Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Heimat im geschenkten Wort
zur Biografie von Hilde Domin
Artikel von Tabea Hattenhauer, Studentin am Priesterseminar
„Das Wohnen in einer von Flucht und Heimatlosigkeit geprägten Biografie. Die Schafwolldecke als einzig verlässliche, schützende Hülle. Durch welche Tiefen Hilde Domin gehen musste, um zu ihrer Ausdrucksfähigkeit zu kommen, lassen ihre Worte zunächst kaum erahnen.“
Im ersten Studienjahr soll jeder Student am Hamburger Priesterseminar der Christengemeinschaft eine selbst gewählte Biografie schriftlich bearbeiten und ein Referat darüber halten. Manchmal schließen sich auch Vorträge in Gemeinden an. Als Biografie eignen sich hierfür alle Lebensläufe von Menschen, die bereits verstorben sind. Nur so wird das ganze Leben sichtbar. Es ist für die Auswahl nicht wichtig, ob der Mensch berühmt, bekannt, ob er besonders religiös oder sozial engagiert war.
Warum diese Aufgabe? Im Priesterberuf ist die Biografie eines Menschen ein wichtiges Arbeitsfeld. Bedeutsame biografische Momente und Aufgaben zu erkennen, ist Bestandteil der Seelsorge.
Bei einer Bestattung ist meist wenig Zeit für die Vorbereitung auf die Ansprache zum Leben des Verstorbenen. Erfahrung im Umgang mit Schicksalsverläufen ist dann eine hilfreiche Arbeitsgrundlage.
Nur eine Rose als Stütze
Diese schwebend zarten Zeilen aus dem wohl bekanntesten Gedicht Hilde Domins nehmen schon in der ersten Zeile Bezug auf ein Lebensthema der Dichterin: Das Wohnen in einer von Flucht und Heimatlosigkeit geprägten Biografie. Die Schafwolldecke als einzig verlässliche, schützende Hülle. Durch welche Tiefen Hilde Domin gehen musste, um zu dieser Ausdrucksfähigkeit zu kommen, lassen ihre Worte zunächst kaum erahnen.
Als Tochter von assimilierten Juden wurde sie am 27. Juli 1909 in Köln als Hildegard Löwenstein geboren. Der Vater war Rechtsanwalt und für Hilde ein großes Vorbild in seiner Liebe zur Gerechtigkeit und seinem Engagement für die Menschen, die er verteidigte. Die Mutter, eine ausgebildete Sängerin, vermittelte Hilde und ihrem drei Jahre jüngeren Bruder das Gefühl, geliebt und geborgen zu sein. Gleichzeitig lernte Hilde durch sie aber auch, mit der Wahrheit nicht hinterm Berg zu halten, selbst wenn es für den Adressaten unangenehm war.
Hilde Löwenstein studierte Jura, Philosophie und politische Wissenschaften zunächst in Heidelberg, Köln-Bonn und Berlin. In Berlin hörte sie Hitler in der Hasenheide sprechen und war sich sofort im Klaren darüber, dass dieser Mann auch umsetzen würde, was er ankündigte.
Die NS-Machtergreifung voraussehend, entschloss sie sich daher bereits 1932 mit ihrem jüdischen Freund Erwin Walter Palm, Student der klassischen Archäologie und Philologie, nach Rom auszuwandern, da sich ihm dort gute Forschungsmöglichkeiten boten.
Obwohl Hilde ihr Studium in Italien erfolgreich fortsetzte, lag bei ihr auch die Hauptlast des Unterhaltes für das gemeinsame Leben. Sie gab daher täglich viele Stunden Deutschunterricht und unterstützte zudem ihren Freund bei dessen archäologischen Recherchen. Beglückend für das Paar war die gemeinsame Liebe zum Wort. Sie lasen sich gegenseitig Gedichte vor und diskutierten darüber. Bücher waren für beide ein Schatz und sollten zeitlebens der wichtigste Einrichtungsgegenstand bleiben.
Angesichts des Wunsches, den geliebten Freund so gut wie möglich zu unterstützen, verwundert es nicht, dass Hilde nach ihrem Doktorexamen auf die angebotene Universitätslaufbahn verzichtete. 1936 heirateten die beiden und Hilde nahm den Namen Palm an.
Die politische Situation wurde nun aber auch in Italien immer bedrohlicher, sodass die gepackten Fluchtkoffer schon einige Zeit in der Wohnung bereit lagen, bevor den Palms im März 1939 – sozusagen in letzter Minute – die Flucht nach England glückte. Dort trafen sie mit Hildes Eltern zusammen, die sich zu Verwandten hatten retten können. Mit dem Kriegseintritt Großbritanniens stieg jedoch die Furcht vor einem Einmarsch der deutschen Truppen und das junge Paar musste sich erneut um Ausreisemöglichkeiten bemühen. Anfang 1940 waren jedoch viele Länder nicht mehr bereit, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, sodass Hilde und Erwin sich nur noch in die Dominikanische Republik retten konnten. Der dortige Machthaber Rafael Leónidas Trujillo hatte sich bereit erklärt, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, um den Anteil der weißen Bevölkerung in seinem Land anzuheben. Ein Diktator als Lebensretter – konnte man ihm dankbar sein?
Über Kanada, Jamaika und Kuba gelangten die Palms nach sechswöchiger Schiffsreise schließlich nach Santo Domingo.
Am 4. August 1940 entlud sich ein Tropenregenguss genau in dem Moment, als das kleine Wasserflugzeug seine einzigen zwei Passagiere auf einem einsamen, hölzernen Landesteg absetzte, der auf ein paar Teerfässern auf und nieder schwankte und direkt in ein Zuckerrohrfeld führte. „Durchnässt bis auf die Herzhaut“ standen die Palms verloren vor den Toren der fremden Stadt.
Nun galt es in dieser exotischen Fremde heimisch zu werden und sich mit dem Spanischen vertraut zu machen, was sie – wie schon in Italien und England – durch das Lesen und Übersetzen von Gedichten bewerkstelligten.
Überdies war Hilde auf der Schiffsreise schwanger geworden. Da ihr Mann das Kind unter den gegebenen Umständen jedoch nicht wollte, wurde eine Abtreibung vorgenommen. Die Bilder dieses Ereignisses in einem karibischen Hinterzimmer ließen Hilde ein Leben lang nicht los.
Solange sie sich durch ihren Mann geliebt fühlte, konnte Hilde Palm den Verlust der Heimat und des ungeborenen Kindes, die wiederholte Flucht, die Entbehrungen und Geldnöte ertragen und auch die Einsamkeit, die sie immer wieder überfiel, denn mit Kriegsende war Erwin Walter Palm oft auf Reisen. Als jedoch deutlich wurde, dass er sich in seiner Abwesenheit einer wohlhabenden Mexikanerin zugewandt hatte und diese Beziehung auch nicht zu beenden beabsichtigte, brach ihre Welt zusammen. Zeitgleich erreichte sie die Nachricht vom Tod ihrer Mutter, der sie ihr Urvertrauen und die schützende Hülle verdankte, welche ihr ein Weiterleben auch in dieser apokalyptischen Zeit ermöglicht hatte. Dieser Mantel zerriss – sie suchte nach einer Stütze und griff ins Leere.
„Als Mutter starb und es das einzige Mal im Leben war, dass ich eine Stütze gebraucht hätte, statt zu stützen, dass ich der Empfangende hätte sein müssen, da verließ er mich.“
Sie flüchtete in die karibische Bergwelt und war in dieser abgrundtiefen Einsamkeit und Verzweiflung dem Tod näher als dem Leben. In dieser bodenlosen Erschütterung fand sie Rettung im Schreiben von Gedichten. Schreiben wurde ihr zum zweiten Leben.
„Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug“, schrieb sie ihrem Bruder nach Deutschland.
Sie bezeichnete das Schreiben als Gnade, als ein Zeichen von jenem Göttlichen, von dem sie fühlte, es sei auf ihrer Seite. Ohne dieses Geschenk, dieses Wunder hätte sie nicht weiterleben können.
Nichts wünschte sich Hilde mehr, als von ihrem Mann in ihrem Schaffen anerkannt zu werden. Doch seine eigenen dichterischen Ambitionen und sein Rollenverständnis erschwerten es ihm anzuerkennen, dass seiner Frau so leicht fiel, woran er wiederholt scheiterte. Und so verließ er türenschlagend den Raum, nachdem sie ihm ihr erstes Gedicht vorgelegt hatte. Dichten sollte den Männern vorbehalten bleiben. Schrieb seine Frau dennoch, so nicht unter seinen Augen: Er verbannte sie deshalb zum Schreiben in eine „Menstruationshütte“ in die Berge, denn ihren Wunsch zu Schreiben empfand er als unrein.
Hilde sträubte sich gegen die Erkenntnis, dass ihr die Liebe ihres Mannes entglitten war. Und so nahm sie bald darauf seine Entschuldigungen an und unterwarf sich ihm selbst in dieser desolaten Situation in Demut: Sie tippte seine Manuskripte, die er ihr aus der Ferne zusandte und sie übersetzte seine Kurse, die er an der Universität von Santo Domingo zu halten hatte.
Auch als sie kurz darauf wieder schwanger wurde und die heftige Auseinandersetzung mit Erwin über das von ihm nicht gewollte Kind im Juni 1952 eine Fehlgeburt auslöste, rettete sie das Schreiben. Im Schreiben konnte sie all die Sehnsucht und den Schmerz aus sich heraus setzen und sich dem Erlebten objektiver gegenüberstellen. Und durch das wiederholte Überarbeiten und Kürzen gelang es ihr, den Gedichten das allzu Persönliche zu nehmen, die allgemein menschlichen Erfahrungen aber umso klarer herauszustellen.
Bitte
Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
Nach 22 Jahren Exil betraten Hilde und Erwin Walter Palm schließlich am 25. Februar 1954 in Bremerhaven wieder deutschen Boden. Das selbstverständliche Vertrauen, das Hilde in ihrem Elternhaus gelernt hatte, war zerstört – sowohl ihrem Heimatland, als auch ihrem Mann gegenüber. Nun wollte sie beiden eine zweite Chance geben. Sie hoffte auf „Das zweite Paradies“, wie sie auch ihren einzigen Roman betitelte.
Zunächst hatte Hilde gar nicht vor, mit ihren Gedichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Erwin hatte – mit ihrer Hilfe – Gedichte aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen und sie setzte sich nun bei Verlegern für deren Veröffentlichung ein. Bei einer solchen Gelegenheit kam die Sprache auf ihre eigenen Gedichte und sie wurde gebeten, diese vorzulegen. So kam es zunächst zur Veröffentlichung einzelner Gedichte in einer Zeitschrift unter dem Pseudonym „Domin“. Sie wollte, um sich deutlich vom Schaffen ihres Mannes abzusetzen, nicht unter dem Namen Palm veröffentlichen. Da wurde ihr geraten, sich doch nach der Insel zu benennen, auf der sie als Dichterin geboren worden war.
Zur Vorbereitung ihres ersten Gedichtbandes, der schließlich unter dem Titel: „Nur eine Rose als Stütze“ veröffentlicht wurde, verordnete sich Hilde Domin eine Klausur in der Schweiz.
Hier nahm sie viele alte Manuskripte wieder hervor und überarbeitete sie. Ihre Dichtung wurde in dieser Verknappung – wie sie es später in ihren zahlreichen theoretischen Arbeiten selbst analysierte – zu einer „Essenz des Gelebten“, die „das schicksalhafte am Privaten“ auf den Punkt bringt und zum „Gebrauchsgegenstand“ wird, den auch andere Menschen sich zu eigen machen können.
Dass dies gelang, bezeugen die zahlreichen Lesungen vor einem stark anwachsenden Publikum, die sie ab 1961 regelmäßig durchführte. Ihre Anerkennung als Dichterin in literarischen Kreisen war hart erkämpft – lange musste sie auf ihre erste Auszeichnung warten – aber die Leserschaft liebe sie von Anfang an. Und Hilde Domin las nicht nur für gebildete Kreise; immer wieder veranstaltete sie Lesungen ihrer Gedichte in Schulen und sogar in Haftanstalten.
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
Überhaupt zeichnet sich ihre zweite Lebenshälfte durch starkes politisches und soziales Engagement aus, das sich immer auf das Individuum richtete. Sie wurde nicht müde sich in öffentliche Diskussionen einzumischen und Zivilcourage zu fordern, die sie selber tagtäglich lebte. In den sechziger Jahren setzte sie sich zudem für die Bedeutung und Notwendigkeit von Lyrik ein. Adorno hatte postuliert, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei „barbarisch und unmöglich“. Dem setzte Hilde Domin entgegen: „Nein, nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ seien „Gedichte nötiger denn je.“
In Deutschland wurde Hilde Domin, gerade wegen ihrer mutigen Solidarität mit Benachteiligten und weil sie dafür brannte, die Wahrheit beim Namen zu nennen, immer wieder Ziel von rechtsradikalen Bedrohungen. Die kleine zierliche Frau ließ sich dadurch jedoch nicht bremsen – sie hatte sich längst, wenn auch mit Bedauern, davon gelöst in einem Land heimisch und sicher zu sein. Ihre Heimat war die Sprache. Sie war heimgekehrt ins Wort.
So gelang ihr 1988 auch der Abschied von ihrem Mann, der nach zwei Jahren seiner Krebserkrankung erlag und den sie im Arm hielt, als er starb. Sie hatte viel durch ihn leiden müssen, aber er war mit ihr durchs Leben gegangen. Sie fühlte sich ihm zugehörig und sie liebe ihn. Drei Monate nach seinem Tod nahm sie die Einladung einer Freundin nach Portugal an. Sie sollte in Ruhe um ihren Mann trauern können – in einem Haus auf einer Felsklippe der Algarve, hoch über dem Meer. Jeden Tag kletterte die alte Frau den steinigen Weg hinunter zum Strand und saß dort bis nach Sonnenuntergang bei den großen Steinen. Wie ein Tor zur anderen Welt erschienen ihr diese Felsen. Dort am Meer schrieb sie ihr zärtliches Abschiedsgedicht, in welchem sie sich des mythologischen Bildes von Orpheus bedient, der seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt der Verstorbenen zurückholen möchte.
Mein Herze wir sind verreist
Am 22. Februar 2006, einem klirrend kalten Wintertag, machte sich Hilde Domin im Alter von 96 Jahren auf den Weg in die Innenstadt von Heidelberg, um Handschuhe zu kaufen. Wegen der Glätte rutschte sie aus und starb noch am Abend an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs – schnell und leicht wie es ihrem Wesen entsprach.
Es kommt einem Wunder gleich, dass sie in all dem Schweren das Leichte fand, die Gnade des Lebens durch das Wort, das ihr geschenkt wurde und welches sie weitergeben konnte an ihre Mitmenschen, an uns.
Am Anfang des Johannes-Evangeliums findet sich nicht eine Schilderung des Weihnachtsgeschehens im Stall zu Bethlehem, wie bei dem Evangelisten Lukas, sondern es beginnt mit dem Prolog, einer Beschreibung des schöpferischen, lebenspendenden Wortes. Dieses Licht in der Finsternis wird uns Menschen immer neu geschenkt – das kann uns in der Weihnachtszeit besonders bewusst werden.
Prolog
Im Urbeginne war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und ein göttliches Wesen war das Wort.
Dieses war im Urbeginne bei Gott.
Durch es sind alle Dinge geworden,
und nichts von allem Entstandenen ist anders als durch das Wort geworden.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in die Finsternis;
aber die Finsternis hat es nicht aufgenommen.
(Johannes 1, 1-5)
Literatur:
Domin, Hilde: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten. Frankfurt/M.: S Fischer Verlag, 2006
Domin, Hilde: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 2006
Domin, Hilde: Gesammelte Gedichte. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 2008
Domin, Hilde: Gesammelte Autobiografische Schriften. Fast ein Lebenslauf. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 2009
Tauschwitz, Marion: Hilde Domin. Dass ich sein kann, wie ich bin. Biografie. Mainz/R: VAT Verlag André Thiele, 2012
Tauschwitz, Marion: Das heikle Leben meiner Worte. Zwanzig Gedichte Hilde Domins und ihre Geschichte. Mainz/R: VAT Verlag André Thiele, 2012
Tabea Hattenhauer,
geb. 1975, Studentin am Priesterseminar Hamburg der Christengemeinschaft im 3. Semester, wohnhaft in Hamburg-Harburg