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„Ich habe kein Land und im Grunde auch keine Sprache“
Nelly Sachs zum 125. Geburtstag
Artikel von Hans-Jürgen Bracker
Am 10. Dezember werden alljährlich in Stockholm und Oslo die Nobelpreise verliehen. Am 10. Dezember 1966, ihrem 75. Geburtstag, war Nelly Sachs die erste deutschsprachige Dichterin, die den Literaturnobelpreis erhielt.
In den Jahren der NS-Herrschaft beschäftigte sie sich mit jüdischer Mystik, aus der Kabbala bezog sie wesentliche Grundelemente ihrer Dichtung und ihrer Weltsicht. Nachdem sie 1940 nach Schweden geflohen war, ging es ihr um die Neugeburt der verlorenen Sprache, aber nicht minder auch um die Erschaffung einer neuen Welt, durch eine neu gewordene Sprache.
Vom 9.- 10. Dezember, an ihrem 125. Geburtstag, geht es in einer Tagung um das Werk der jüdischen Dichterin. (Siehe Ende dieses Artikels und Terminteil.)
Am 10. Dezember werden alljährlich in Stockholm und Oslo die Nobelpreise verliehen. Insbesondere der Literatur- und der Friedensnobelpreis stehen im Fokus des öffentlichen Interesses, mit Spannung wird jedes Jahr die Bekanntgabe der Preisträger erwartet.
Der 10. Dezember 1895 war der Todestag von Alfred Nobel, der durch die Stiftung des Preises erreichen wollte, dass sich die Menschheit an ihn als Förderer des Weltfriedens erinnere. Sein Vermögen hatte er als Produzent von Sprengstoffen (u.a. Dynamit), sowie als Besitzer eines Rüstungsunternehmens erwirtschaftet. Er hegte die Hoffnung, dass die Menschheit aus Furcht vor dem unermesslichen militärischen Zerstörungspotenzial zur Vernunft kommen und sich zum Weltfrieden durchringen werde. Er selbst hatte durch den Tod eines Bruders bei einem misslungenen Experiment schmerzlich die Wirkung seiner Erfindungen erfahren. – Die erste Preisvergabe fand am 10. Dezember 1901 statt, fünf Jahre nach seinem Tod.
„Die kleine Kinderhölle der Einsamkeit“
An diesem Tag wurde in Berlin ein Mädchen 10 Jahre alt: Nelly, die Tochter des wohlhabenden Unternehmers William Sachs. Sie wuchs als Einzelkind in einer großbürgerlichen Umgebung auf, hatte aber keine fröhliche oder einfache Kindheit („Die kleine Kinderhölle der Einsamkeit“), häufig war sie krank. Die Eltern entstammten jüdischen Familien, der Vater aus Breslau, die Mutter aus Berlin. Früh begann Nelly zu dichten; mit 15 Jahren las sie Selma Lagerlöfs Roman „Gösta Berling“, der sie animierte, der verehrten schwedischen Dichterin zu schreiben, die ihr zum „leuchtenden Vorbild“ wurde. Ihr schickte sie ihre ersten Schreibversuche, und sie sollte Jahrzehnte später entscheidend beitragen zur Erteilung der schwedischen Einreisebewilligung. 1909 wurde Selma Lagerlöf als erster Frau der Literaturnobelpreis zuerkannt. Auch mit Hermann Hesse korrespondierte Nelly in ihrer Jugend, dem Literaturnobelpreisträger von 1946.
Die erste deutschsprachige Dichterin, die den Literaturnobelpreis erhielt.
Am 10. Dezember 1948 wurde in New York von der UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Der 10. Dezember ist daher auch der „Tag der Menschenrechte“. 18 Jahre später – am 10. Dezember 1966, ihrem 75. Geburtstag – war Nelly Sachs die erste deutschsprachige Dichterin, die den Literaturnobelpreis erhielt, gemeinsam mit dem Hebräisch schreibenden israelischen Autoren S. J. Agnon, dem aus Galizien stammenden und tief in der chassidischen Tradition seiner Heimat verwurzelten Freund Martin Bubers.
In Nellys Jugend spielte die jüdische Religion kaum eine Rolle. Ihre ersten literarischen Produktionen haben hingegen teilweise christlich-legendenhaften Inhalt. Sie beschäftigte sich kaum mit moderner Dichtung, wohl aber mit Rilke, Hölderlin und Novalis, über den sie Vorlesungen hörte. Eine unglücklich-tragische Liebesbeziehung durchzog ihr Leben seit ihrem 17. Lebensjahr; die unmögliche Verbindung zu dem verheirateten Mann, dessen Identität sie nie preisgab, ist eine ihre spätere Dichtung prägende leidvolle Erfahrung. Sie erfuhr noch vor ihrer Emigration von seinem „Opfertod“ in einem KZ, als Gegner des Naziregimes.
Sprache und Inhalte Martin Bubers werden prägend für ihre spätere Dichtung.
Nachdem sie sich zuvor mit Jakob Böhme und anderen christlichen Mystikern aus Schlesien befasst hatte (u.a. Angelus Silesius), begann sie sich in den Jahren der NS-Herrschaft mit jüdischer Mystik zu beschäftigen; sie liest Bubers „chassidische Bücher“ und die Buber-Rosenzweigsche Neuübersetzung des Buches Jesaja. Sprache und Inhalte Bubers werden prägend für ihre spätere Dichtung. – Nach früheren Veröffentlichungen einzelner Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften publizierte sie Ende der 1930er Jahre auch im „Morgen“, der Zeitschrift des „Jüdischen Kulturbundes.
Mit einem der letzten Flugzeuge Deutschland in Richtung Schweden verlassen.
Nach dem Beginn des Weltkriegs im September 1939 wurde die judenfeindliche Nazipolitik immer bedrohlicher. Viele jüdische Menschen hatten bereits vorher Deutschland verlassen, auch Freunde, Verwandte und Bekannte der Familie Sachs (ihr Vater war bereits 1930 gestorben), viele aber waren geblieben – bis es zu spät war. Nellys Freundin Gudrun Harlan (später verh. Dähnert) war noch im Juni 1939 unter hohem Risiko nach Schweden gereist und hatte mit Hilfe der hochbetagten Selma Lagerlöf und eines Bruders des schwedischen Königs die Aufenthaltsbewilligung („Affidavit“) für Nelly und ihre Mutter erwirkt, deren Zustellung durch die schwedische Botschaft in Berlin aber quälend lange auf sich warten ließ. Am 16. Mai 1940 endlich können beide Frauen mit einem der letzten Flugzeuge Deutschland in Richtung Schweden verlassen, nachdem bereits der auf dasselbe Datum festgesetzte Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager eingetroffen war. – Selma Lagerlöf war unterdessen am 16. März 1940 verstorben.
Hier entstand ihr Werk, welches eine Wiedergeburt der verlorenen Sprache ist.
Im Stockholmer Exil hörte Nelly Sachs nach und nach vom Leid und der Not derjenigen, die nicht hatten entkommen können, später auch Nachrichten über die systematische Ermordung in den NS-Vernichtungslagern. Ihre kleine Ein- (später dann Zwei-)zimmerwohnung befand sich in einem Wohnblock (Bergsundsstrand 23) in einem Arbeiterviertel; hier lebte sie mit ihrer immer pflegebedürftiger werdenden Mutter, die sie aufopferungsvoll bis zum Tod 1950 betreute. Hier entstand ihr Werk, welches eine Wiedergeburt der verlorenen Sprache ist – auch ihrer, der deutschen Sprache.
Und das Sinken geschieht um des Steigens willen
Buch Sohar
Nelly Sachs bezog aus der Kabbala wesentliche Grund-elemente ihrer Dichtung und ihrer Weltsicht.
Nelly Sachs bezieht in ihre Dichtung die Kabbala mit ein, die jüdische Esoterik, wie sie vor allem im Sohar niedergelegt ist, dem „Buch des Glanzes“, das im Mittelalter in Spanien aufgeschrieben wurde. Eine Blüte erfuhr die Kabbala im 16. Jh. durch Isaak Luria, der in Galiläa lebte und lehrte. Über ihn, seine Schüler und den Buchdruck fanden kabbalistische Lehren weite Verbreitung – und wurden durch den Baal Schemtow, den Begründer der Volksbewegung des Chassidismus, im 18. Jh. besonders im osteuropäischen Judentum populär. Die Kabbala wurde allerdings auch bekämpft und als Ketzerei abgetan. Nelly Sachs hingegen bezog aus ihr wesentliche Grundelemente ihrer Dichtung und ihrer Weltsicht; und dies nicht im Widerspruch zu ihrer früheren Böhme- und Novalis-Rezeption. Gerade Böhme gründete in seiner Theosophie stark auf kabbalistischen Ideen. Seine Lehre vom „Ungrund“ (bezieht sich auf das „En Sof“, das Unendliche, das nicht fassbare Wesen Gottes), regte sie stark an, ebenso die chassidische Lehre von den „Funken“ des göttlichen Urlichts, die in der ganzen Schöpfung zu finden sind und die vom Menschen [als Mitarbeiter Gottes an der Vollendung der noch unvollendeten Schöpfung] in der irdischen Welt von ihren „Schalen“, in denen sie gefangen sind – selbst im bösesten Menschen –, befreit werden müssen. Gemäß dem Chassidismus hat der Mensch die Aufgabe, die Trennung zwischen den zwei Welten (der „unteren“ und der „oberen“) zu überwinden. Wesentlich ist auch der Gedanke, dass Gott angewiesen ist auf die Mitarbeit des Menschen; und dass die Taten und Nichttaten der Menschen Auswirkungen haben, selbst auf Gott: eine beiderseitige Wechselwirkung. Und das Sinken geschieht um des Steigens willen – diese Worte stellt sie als Motto einem ihrer Gedichte voran [s. vorige Seite].
Eine auf der Kabbala und dem Chassidismus gegründete Ethik.
Im Werk der Nelly Sachs spricht sich eine auf der Kabbala und dem Chassidismus gegründete Ethik aus, die in der Rettung eines Menschenlebens die Rettung der ganzen Welt erkennt; eine Ethik, die im geringsten Gedanken an Rache eine Verschlechterung der Welt sieht („Auf dass die Verfolgten nicht Verfolger werden“ heißt ein 1949 entstandenes Gedicht). In ihrer Beschäftigung mit dem Sohar („Steiner ist davon ausgegangen.“ schreibt sie Ende 1950 an ihre Freundin Gudrun) stützt sie sich v.a. auf Gershom Scholems Buch „Die Geheimnisse der Schöpfung“; aber auch „Der Sohar und seine Lehre“ des Anthroposophen Ernst Müller kannte sie. Im Sohar findet sich die Lehre von der Schöpfung der Welt durch die Buchstaben, ein Thema, das essentiell für Nelly Sachs wurde, ging es doch in ihrer Dichtung um die Neugeburt der verlorenen Sprache, des verlorenen Alphabets, aber nicht minder auch um die Erschaffung einer neuen Welt, durch eine neu gewordene Sprache. – Das Symbol für die neue Welt an Rosch Haschana (dem jüdischen Neujahrsfest, das gleichzeitig eine neue Schöpfung feiert) ist das dreimalige Blasen des Schofars, des kultischen Widderhorns.
Müllers Jerusalemer Freund S. Hugo Bergmann – Freund und Kenner der Anthroposophie – verbrachte 1947/48 ein Jahr in Stockholm, wo ihm die Betreuung der jüdischen Gemeinde oblag. Mit ihm korrespondierte Nelly Sachs intensiv über Fragen, für die sie in Stockholm kaum Gesprächspartner hatte: über den gerade gegründeten Staat Israel, den Sohar, die chassidische Lehre. Ihm gegenüber formuliert sie, Bergmanns Freund Buber zustimmend: „warum sollte […] nicht Christus als die Blume unserer Propheten gelten.“ Bubers Ich-Du-Philosophie, das Dialogische – im Verhältnis von Mensch zu Mensch, aber gerade auch von Gott und Mensch –, ist tief in die Dichtung der Nelly Sachs eingeflossen. Buber selber kannte früh durch Bergmann ihre Dichtung; er sandte ihr ein Exemplar seiner „Tales of the Hasidim“.
Das für Nelly Sachs so lebenswichtige Gespräch führte sie wesentlich in ihrer umfangreichen Briefkorrespondenz. Diese belebte sie; sie war im Austausch mit jungen Dichtern; viele hatten selber ein jüdisches Schicksal von Flucht und Verfolgung durchgemacht (Paul Celan, Hilde Domin, Ilse Aichinger); andere Briefpartner waren u.a. Ingeborg Bachmann und H.M. Enzensberger, der ihre Werke bei Suhrkamp herausgab. Schwedische Dichterfreunde (die sie für den Nobelpreis vorschlugen), deren Werke sie übersetzt hatte, wie auch umgekehrt, gehörten dazu, auch der Komponist Moses Pergament, dessen aus Berlin stammende Frau Ruth und weitere Freunde. Sie alle hatten (aufgrund paranoider Zustände, in denen Nelly Sachs in Freunden Gegner erblickte) auch schwere Zeiten mit ihr durchzumachen; nach ihrem ersten Wieder-Besuch Deutschlands 1960 war sie mehrfach für längere Zeit in psychiatrischer Behandlung.
Nachdem ihr als erster Frau 1965 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels zuerkannt worden war, machte schließlich der Nobelpreis 1966 ihr Werk zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Weltliteratur. Durch ihre Autorengelder war sie inzwischen wirtschaftlich nicht mehr in Not, und so ließ sie die Hälfte des Preisgeldes karitativen Zwecken zufließen; die andere Hälfte dachte sie ihrer in der DDR lebenden Freundin Gudrun zu. Diese bescheidene wie noble Haltung entsprach ganz dem Geiste Alfred Nobels. [Nur nebenbei sei bemerkt, dass 1966 kein Friedensnobelpreis vergeben wurde.] Vielleicht darf man sagen, dass der Nobelpreis der Nelly Sachs, den die zierliche, nur 1,53 Meter große Dame vor genau 50 Jahren, an ihrem Geburtstag, dem Tag der Menschenrechte 1966, vom schwedischen König entgegennehmen durfte, auch den Glanz und die Farbe des Shalom – des Friedens – an sich hat.
Nelly Sachs starb 78jährig am 12. Mai 1970 in Stockholm an den Folgen einer Krebserkrankung. Am selben Tag wurde in Paris Paul Celan begraben, ihr Dichterfreund und -bruder, von dessen Tod sie noch erfahren hatte.
Weiterführend:
Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Berlin 2010/11.
Gabriele Fritsch-Vivié: Nelly Sachs (rm 496), Reinbek 1993.
Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1991.
Peter Selg: „Alles ist unvergessen“ Paul Celan und Nelly Sachs. Dornach 2008.
„Ich habe kein Land und im Grunde auch keine Sprache“
Nelly Sachs zum 125. Geburtstag
Tagung (9.-10.12.2016) des Colloquium zu den Schönen Wissenschaften im Rudolf-Steiner-Haus, Mittelweg 11-12, 20148 Hamburg. Veranstaltung der Anthroposophischen Gesellschaft, Zweig am Rudolf-Steiner-Haus, in Kooperation mit der Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, Dornach/Schweiz. Siehe Terminteil
Autor:
Hans-Jürgen Bracker, geboren 1961 in Berlin, aufgewachsen in Schleswig-Holstein. Besuch der Waldorfschule Rendsburg. Zivildienst, Studium und erste Arbeitsstellen im Ruhrgebiet. 6 Jahre Redakteur der Zeitschrift NOVALIS in Schaffhausen. Arbeitet als Heilpädagogischer Waldorflehrer in der Nähe des Bodensees.