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Jede Erziehung ist Selbsterziehung
mein Kind und mich selbst verstehen lernen
Interview mit Dr. med. Susanne Bischoff, Kinderärztin
„Eltern sind manchmal einsam. Der Alltag mit komplexen Anforderungen führt oft zu Grenz- und Überforderungssituationen. Man fühlt unbewusst den Anspruch, möglichst perfekt zu sein und möchte alles so gut wie nur möglich machen. Dies führt zu einem Leistungsdruck und damit zu noch mehr Stress. Aber kein Kind will perfekte Eltern oder vollkommene Bedingungen haben. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir uns selbst in unserer Unvollkommenheit akzeptieren und gemeinsam die Liebe leben.“
Das Interview basiert u. a. auf Vorträgen und Elternkursen von Frau Dr. med. Susanne Bischoff, die im ersten Halbjahr 2013 in der Familien-Lebensschule Ahrensburg stattfanden: „ Elternkurs“ „Manchmal kann ich nicht mehr“ „Kraftquellen finden“.
Interviewpartnerin: Dr. med. Susanne Bischoff, verheiratet, 2 Enkelkinder. Beginn der medizinischen Ausbildung als Allgemeinärztin, dann Fachärztin für Pädiatrie; Ausbildung zur Psychotherapeutin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche; ab Beginn des Studiums erlernen der Anthroposophischen Medizin, seit einigen Jahren auch anthroposophische Psychotherapie. Vor 20 Jahren Gründung einer Kinder- und Jugendärztlichen Praxis; Fortbildungen für Eltern, Lehrer, Ärzte und TherapeutInnen; 7 Jahre Heimärztin im Vogthof; 15 Jahre Schulärztin an der Christophorus-Schule; vor 6 Jahren Gründung der Familien-Lebensschule, eines gemeinnützigen Vereins und des Therapeutikums, sowie Gründung des Familien-Gesundheitszentrums Ahrensburg zusammen mit Dr. Stefan Smidt-Begemann, Kinder-und Jugendarzt und Gisela Fulda-Peiler, anthroposophische hausärztliche Internistin.
„Die Familienlebensschule und das Therapeutikum sind begründet worden als notwendige Ergänzung der kinderärztlichen Arbeit, um Eltern und Kindern einen Raum zu ermöglichen, in dem sie Fähigkeiten im Umgang miteinander entwickeln können, die gemeinsame Zeit genießen und sich aneinander freuen, sich mit anderen austauschen, die vielen kleinen individuellen Entwicklungsschritte wahrnehmen lernen. Sie können sich selbst und das Kind in seiner Entwicklung und in Grenzsituationen verstehen lernen, und dadurch entstehen neue Handlungsmöglichkeiten wie von selbst. Unser Leitbild ist: wahrnehmen üben, verstehen lernen, entscheiden können, gemeinsam wachsen. Jeder ist der Experte seines eigenen Kindes, wenn er die in ihm schlummernden Fähigkeiten weckt. Wir wollen Entwicklungsbegleiter für die Kinder und Eltern sein.“
C. P.: In welcher Situation befinden sich heute Eltern?
Dr. med. Susanne Bischoff: In meiner 20-jährigen Praxis als Kinder- und Jugendärztin und Psychotherapeutin hat sich viel verändert. Oft gibt es keine Großeltern in der Nähe, die die Eltern entlasten könnten, oder sie sind selbst noch im Beruf. Der Lebensdruck und die Zukunftsunsicherheit mit den beruflichen Anforderungen sind stärker; Freunde mit ähnlichen Einstellungen zu finden ist manchmal schwerer.
Viele Eltern beurteilen die Entwicklungsschritte ihrer Kinder nach bestimmten, vorgegebenen Zeitfenstern und vergleichen diese mit der Entwicklung anderer Kinder, immer ein wenig mit der sorgenvollen Frage: Ist mein Kind normal entwickelt? Die Einschulung erfolgt früher. Man stellt sich die Frage: Werden die Fähigkeiten reichen, damit mein Kind die Schule gut bewältigen kann? Auch lebt es wenig in unserer Gesellschaft, dass man mit akuten, unkomplizierten Krankheiten als notwendigen Entwicklungsmöglichkeiten umgeht, für die man als Eltern viel Zeit und Kraft braucht und von der Arbeit so lange freigestellt werden muss, bis das Kind gesund ist.
man fühlt unbewusst den Anspruch, möglichst perfekt zu sein
So sind Eltern manchmal einsam. Der Alltag mit komplexen Anforderungen führt oft zu Grenz- und Überforderungssituationen. Man fühlt unbewusst den Anspruch, möglichst perfekt zu sein und möchte alles so gut wie nur möglich machen, traut sich oft nicht nach Beratung oder Hilfe zu fragen, um sich keine Blöße zu geben. Dies führt zu einem vermehrten Leistungsdruck und damit zu einem Teufelskreislauf, der das Stressniveau erhöht. Aber kein Kind will perfekte Eltern oder vollkommene Bedingungen haben – das Kind sucht sich die Eltern und die Bedingungen aus. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir uns selbst in unserer Unvollkommenheit und auch unvollkommene Bedingungen akzeptieren und die Liebe gemeinsam leben.
mit dem ersten Blick öffnet sich ein weiter Raum
Christine Pflug: „Die Liebe gemeinsam leben“. Ist es das, auf was es bei einem kleinen Kind vor allem ankommt?
Dr. med. S. Bischoff: Die Liebe ist eine große Kraftquelle – sie ist immer da. Sie fängt an mit dem Bewusstsein schwanger zu sein, mit der Vorfreude, dann kommt die Geburt und dann der erste Blick des Kindes. Mit diesem ersten Blick öffnet sich ein weiter Raum, in den man wie in eine höhere Welt hineinschaut und – vielleicht auch unbewusst – wie umfangen wird von dem, was das Kind mitbringt. Von diesem ersten Blick ist man tief innerlich berührt, und damit wird diese Quelle der Liebe freigelegt.
Sie wird dann oft überschüttet durch überfordernde Situationen im Alltag. Manchmal weiß man nicht, wie man die Bedürfnisse des Kindes einschätzen soll. Um das zu können, ist es wichtig, sich nicht nur auf die Geburt, sondern auch auf das Kind vorzubereiten. Das bedeutet, dass man sich selbst ein wenig kennen muss, z. B. welche Bedürfnisse man selbst hat. Kann ich Hunger und Durst oder auch Wärme spüren? Merke ich, wann ich ruhebedürftig bin?
C. P.: Manche Menschen wissen gar nicht, was und wie sie das spüren sollen. Wie können sie das lernen?
Dr. med. S. Bischoff: Man kann auf die Suche danach gehen – das ist ein Lernprozess. Beispielsweise merkt man zumindest die Müdigkeit. Dann sucht man den Punkt vor der Müdigkeit, wo man spürt, dass sie kommt. Den wird man immer finden. Er ist ganz besonders wichtig, weil die Kinder oft anfangen zu weinen, nicht weil sie Bauchschmerzen oder Hunger haben, sondern weil sie müde sind. Wenn man das beim Kind erkennt, schon ein wenig bevor die Müdigkeit kommt, kann man auch sehen, dass es jetzt wichtig ist, das Kind schlafen zu legen. Und so kann man dann eher einen Rhythmus finden.
„Wie umhülle ich mein Kind körperlich und seelisch?“
Ein Beispiel aus meiner Praxis: Eine Mutter hatte mit ihrem eigenen Kind eine sehr traumatische Geburt hinter sich. Sie war selbst ein eher ängstlicher Mensch. In der Schwangerschaft traten Komplikationen auf. Nach der Geburt war sie wie „ausgedünnt“, auch seelisch. Sie hatte sich sehr an dem Kind erfreut, hatte aber kaum noch Kraft. Das Kind schrie und schrie und schrie, weil es diesen Stress während der Schwangerschaft mitbekommen hatte und auch ein Nerven-Sinnes-Kind war. Die Mutter selbst vergaß wegen der Aufregung zu essen und zu trinken, dann wurde ihre Milch weniger. Wir fingen an, sie zu begleiten, und es ging zunächst darum, dass die Mutter versorgt wurde – in dem Fall vom Vater. Das ging hin bis zu Körpereinölungen, damit sie sich wieder wohl fühlte. Genauso ging es dann weiter mit dem Kind: „Wie umhülle ich mein Kind körperlich und seelisch? Wie führe ich jetzt einen Rhythmus ein? Wie erkenne ich den Hunger, die Müdigkeit, die Bauchschmerzen möglichst schon ein wenig vorher, damit ich dem entgegenwirken kann? Wann erweitert mein Kind seine Grenzen, d. h. wann kann ich es ein wenig früher hinlegen, oder muss es noch getragen und gehalten werden?“
C. P.: Demnach werden die Väter auch stark miteinbezogen?
Dr. S. Bischoff: Selbstverständlich! Das gilt für sie genauso wie für die Mütter. Die positive Signatur der heutigen Familien ist die, dass Väter viel mehr involviert sind. Oft entsteht beim Kind, bereits schon beim Baby, zu beiden Elternteilen eine gleich starke Bindung. Die Väter fühlen sich heute stärker verantwortlich und lernen, sich in einen Säugling hineinzuversetzen.
C. P.: Sie sagen: „Nur eine Mutter, der es einigermaßen gut geht, kann auch für ihr Kind da sein.“ Das ist theoretisch völlig einsichtig. Wenn aber eine Mutter drei bis vier Kinder hat, ist das schwierig zu realisieren. Was geben Sie solchen Menschen mit auf den Weg?
ohne dass alle oft schreien und weinen, war das Familienleben kaum möglich
Dr. S. Bischoff: Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Eine Mutter hat drei Jungen, alle sind äußerst unterschiedlich. Einer von den Söhnen verhält sich so, dass er das gesamte Familienleben immer wieder durcheinanderbringt, weil er sich von allen schnell bedroht fühlt, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen verläuft. Die Mutter hat – wie geschildert – den Anspruch an sich, die Erziehung sehr gut machen zu wollen, scheitert immer wieder und fühlt sich dann schuldig. Ohne dass alle oft schreien und weinen, ist das Familienleben kaum möglich. Die erste Maßnahme war, dass sie sich in ihrer Unvollkommenheit annehmen konnte – „Ich muss nicht perfekt sein, ich darf mittelmäßig sein“. Ich vermittelte ihr, dass es nicht in erster Linie darum geht, das Schreien zu vermeiden; wenn man erst einmal losgeschrien hat – dann ist es zunächst wichtig, dies zu akzeptieren. Sie sollte dann auf die Suche gehen, ob es noch andere Verhaltensmöglichkeiten gibt. Speziell in dieser Familie waren alle Kinder in einer unterschiedlichen Entwicklungsphase, und es war wichtig, darauf zu achten, an welchem Punkt das jeweilige Kind stand. Das dreijährige Kind machte gerade die Wutphase durch. Der Ältere ging in Richtung Zahnwechsel und war von daher sehr sensibel, hatte viele Stimmungsschwankungen; außerdem war er ein Nerven-Sinnes-Kind, dem alles schnell sehr nahe ging. Der Kleine lief erstmal quasi so mit, störte aber die Geschwister, weil er alles kaputt machte. Insofern war die Frage: Was ist bei dem einzelnen Kind gerade dran? Der Mittlere musste seine Wutphasen haben dürfen, und es war wichtig zu wissen: „Wenn er wütet, ist er in sich gefangen, aber er will mich damit nicht angreifen. Wenn er tut, was ich nicht möchte, hat das nichts mit mir zu tun.“ Viele Eltern fühlen sich dann angegriffen und betrachten ihr Kind wie einen Partner, argumentieren mit ihm, appellieren an die Vernunft etc. In Rollenspielen finden die Eltern aber heraus, dass das Kind gar nichts mehr hört, es möchte einfach nur durchsetzen, was es haben will. Wenn man sich da einen Augenblick zurücknimmt, beruhigt und sagt: „Du darfst deine Wut haben, darfst verzweifelt sein, weil es für Dich schwierig ist nicht das zu bekommen, was du möchtest“, dann kann man dem Kind zutrauen, da hindurchzugehen und hinterher ist es wie ein Gewitter vorbei. Wichtig ist, sich in sich selber einzufühlen und sich zuzugestehen, dass einen das zur Weißglut bringt; dann sich in das Kind einzufühlen, spüren, welche Distanz das Kind jetzt zu einem braucht, ob man in der Nähe bleiben soll oder z.B. in ein anderes Zimmer gehen soll. „Wenn Du dich ausgeweint hast, kannst Du gerne wieder kommen.“ Da es das Alter der Nachahmung ist, wird das Kind irgendwann kommen, und es ist dann wichtig, dass das Kind getröstet und in den Arm genommen wird, weil es ja selbst nicht weiß, wie es zu diesem Gewitter gekommen war. Das Kind im ersten Jahrsiebt braucht immer das Gefühl: egal was war – jetzt ist es wieder gut.
Wutausbruch im Supermarkt
C. P.: Wenn solch ein Wutanfall aber im Supermarkt passiert, ist das megapeinlich …
Dr. med. S. Bischoff: Einerseits ja – aber es gibt keine Peinlichkeit: Jeder von uns hat diese Phase gehabt und das gehört zum Leben.
Die übliche Reaktion bei einem Wutanfall ist die, dass man in einen Wettkampf eintritt, um peinliche Situationen zu vermeiden. Man erfüllt dann – im Supermarkt – den Wunsch, oder bei den Eltern kommt Hilflosigkeit und Ohnmacht hoch, was ja die Rückseite ihrer eigenen Wut ist. Wenn man dem Kind den Wunsch erfüllt, lernt es: Ich werfe mich auf den Boden, und dann kriege ich immer, was ich will. Oder man erfüllt den Wunsch nicht, wird innerlich sehr angespannt und bestraft das Kind. Die dritte Möglichkeit ist, dass man minutenlang argumentiert – das wirkt auch nicht. Die Lösung besteht darin, dass man in sich selber spürt: „Es ist wirklich unangenehm – aber es macht nichts“, und dann fühlt man sich in das ein, was das Kind gerade erlebt. Es ist in sich gefangen, weiß nicht, was es machen soll; es will mich nicht angreifen, sein Verhalten hat mit mir gar nichts zu tun. Man begleitet es innerlich dabei, dass es diesen Kampf jetzt auch ausleben darf.
Wichtig in solchen Situationen ist auch, dass man lernt, die eigene Wut und Peinlichkeit auszuhalten.
C. P.: Das muss man sich aber vorher richtig vornehmen!?
Dr. S. Bischoff: Es wäre schön, wenn man darauf vorbereitet wäre. Und das kann man nur, wenn man die eigenen Reaktionsweisen versteht, die oft mit der eigenen Kindheit zu tun haben. Das, was meine Eltern mit mir gemacht haben, sitzt tief in mir drin, und so reagiere ich unbewusst. Wenn man zuordnen kann, was man von den eigenen Eltern übernommen hat, kann man auf die Suche gehen, wie man es selbst machen möchte. Die andere Vorbereitung liegt darin, dass man die Entwicklungsphasen und die Konstitution der Kindes versteht: was braucht mein Kind?
Zusammenfassend möchte ich an einem Beispiel deutlich machen, worauf es im ersten Jahrsiebt ankommt. Bei einem Elternabend „Manchmal kann ich nicht mehr“ ging es um die kindliche Entwicklung. Alle Eltern waren sehr erschöpft und angespannt, weil sie ihre Kinder optimal auf das Leben vorbereiten wollten. Als sie dann gehört hatten, was im ersten Jahrsiebt passiert, fasste das eine Mutter zum Schluss so zusammen: „Wenn es nur ums Wachsen und Spielen geht und nicht um Leistung, dann muss ich selbst gar nichts leisten und kann mich ja vollkommen entspannen. Dann darf ich ja auch mittelmäßig sein.“ Das fand ich exemplarisch.
„Woher komme ich? Was passiert nach dem Tod? Seid ihr meine richtigen Eltern?“
C. P.: Im zweiten Jahrsiebt gibt es im Alter von ca. 9 2/3 eine Krise, der sog. Rubikon. Was ist das und was passiert da?
Dr. S. Bischoff: Das zweite Jahrsiebt steht unter dem Motto „Die Welt ist schön“. Die Kinder haben Freude, etwas zu gestalten. Sie identifizieren sich ganz mit ihrem Lehrer und auch mit ihren Eltern. Dann kommt ein Einbruch, wo ein tiefes Gefühl sagt: „Ich bin doch ein ganz eigener Mensch, ich bin anders als die anderen.“ Das findet oft unbewusst statt und führt zu einem Einsamkeitsgefühl und zu einer Verunsicherung. Bei vielen Kindern merkt man es nicht, sie ziehen sich ganz leise ein bisschen zurück, andere Kinder haben Stimmungsschwankungen, die oft mit einer richtigen Pubertät verwechselt werden. Die Kinder stellen Fragen wie zum Beispiel: „Woher komme ich? Was passiert nach dem Tod? Seid ihr meine richtigen Eltern?“ Nicht wenige Kinder entwickeln große Ängste, die fast psychiatrisch werden können. Sie wollen nicht mehr in die Schule, können nicht mehr alleine im Zimmer sein, können nachts nicht schlafen. Es kommen für die Eltern sehr erschreckende Sätze: „Wenn du stirbst, will ich auch sterben.“ Zum ersten Mal beschäftigen sie sich mit dem Tod und der Unendlichkeit. Rudolf Steiner sagt, dass es eigentlich der am meisten tief greifende Einschnitt in der Entwicklung ist, und es geht darum, das besonders liebevoll zu begleiten. Wenn vorher ein schrittweises Loslassen, Vertrauen, Zutrauen notwendig war, ist jetzt wieder mehr Umhüllung dran – in dem Vertrauen, dass das Kind diese Angst bewältigen wird und mit der Haltung: „Ich mute dir jetzt zu, eine bestimmte Sache ein wenig zu üben, mit meiner Hilfe.“ Beispielsweise mögen manche Kinder nicht mehr einkaufen gehen. Dann bleibt man ein Stück im Hintergrund, und lässt das Kind selbst einkaufen. Die eigene positive Überzeugung, dass das Leben einen tiefen Sinn hat, wirkt tief in die Seele der Kinder hinein und hilft ihnen, diese Klippe zu überwinden.
C. P.: Und wenn sie nicht mehr in die Schule wollen?
Dr. S. Bischoff: Dann braucht es wirklich Beratung für das Kind und für die Eltern. Man geht in kleinen Schritten vor und begleitet das Kind therapeutisch, z. B. mit Kunsttherapie. Auch da ist es wichtig, dass die Eltern das Kind nicht mit Angst begleiten, sondern mit tiefem Vertrauen.
C. P.: Manchmal haben die Eltern aber eine berechtigte Angst, z. B. die Arbeit zu verlieren, die Existenz gefährdet zu sehen, sie machen eine Scheidung durch und wissen nicht, wie es weiter geht etc. Auch ist es in Biografien so, dass gerade zu diesem Zeitpunkt im Leben durch ein äußeres Ereignis eine Erschütterung kommt. Wie wirkt sich das auf das Kind im Rubikon aus?
Dr. S. Bischoff: Für die Eltern ist es wieder wichtig sich zuzugestehen, dass man selbst Angst hat und dass das sein darf, man sich aber nicht von ihr beherrschen lassen darf.
Beispielsweise ist es bei einer Trennung der Eltern so, dass die Kinder oft vorher Schwierigkeiten haben, wenn es in der Ehe unausgesprochene Probleme gibt. Wenn die Eltern sich dann trennen und dem Kind vermitteln, dass es keine Schuld hat und dass sie gewillt sind, weiter miteinander zu sprechen, ist das oft nicht so schlimm. Manchmal wirken die Kinder wie befreit, jedenfalls in dieser Altersstufe. Auch da kommt es nicht darauf an, Belastungen zu vermeiden, sondern die Art und Weise, wie man damit umgeht, wahrhaftig und mit Vertrauen, ist entscheidend.
Natürlich müssen die Eltern für sich auch Unterstützung holen, damit die Kinder nicht erleben, dass sie für die Eltern da sein müssen und in eine partnerschaftliche Rolle gedrängt werden. Davor müssen sie geschützt werden.
C. P.: Welche Krisen gibt es im dritten Jahrsiebt? Ist es so, dass Mädchen manchmal „zickig“ werden und Jungen nicht reden?
Dr. S. Bischoff: Die Mädchen beschäftigen sich mehr damit, was die Umwelt über sie denkt. Die Beziehungsgestaltung wird enorm wichtig, deshalb auch das viele Chatten. Die Jungen werden sich selber zum Rätsel und ziehen sich eher zurück oder sie haben Gefühlsausbrüche.
Ich habe dazu ein Praxisbeispiel aus der psychotherapeutischen Arbeit. Ein vierzehnjähriges Mädchen lebt mit ihrer Mutter, die vom Vater getrennt ist. Sie fühlt sich von ihrem Vater nicht mehr akzeptiert, meint, dieser bevorzuge die ältere Schwester. Es gibt mit der Mutter ständige Diskussionen über die Zeit und den Umfang des Chattens. Wenn die Mutter nicht mehr weiter weiß, schickt sie das Mädchen einfach aufs Zimmer und setzt sich mit ihr nicht mehr auseinander. Das Mädchen hatte sich dann ganz zurückgezogen, sprach nicht mehr mit der Mutter, wollte nicht mehr in die Schule gehen und auch nicht mehr zum Vater. Es wurde deutlich, dass sie dadurch, dass sie in Konfliktsituationen ins Zimmer geschickt wurde, sich total einsam fühlte und von allen nicht mehr geliebt. Sie kam ganz depressiv in meine Praxis und ich dachte, es wird ein schweres Problem werden. Wir haben nur herausgefunden, dass sie sich in dieser Situation von aller Welt verlassen fühlte. Es war wichtig, dass sie in Zukunft bei der Mutter bleiben darf. Die Mutter kam dann auch in meine Praxis, und es stellte sich interessanterweise heraus, dass sie in ihrer eigenen Pubertät auch immer weggeschickt wurde und sie nie gelernt hatte, Konflikte auszutragen. Sie liebten sich tief, die Mutter war hilflos, das Mädchen fühlte sich einsam und wollte den Kontakt haben. Beide bekamen die Aufgabe, bei Auseinandersetzungen zusammenzubleiben. Die Tochter darf bleiben, darf schreien, die Mutter darf auch laut werden – aber sie sollen sich auseinandersetzen, sich in die Gefühle des Anderen hineinversetzen und ein Verständnis für die gegenseitigen Bedürfnisse entwickeln. Nach einiger Zeit kam das Mädchen wieder zu mir und war völlig verändert: Sie strahlte, sie ging zur Schule, besuchte wieder den Vater. Sie fühlte sich von ihrem Vater immer noch nicht akzeptiert, sagte aber strahlend: „Ich habe ja meine Mama.“ Beide hatten Tränen in den Augen.
Es war wieder das zentrale Grundthema: Ich lerne mich selber zu verstehen und mein Kind in seiner Entwicklungsphase und dadurch erweitere ich meine eigenen Grenzen. Damit ermögliche ich meinem Kind, dass es mit seinen Entwicklungsknotenpunkten und Einseitigkeiten umgehen kann.
Familien-Lebensschule Ahrensburg e.V.,
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