ich einen Freund habe und das ist kein Problem.“
Immer wieder betonen sie, dass sie moderne Türken seien, in ihren Handlungen völlig frei, heiraten könnten, wen sie sich aussuchen, und dass die Türken in Deutschland ganz anders sind als die in der Türkei. Die Deutschen hätten ihnen, die dann einmal nach dem Abitur hier studieren würden, gegenüber Vorurteile – sie seien keine Deutsch-Türken mit Kopftüchern, ohne Kenntnisse anderer Kulturen oder fremder Sprachen.
„Es gibt eine starke Gefühls-Beziehung in der Familie“
Und wie haben die Deutschen die türkischen Familien erlebt? Dazu David: „Die Familie ist in der Türkei wichtiger als bei uns. Die Schüler beispielsweise wohnten getrennt von ihren Eltern und haben jeden Tag mit ihnen telefoniert. Das ist bei uns nicht so. Von daher kann ich mir vorstellen, dass auch das Gefühl für die Familienehre daraus entsteht.“
Mete: „Es gibt eine starke Gefühls-Beziehung in der Familie“
Die deutschen Schüler waren vor ihrem Türkei-Besuch etwas skeptisch in Bezug auf strenge islamische Regeln. „Es kam dann aber ganz anders, frei und offen.“
Göksu: „Ich habe in Spanien eine katholische Freundin, sie geht dort in eine Mädchenschule. Ihre Familie sagt, dass sie nie einen türkischen oder islamischen Mann heiraten dürfe. Es gibt also nicht nur im Islam strenge Regeln, sondern beispielsweise auch im Katholizismus. Man schaut aber nur auf die islamischen Länder.“
Die Religion und die Staatsführung sind voneinander getrennt
Meine Frage:„Welche Botschaft würden Sie den Deutschen mitteilen wollen?“
Göksu: „Wir sind ein laizistisches Land, die Religion und die Staatsführung sind seit Atatürk voneinander getrennt.“
Sie wissen von den konservativen Bestrebung der jetzigen Regierung, aber die lehnen sie radikal ab, ausdrücklich sind sie auf eine moderne, Europa-orientierte Türkei ausgerichtet.
Im Anschluss an das Treffen mit den Schülern hatte ich noch ein Gespräch mit der Lehrerin Marie-Luise Sparka, die die Projekte koordiniert hatte. „Es war unser Ziel, dass die Schüler sich begegnen und verstehen lernen. Generell durch den Epochenunterricht im Lehrplan der Steiner-Schulen, durch die Fülle der künstlerischen Fächer, vor allem aber durch die Arbeit an einem gemeinsam durchgeführten künstlerischen Projekt war das natürlich besonders gut möglich. Es war deutlich, dass die Schüler sich gegenseitig akzeptierten und schätzen lernten. Besonders zeigte sich diese gegenseitige Toleranz an dem Tag, als wir im Rathaus eingeladen waren. Die Schüler durften den Abgeordneten Fragen stellen und taten das sehr kritisch: „Woher nehmen Sie Ihre Meinung über die Türken? Waren Sie denn schon einmal in der Türkei?“
Die Schüler sind uns älterer Generation weite Schritte voraus. Sie sind offen, neugierig und interessiert, und wenn sie Vorurteile hatten, so sind diese sicherlich korrigiert worden. Insofern muss man ihnen die Basis für solche Begegnungen schaffen. Wir hatten jetzt ungefähr 140 Gastschüler, und etwa 450 deutsche Mitschüler waren am Kontakt beteiligt. Viele haben auch den Wunsch, sich gegenseitig wieder zu sehen. Solche Begegnungen sind Schritte zu einem gemeinsamen Europa.“
Redaktionelle Bearbeitung: Christine Pflug