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Karma neu denken
Interview mit Dr. Jens Heisterkamp, Redakteur, Verleger, Buchautor
Der Gedanke des Karmas stammt ursprünglich aus östlichen Religionen. Inzwischen ist er aber bei uns populär bis in die Alltagssprache hinein, in Kinofilmen tauchen Reinkarnationsmotive auf etc. Auch wird er mitunter fälschlicherweise zu irrationalen Ideen, Spekulationen über letzte Leben usw. benutzt. Was aber ist Karma, so wie Rudolf Steiner es beschrieben hat? In jedem Fall ist es ein komplexes Thema, bei dem viele Aspekte und Dimensionen miteinbezogen werden müssen und wo wir noch am Anfang des Verstehens sind.
Interviewpartner: Dr. phil. Jens Heisterkamp studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist seit vielen Jahren als Redakteur und Verleger im Info3 Verlag in Frankfurt am Main als Redakteur und Verleger tätig. Er ist Autor des Buches „Karma neu denken – Wiederverkörperung und Schicksal als Herausforderung für die Vernunft“. Im Juni hielt er einen Vortrag zu diesem Thema im Rudolf Steiner Haus Hamburg.
C. P.: Wieso ist gerade jetzt das Thema so aktuell?
Dr. Jens Heisterkamp: Ich bin gar nicht so sicher, ob das Thema derzeit besonders aktuell ist. Über Reinkarnation und Karma nachzudenken gehört ja eigentlich mehr zu den eher zeitlosen Fragen, die sich uns stellen können, meist dann, wenn wir zum Beispiel durch einschneidende Erlebnisse im eigenen Leben oder auch durch einen Hinweis von außen darauf aufmerksam werden, dass es so etwas wie Karma geben könnte. Und doch hat es eine gewisse, auch etwas zweifelhafte Aktualität für dieses Thema in den Jahren der zurückliegenden Corona-Maßnahmen gegeben. Da haben manche Einzelpersonen und Organisationen Anlässe gesucht, Anthroposophen in einem schlechten Licht dastehen zu lassen, weil ein Teil der Anthroposophenschaft den staatlich verhängten Maßnahmen kritisch gegenüberstand – wie man übrigens inzwischen deutlicher sieht, oft mit guten Gründen. Man befürchtete aber, dass sich Anthroposophen insgesamt nicht an die Autorität wissenschaftlichen Denkens gebunden fühlen, sondern für ihr Leben auch andere Erkenntnisquellen heranziehen – was ja auch zutrifft. Und da war eben das Prinzip von Reinkarnation und Karma, das vielen Menschen fremd erscheint, ein geeigneter Angriffspunkt für das Argument einer angeblichen „Wissenschaftsfeindlichkeit“. Es ging aber noch weiter: Mitunter wurde unterstellt, dass Anthroposophen Karma so verstehen, dass man gegen Krankheiten nichts unternehmen soll, weil man ja angeblich Krankheiten in einem früheren Leben selbst verschuldet hat. Diese Unterstellung hat natürlich ein hohes Empörungspotenzial. Ich habe aber noch nie von anthroposophischen Medizinern oder Therapeuten gehört, dass sie ihren Beruf so verstehen würden, dass man die Kranken wegen einer angeblichen Selbstverschuldung ihrer Leiden allein lässt. Im Gegenteil: immer ist da der Helfer-Impuls maßgeblich. Und auch Rudolf Steiner hat nie gesagt, die Kranken seien an ihrem Leid selbst schuld, also solle man nichts machen. Er sagte mehrfach, dass der Einbezug von Karma zu mehr Mitgefühl führen soll und wird.
die schon von Geburt an vorhandene Individualität des Menschen
C. P.: Man kann Karma nicht naturwissenschaftlich beweisen, aber es gibt Einiges, was dafür spricht, oder?
Dr. Heisterkamp: Hinweise, die dafür sprechen, betreffen aus meiner Sicht zunächst vor allem die Idee der Wiederverkörperung. Denn es ist ja beispielsweise offensichtlich, dass wir Menschen mit sehr unterschiedlichen Anlagen auf die Welt kommen, und die Idee, dass die schon von Geburt an vorhandene Individualität des Menschen nicht aus Umwelt und Vererbung stammen könnte, sondern aus einer vorangehenden Auseinandersetzung mit einer Leiblichkeit, hat ja ohne Zweifel eine Schlüssigkeit. Sie setzt natürlich voraus, dass es überhaupt etwas in uns gibt, das mit dem Tod nicht endet und das bereits vor unserer Geburt vorhanden gewesen sein könnte – und diese Annahme widerspricht natürlich fundamental dem weithin herrschenden materialistischen Denken, wonach es außer dem physisch Sichtbaren und Messbaren nichts geben kann. Dieses herrschende Weltbild wird durch den Reinkarnationsgedanken zutiefst provoziert und fordert auch das eigene Denken stark heraus. Anders beim Motiv des Karmas: das hat für mich mehr mit dem Gefühl zu tun. Beispielsweise eine Erfahrung, die wohl viele kennen: wenn ich einen Menschen treffe, der mir auf Anhieb vertraut erscheint – wo kommt das her? Oder wenn ich mir in einem Rückblick klar darüber werde, welche oft ganz unwahrscheinlichen Konstellationen es waren, die mich dann mit Personen zusammengebracht haben, die für mein ganzes weiteres Leben bestimmend wurden – da fühlt man etwas, das aus einer früheren Verbindung stammen könnte.
Karma hat nicht mit Bestrafung für Vergangenes zu tun, sondern mit der Ermöglichung von Zukunft.
C. P.: Karma beinhaltet den Aspekt von Ausgleich, aber nicht im physikalischen Sinne. Was und wie wird ausgeglichen?
Dr. Heisterkamp: Ich konstruiere mal ein Beispiel: Jemand findet beim Aufräumen in der Garage jede Menge alter Farben, Chemikalien und altes Öl, Sondermüll also, hat aber keine Lust, das anständig zu entsorgen und kippt alles bei Nacht in einen nahegelegenen See. Und denkt: Wenn’s niemand bemerkt, ist die Sache erledigt. – Die Sache ist aber auch schon auf der physischen Ebene nicht erledigt, weil irgendwann die Dosen durchrosten und die Chemie zum Leidwesen der Natur ins Wasser gerät. Wenn aber niemand den Urheber bemerkt hat, bleibt es für ihn juristisch in diesem Erdenleben ohne Folgen. Im Sinne des Karma-Prinzips hat aber jede Ursache eine tiefere Wirkung als Folge, die auch mit dem Urheber verbunden bleibt, das heißt, in irgendeiner Weise kommen die Folgen unserer Handlungen auf uns später einmal zurück. Das muss jetzt nicht heißen, dass ich als Wasserverschmutzer in einem späteren Leben selbst verunreinigtes Wasser trinken muss, das wäre zu banal gedacht. Aber in irgendeiner Weise werden wir – und das ist ja das Entscheidende beim modernen Denken des Karmas – uns selbst wieder mit den Folgen unseres Handelns konfrontieren. Und zwar nicht – und das ist jetzt gerade im anthroposophischen Kontext des Ganzen wichtig – um uns selbst sozusagen für Fehler der Vergangenheit zu bestrafen, sondern um etwas wiedergutzumachen. Rudolf Steiner hat hier ein schönes Wort geprägt, indem er von „Guttaten“ spricht, durch die wir karmisch etwas ausgleichen können. Das ist mir ganz wichtig zu betonen, dass Rudolf Steiner ein Karma-Verständnis entwickelt, in welchem Schicksal nichts mit Bestrafung für Vergangenes zu tun hat, sondern mit der Ermöglichung von Zukunft.
Karma macht nur Sinn mit freier Entwicklung.
C. P.: Karma bedeutet also gerade nicht, dass alles vorherbestimmt ist und der Mensch dann nicht frei wäre. Wie ist Karma im Zusammenhang mit Freiheit zu sehen?
Dr. Heisterkamp: Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich darauf gestoßen, dass interessanterweise bereits der Buddha mit dem Missverständnis mancher Brahmanen zu kämpfen hatte, Karma bedeute, dass alles vorherbestimmt sei. Der Buddha antwortete mit einem einfachen Argument: Wenn alles vorbestimmt wäre, würde es doch gar keinen Sinn ergeben, sich aktiv um eine Weiterentwicklung und Befreiung auf dem Schulungsweg zu bemühen. Hier geht es in der Tat um Freiheit. In nahezu jeder Situation unseres Lebens verschränkt sich Vergangenes mit Zukünftigem, Gewordenes mit Werdendem, und in der Schnittstelle lebt Freiheit und kann etwas damit machen.
Es ist vielleicht sinnvoll, sich hier zu vergegenwärtigen, dass die „Logik“ des Karmas eben eine höhere ist, als sie sich unser Verstand ausmalt. Der Verstand gibt sich schnell mit der Erklärung zufrieden, wenn einem Menschen etwas Schlimmes passiert, sei das eben Karma. Tatsächlich hat ja Rudolf Steiner für die Bildung eines Karma-Gefühls das Beispiel angeregt, man solle sich vorstellen, den Dachziegel, der einem auf den Kopf fällt, habe man selbst so präpariert, dass genau das passiert. Er hat aber zugleich auch gewarnt, dieses Prinzip des selbst zugefügten Karmas nicht zum Dogma zu machen und gesagt, es komme auf den Einzelfall an, ob ein Erlebnis die Wirkung einer karmischen Vergangenheit oder vielleicht eher die Ursache einer karmischen Zukunft sei! Der Verstand greift hier immer zu kurz. Hier ist mir noch wichtig anzumerken, dass solche Dinge besser nicht von außen beurteilt werden sollten, dass es also wenig angemessen ist, sich ein karmisches Urteil über andere Menschen anzumaßen. Ob jemand zu dem Urteil kommt, dass ein Ereignis, das ihn trifft, etwas mit seinem Karma zu tun hat, kann immer nur der oder die Betreffende selbst beurteilen und dann möglicherweise auch so annehmen.
eine fortschreitende Individuation
C. P.: Sie beschreiben das Ziel von Karma als die Individuation des Menschen. Was ist damit gemeint?
Dr. Heisterkamp: Hier liegt für mich der große Unterschied zwischen einem mehr „abendländischen“ und einem eher traditionell-östlichen Verständnis von Reinkarnation und Karma. Traditionell wurde beispielsweise im Buddhismus der Sinn des Karmas darin gesehen, irgendwann das „Rad der Wiedergeburt“ anhalten zu können – wenn man am Leiden genug gelernt hat und kein neues Karma mehr anhäufen muss. Ein schöner Gedanke, in dem viel Wahres und Kraftvolles liegt, insofern es um das Beenden von Leid geht. Aber das Ziel der mehr „westlichen“ Wiederverkörperungsidee geht noch darüber hinaus: Für Lessing, bei dem die abendländische Version dieses Gedankens zuerst am deutlichsten auftrat – am Ende seines Traktats Die Erziehung des Menschengeschlechts – ist Wiederverkörperung nicht nur ein Überwinden des Leids, sondern ganz positiv vor allem ein Lernweg durch die Kulturen, bei dem jeder einzelne Mensch möglichst viel von der Vielfalt des Lebens aufnehmen soll – es geht um geistige Diversität, um es mit einem modernen Begriff auszudrücken. Das aber ist ein Ziel, für das ein einzelnes Leben mit seinen jeweiligen Begrenzungen viel zu eng wäre. Lessing war begeistert von der Entwicklungsidee und genau diese Idee, dass Wiederverkörperung eben nichts irgendwie Negatives ist, das uns belastet, sondern die große Chance ist, uns immer weiter zu entwickeln, mehr zu lernen und immer umfassender die Welt und unsere Mitmenschen wahrzunehmen. Diese Entwicklung kann man als fortschreitende Individuation beschreiben, wobei eben die Individualisierung interessanterweise immer auch Universalisierung bedeutet, insofern nicht nur die Autonomie dabei zunimmt, sondern auch die Verbundenheit mit Allem sich vertieft.
zurückhaltender werden im Urteil über andere
C. P.: Macht das auch die Bedeutung des Karma-Gedankens für das Soziale aus?
Dr. Jens Heisterkamp: Auf jeden Fall. Schon Lessing verband ja mit der Wiederverkörperung den Gedanken, dass dadurch die Toleranz unter den Religionen zunehmen könnte, weil doch jeder Mensch im Laufe seiner Verkörperungen in ganz verschiedenen Religionskreisen lebt und von daher nicht in einem Absolutismus einer einzelnen Religion steckenbleiben sollte. Das Ernstnehmen von Reinkarnation und Karma kann tatsächlich alles soziale Leben sensibilisieren: insbesondere indem ich zurückhaltender werde im Urteil über andere. Ich weiß ja nicht, warum eine Person genau so ist, wie sie ist, welches Schicksal sie mit sich bringt und was sie sich für dieses Leben karmisch vorgenommen hat. Gleichzeitig vertieft sich nach meiner Erfahrung das Gefühl der Zugehörigkeit in sozialen Beziehungen – man spürt, man hat auf einer tieferen Ebene etwas miteinander zu tun. Das kann gerade auch in schwierigen Konstellationen etwas Tröstliches haben beziehungsweise in manchen Fällen vielleicht helfen, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen, sondern Schwierigkeiten auszuhalten und nach dem tieferen Sinn zu suchen. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich persönlich die Bereicherungen durch den Karma-Gedanken intensiver erlebe, wenn ich eher schweigsam damit umgehe. Jede Form von Aufdringlichkeit oder gar Plauderei passt für mein Gefühl nicht zur Fragilität karmischer Dinge.
Jens Heisterkamp „Karma neu denken“
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