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Die geistige Waffenrüstung
Ein Weg zur Stärkung des Inneren
Interview mit Dr. Günther Dellbrügger, Pfarrer der Christengemeinschaft
Dieses Interview wurde angeregt durch Dr. Günther Dellbrüggers gleichnamiges Buch, das kürzlich erschienen ist. Er befasst sich darin mit der herausfordernden Botschaft des Paulus: „Leget an die Waffenrüstung Gottes…“. Wir brauchen diese „Stärkung des Inneren“ um die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen.
Das folgende Gespräch reflektiert die gegenwärtige Lage im Hinblick auf den einzelnen Menschen: Was kann gegen die globale Betäubung und Lähmung unseres Bewusstseins getan werden? Wie können wir (unsere) Ängste erkennen und überwinden? Wo gibt es Hilfen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Religion?
Interviewpartner: Dr. Günther Dellbrügger, geb. 1949, Studium der Philosophie, Slawistik und Geschichte; Promotion über Hegels Religionsphilosophie. Seit 1978 Pfarrer der Christengemeinschaft, seit 1990 in der Priesterausbildung tätig, ab 2000 Mitbegründer des Priesterseminars in Hamburg; seit 2006 in der Gemeinde München-Mitte.
C. P.: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Dr. Günther Dellbrügger: Das Thema beschäftigt mich seit vielen Jahren. Ich möchte mit diesem Buch wach machen, den Mut im Leser stärken und Hoffnung vermitteln. Hinter den Kulissen unserer Zeit findet eine geistige Auseinandersetzung statt, die wir erkennen müssen.
Der Text des Paulus, den ich meinem Buch zugrunde lege, spricht von einer solchen Auseinandersetzung, obwohl er schon 2000 Jahre alt ist. Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass manches aus den Paulusbriefen für zukünftige Zeiten geschrieben ist. Vielleicht auch die markante Stelle aus dem Epheserbrief:
„Wache auf, der du schläfst,
aufersteh von den Toten.“
Unser normales, gegenwärtiges Bewusstsein ist ja keineswegs eine volle Wachheit, es ist – geistig gesehen – eher ein Schlaf. Uns fehlt die Fähigkeit der Aufmerksamkeit auf allen Wahrnehmungsgebieten. Lebe ich oder werde ich gelebt? Bin ich „tot“ und weiß es nicht? Das Pauluswort ist krass – aber ist es nicht wahr?
C. P.: Wie zeigt es sich denn, dass wir alle „schlafen“? Gibt es auch weckende Stimmen in unserer Zeit?
Dr. G. Dellbrügger: Heinrich Heine hat 1844 Deutschland „Ein Wintermärchen“ genannt hat: fleißig, aber verschlafen, pünktlich, aber folgsam. Die allgemeine Schläfrigkeit bezeichnet Rudolf Steiner als das Einfallstor der Mächte, die letztlich den 1. Weltkrieg bewirkt haben. Es gab im 20. Jahrhundert weltweit einzelne, weckende und warnende Stimmen, wie z. B. Rachel Carson mit ihrem bahnbrechenden Buch „Der stumme Frühling“, die Gefährdung der Umwelt betreffend, oder Alfred Anders mit der Warnung vor der Atombedrohung und seiner Aufforderung zu ihrer täglichen Bewusstmachung. An ihnen kann uns unsere Schläfrigkeit bewusst werden.
heute haben wir ideologische Ausreden dazu entwickelt, um weiterzuschlafen
Der verstorbene Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker veröffentlichte 1983 eine Zusammenfassung seiner weltpolitischen Prognosen unter dem Titel „Der bedrohte Frieden“. Ein sehr lesenswertes Buch. Der Zusammenbruch des Kommunismus, weltweite Arbeitslosigkeit, das Versagen der Sozialsysteme – alles wird vorausgesagt bis hin zum unkontrollierten Kapitalismus, der als Gesellschaftssystem vor nichts zurückschrecken wird, um seine eigene Macht zu erhalten. Weizsäcker wusste zugleich, dass sein Buch keinen weckenden Einfluss haben würde. Im Gegenteil, heute haben wir ideologische Ausreden dazu entwickelt, um weiterzuschlafen: „Krisen gab es schon immer! Die Technik wird auch das lösen!“ usw.
Benediktus Hardorp (Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, Vertreter der Dreigliederung Rudolf Steiners) spricht von drei Möglichkeiten des Verhaltens, wenn ein Schiff auf einen Eisberg zusteuert:
1. „Wir werden den Eisberg rammen und zerbrechen.“
2. „Es gibt keinen Eisberg.“
3. „Wir ändern mit aller Kraft den Kurs.“
Zu einer Kursänderung will ich mit meinem Buch beitragen.
der spirituelle Hintergrund des Bösen
C. P.: Sie schreiben von „Waffen“ und „Rüstung“. Wie ist das zu übertragen?
Dr. G. Dellbrügger: „Waffen“ und „Rüstung“ sind natürlich ganz in einem spirituellen Sinne gemeint. Paulus spricht im Epheserbrief von einem Kampf gegen hierarchische Wesen, gegen Hierarchien des Bösen. Nirgends im Neuen Testament wird auf die spirituellen Hintergründe des Bösen so deutlich hingewiesen wie in diesem Kapitel, außer in der Apokalypse des Johannes. Von diesem Kampf, der nicht irgendwo draußen, sondern auf dem Grund der Seele des Menschen stattfindet, spricht auch Rudolf Steiner Pfingsten 1915 in dem Spruch „Wo Sinneswissen endet …“. Es kann ermutigend wirken, dass er dort formuliert, dass sich die Seele durch eigene Aktivität den Schlüssel schaffen kann, mit dem sie sich den Zugang zu den wahren „Lebenswirklichkeiten“ eröffnet. Diesen Vorgang kleidet Paulus in das Bild einer Waffenrüstung, die der Mensch sich schmieden muss für den Kampf gegen die überragend starken geistigen Mächte, die unser Menschentum gefährden. Das Christentum ist eine Kraftquelle zur Stärkung des inneren Menschen.
man bildet sich eine zweite Leiblichkeit, die schützt
Indem er sich mit dem lebendigen Christus durchdringt und verbindet, bildet er sich eine zweite Leiblichkeit, die ihn schützt. Gedanken der Wahrheit werden zu einem schützenden Gurt, den man vor der Rüstung anlegt. Wille zur Gerechtigkeit zu einem Brustpanzer usw.
C. P.: Kann der Paulustext den Menschen die Angst nehmen?
Dr. G. Dellbrügger: Ich konnte erleben, dass diese Worte im längeren Umgehen mit ihnen eine starke Kraft entfalten. Werden sie regelmäßig gesprochen, bildet sich eine Schutzhülle. Ich denke, Paulus spricht aus authentischer Erfahrung. Wie oft war er angegriffen und befand sich in Todesgefahr. Aber er ist unerschrocken, furchtlos seinen Weg gegangen. Das konnte er, weil ihm das Erlebnis vor Damaskus „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ tiefe Sicherheit und Vertrauen in die Gegenwart des Geistes gab und ihn angstfrei machte. Paulus besaß auch große gedankliche Schärfe („das Schwert des Geiste“), was ihm die Erkenntnis der Widersachermächte ermöglichte. Seinen Briefen kann abgelesen werden, dass er eine ringende Seele war und gerade darin – scheint mir – macht er uns Mut!
Auch die drei Bilderzyklen von Maren Glockmann zeigen – so meine ich – die Dramatik der Auseinandersetzung mit dem Bösen und zugleich das Mut spendende Licht der Stärke.
„Zeitungeister“
C. P.: Welche Rolle spielen die Zeitgeister und „Zeitungeister“, bzw. Gegenmächte in diesem geistigen Kampf? Wie kann man sie beschreiben?
Dr. G. Dellbrügger: Meinem Eindruck nach wirken die Gegenmächte des Menschen so, dass sie die höheren Erkenntniskräfte, die jetzt im Menschen zu erwachen beginnen, abfangen und verführen. Die Fähigkeit, z. B. die Wirklichkeit in Wahrbildern, in Imaginationen zu erschauen, wird von einer Flut von massiv wirksamen Scheinbildern vereinnahmt.
Bei Kindern und Jugendlichen erlebe ich, dass höhere Erkenntniskräfte erwachen. Sie sprechen von geistigen Erfahrungen, die für sie so real sind wie die Sinneswelt – eine Thematik, die auch im Film (z. B. „Sixth sense“) breit aufgegriffen worden ist.
die Bilder können von der Seele nicht in ruhiger Aktivität aufgebaut werden
Die Bilder können von der Seele nicht in ruhiger Aktivität aufgebaut werden und lebendige Wahrheiten vermitteln, sondern stürzen auf den Menschen ein – etwa bei Videoclips – und überfordern das Bewusstsein. Der omnipräsente Zugang zu diesen virtuellen Bilderwelten wird uns als Zuwachs an Freiheit angeboten. Ist das so? Wird es nicht immer schwieriger, sich ein klares Bild von einem Problem zu machen? Kennen ist nicht Erkennen! Unsere Urteilskraft ist bedroht.
Fördert diese Sache wirklich die Freiwerdung des Menschen?
Das methodisch raffinierte der Zeitungeister scheint mir zu sein, dass sie an echte fortschrittliche Impulse anknüpfen, diese dann aber für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Sie benutzen die Sehnsucht des Menschen nach einer vertieften Wahrnehmung im Sehen und Hören, führen sie aber mit technischen Mitteln in eine Scheinwelt. Diese schwächt den Menschen, statt ihn zu stärken, macht ihn tendenziell abhängig, statt seine Freiheit zu fördern.
Folgende zwei Fragen sind mir hilfreiche Führer zur Urteilsfindung in unserer schwer überschaubaren Zeitsituation geworden: Fördert diese Sache wirklich die Freiwerdung des Menschen und seine Würde? Was regt in ihm soziale, mitmenschliche Impulse an?
Glaube ist schöpferische, verändernde Kraft
C. P.: Was kann der Glaube heute positiv zur Situation beitragen?
Dr. G. Dellbügger: Aus dem Vorhergehenden ist – denke ich – deutlich geworden, dass Glaube im Sinne des Paulus etwas ganz anderes ist als ein blasses „Für-wahr-halten“. Glaube ist schöpferische, verändernde Kraft. Sie fließt aus der Erkenntnis, dass der lebendige Christus gegenwärtig ist und uns stärkt. Uns stärkt für die Ideale des Christentums, zu der auch die Hoffnung zählt. Obama wurde mit seinem „Yes, we can“ zum Hoffnungsträger in unserer erstarrten und bedrohten Welt. Wir haben große Möglichkeiten, die Zukunft der Menschheit und der Erde in andere Bahnen zu lenken. Nichts wird uns in den Schoß fallen, aber mit Geist, Herzensmut und Bereitschaft zur Kursänderung können wir Zukunft gestalten. Folgende Worte Vergils habe ich meinem Buch als Motto vorangestellt:
„Weiche den Übeln nicht,
geh mutiger ihnen entgegen!“
Das kann in Zivilcourage, im Engagement für die Friedensbewegung, im Umweltschutz geschehen, in der Mitarbeit in einer der vielen Gruppen und Netzwerke, z. B. bedingungsloses Grundeinkommen, die zusammen arbeiten in der Gewissheit „Eine bessere Welt ist möglich!“
„Die geistige Waffenrüstung – Ein Weg zur Stärkung des Inneren“ Günther Dellbrügger; Urachhaus. ISBN 978-3-8251-7664-8
Mit 18 farb. Grafiken von Maren Glockmann.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Urachaus Verlages