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„Märchen sind Träume einer heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist“
Heilendes finden und schenken durch Erzählen von Märchen
von Micaela Sauber, Hamburg, Märchenerzählerin und Initiatorin von Erzähler ohne Grenzen
Der Dichter Novalis hat Märchen und Träume miteinander in Zusammenhang gebracht und von einer heimatlichen Welt gesprochen, aus der sie stammen. Überall und nirgends sei sie. Heißt das, sie sind immer da und doch nicht? Vertraut und doch nicht von selber zu erreichen?
Wir sind in diesen Wochen und Monaten mit einer verheerenden humanitären Situation von vielen Millionen Menschen konfrontiert, die ihre Heimat verlassen haben, weil es dort nicht mehr möglich ist, zu leben. Wer selber seine Heimat aufgab, weiß, wie es ist, wenn Zukunft total im Ungewissen liegt ohne irgendeine Sicherheit und Voraussehbarkeit.
Der Gedanke des Dichters, dass es noch eine andere Heimat geben kann als diejenige, wo man physische Wurzeln hat oder hatte, ist für all diese Menschen mit Sicherheit nicht das nahe liegende. Doch die wir seit 70 Jahren nicht in solcher Not leben mussten, haben forschen und erfahren dürfen, haben uns Fähigkeiten errungen, die nun anderen zur Verfügung gestellt werden können.
Dass es möglich ist, neue Wurzeln wachsen zu lassen, seelische, geistige Wurzeln, die überall und nirgends wachsen können, Wurzeln, die beflügeln können, ist eine wichtige Erfahrung. Es gibt Welten, in die man gelangt mit Hilfe von Imaginationen, von Bildern. Eine Welt der Phantasie und Imagination, die dennoch verwoben ist mit der Natur, dem Planeten, dem Kosmos und dem ganzen Menschen. Denn das ist die Welt der traditionellen Märchen und Geschichten, die seit Jahrhunderten und länger überall, wo menschliche Kulturen gepflegt wurden, im Erzählen lebendig wird. Hier liegt eine Möglichkeit, für Verlorenes und Zerbrochenes Heilungsmöglichkeiten anzubieten, den gebrochenen Blick auf Liebenswertes im Umkreis zu richten. Und langsam zu genesen.
Erzähler ohne Grenzen
Erfahrene Erzählerinnen und Erzähler haben sich in der Initiative „Erzähler ohne Grenzen“ zusammengeschlossen, um Menschen, die mit Not oder in Krisen leben müssen, Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die traumatisiert sind, Anregungen zu geben. Sie vermitteln Trost und Stärkung nur mit ihrer Stimme und Gegenwart und mit Märchen und Geschichten. Sie gehen zu Menschen, denen es schwer fällt, über die Schwelle zu gehen am Lebensende, zu trauernden Angehörigen, kranken Kindern und alten Menschen mit Demenz. Sie gehen einzeln oder in Teams auf Reisen in Länder, wo kein Frieden herrscht, wo es viel Trauma und Zerstörung gibt. Dort erzählen sie, suchen sich Partner, die sie mit ihrem Enthusiasmus anstecken, und die in den jeweiligen Sprachen dolmetschen. Sie geben Kurse und ermutigen andere, die dann dort selber anfangen zu erzählen, Kindern und Erwachsenen.
So erzählt seither im Gaza-Streifen, in Palästina, jeden Samstag Tahany, eine junge Frau, Kindern Märchen. Sie nimmt dabei andere mit, die auch angesteckt sind und sich erproben wollen und sie fahren mit dem Taxi in eine der problematischen Orte, wo Zerstörung, Terror und Armut herrschen. Nur der entsetzliche Krieg im Sommer 2014 hat sie vier Wochen lang abgehalten, das zu tun und auch einige Wochen danach mussten sie pausieren, um sich von den Erschütterungen der Erlebnisse selber zu erholen.
„Grenzenlos im Land der Phantasie“
So hieß die diesjährige Reise von Erzähler ohne Grenzen ins Westjordanland/Palästina, wo sehr vielen Kindern und ihren Lehrerinnen und Lehrern, die dort kollektiv hinter einer kaum zu durchdringenden Grenze leben, Märchen erzählt wurden. Es waren Geschichten von Wahrheit und Überwindung von Gefahr, von Schönheit und Heldenmut, vom Sieg über Unrecht, von Liebe und Freiheit. Drei Erzählerinnen und ein Erzähler waren zwei Wochen lang unterwegs und haben dabei immer neu eine gemeinsame Heimat geschaffen, in der sich alle begegnen konnten, die dabei waren. Das ist eine Heimat, zu der sich unendlich viele Menschen aufmachen könnten, wenn sie es nur wüssten, wie stärkend und wohl tuend das ist.
Das Erzählen von Mund zu Ohr, von Mensch zu Mensch, kann trösten und stärken. Ein Erinnern von Märchen, die die Alten erzählten, kann einen inneren Raum wecken, der zur unverlierbaren Heimat wird. Englisch heißt es „to remember“. Auseinandergeratene Glieder werden wieder zusammen gebracht im Erinnern.
Märchen sind reich in ihren Bildern, vielfältig wie die Natur selber in ihren Launen und Schönheiten. Sie zeigen, dass es sich lohnt, die Comfortzonen unseres Daseins zu verlassen, zu fragen, zu lernen und auch mal in schier Atem raubende unerhörte Situationen zu geraten. Und, wenn unsere Seele noch nicht mit zu vielen Fertiggerichten an Bildern so besetzt ist, dass sie diesen Zauber nicht mehr erleben kann, dann können sie in uns Bilder und Träume wecken von einer heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist, und nach der wir uns eigentlich sehnen. Kinder, die noch unverdorben sind von der digitalen Bilderflut, wissen um diesen Zauber noch, denn ihre Phantasie ist voller Bilder aus jener Sternenwelt, aus der sie kommen und der sie noch gleichen, und deren Abbilder sie hier bei uns erwarten.
„Das Herz wird nicht dement“
sagt Karin Tscholl aus Österreich, Erzählerin ohne Grenzen und mit Enthusiasmus in ihrer raren freien Zeit als Berufserzählerin bei alten Menschen unterwegs.
Es gibt Erfahrungen und Erfolge in der Arbeit mit dem Erzählen in Krisengebieten, als ein Weg zu Frieden und Heilung. Auch für Kranke, Genesende, sterbende Menschen erzählen wir Märchen. Welche Erfolge und Schritte dadurch möglich wurden, lässt sich oft nicht gleich fest stellen, denn die erzählten Märchen und Geschichten werden vom Herzen aufgenommen und versinken in der Seele wie Samenkörner in der dunklen Erde. Dort, im Unbewussten, ruhen sie und beginnen zu keimen, wenn es an der Zeit ist. Dann mag wieder etwas ins Bewusstsein wachsen, um dort eine Erkenntnis, einen neuen Schritt, eine neue Sicherheit oder Idee zur Blüte zu bringen, um zu einer Frucht zu reifen, die genießbar ist, auch im sozialen Umfeld.
Medizin fürs Herz
Märchen sind Medizin. Übrigens ist diese Medizin besonders wirkungsvoll, wenn ein lebendiger Mensch sie verabreicht.
Einmal in einem Sanatorium im Schwarzwald, beim Frühstück, kam eine Dame sehr froh auf mich zu, um zu erzählen, dass sie in der Nacht zum ersten Mal nach vielen Monaten durch geschlafen habe, nachdem sie am Abend meine Märchen gehört hatte. Das ist ein kleines, aber wunderbares Beispiel, welche Wirkung ausgehen kann von diesem „Träumen“ einer „heimatlichen Welt“.
Erfahrungsschätze aus England und den USA
Wie so oft sind uns andere Länder voraus, so auch in der Erfahrung mit heilendem Erzählen. In den USA gibt es seit vielen Jahren eine Bewegung, die sich Healing Story Alliance nennt. Drei Erzählerinnen haben diese Plattform vor Jahren begründet. Dort werden wertvolle Erfahrungen ausgetauscht und zur Verfügung gestellt. Eine von ihnen, Nancy Mellon, heute eine sehr alte und in Erzählerkreisen international verehrte Dame, die viele Jahre in England am Emerson College lehrte, hatte als junge Lehrerin angefangen, Geschichten zu erfinden und damit ihre Klasse in den Griff bekommen. Sie wurde im Laufe ihres Lebens dann eine erfahrene Erzählerin und Dozentin, aber auch Therapeutin, die vielen Menschen helfen konnte, zu genesen, sich selber und ihren Weg zu finden. Sie hat ein bemerkenswertes Buch „Body Eloquence“ zusammen mit Ashley Ramsdon, einem der Begründer der International School of Storytelling, Forest Row, GB, geschrieben. Hier wird dargestellt, wie die Organe unseres Körpers beseelt sind und ihre Aufgaben im Organismus werden bildhaft charakterisiert. Das Buch ist ein Lebenswerk, das unendliche Schätze preisgibt und zur Verfügung stellt. Dort sind viele Geschichten versammelt, traditionelle Erzählungen aus Kulturen der Welt, die die Aufgabe und Qualität, Störungen und Heilungen des jeweiligen Organs von einer sehr überraschenden Sichtweise aus schildern.
So werden Drachenbesieger wie der Heilige Georg als Sinnbilder für die entgiftende Arbeit der Leber vorgestellt. Märchenhelden, die aus Mitleid handeln und nicht zulassen, dass Tieren und Menschen Böses geschieht, handeln aus ihrem Herzen, so wie wir es von Liebenden, Treuen und Verzeihenden kennen. EinVielfraß (der Magen) wird ins Gleichgewicht gebracht, und es wird einsichtig, wie in der Fülle der Wahrnehmungen (Nieren) Form bewahrt werden kann.
Erzählen für den Frieden
In Skandinavien hat Inger Lise Oelrich die Bewegung ALBA begründet, ausgehend von dem anthroposophischen Kulturzentrum Järna. Es werden internationale Symposien und Fortbildungen veranstaltet über heilendes Erzählen und Erzählen für den Frieden. Ihr kürzlich erschienenes Buch „Storytelling for Peace“ ist ein Verkaufsschlager unter Erzählerinnen und Erzählern..
www.healingstory.com http://sverigealba.blogspot.de/p/symposium.html
www.schoolofstorytelling.com/ http://thenewstory.nu/
Heilendes vermitteln
Das Wort wandert mit den Märchen durch die Welt und will ausgesprochen, erzählt sein. Es hilft uns, Zusammenhänge wiederherzustellen, die auseinander geraten sind. Es ist eine große Aufgabe, die fordert, dass wir uns selber immer wieder erinnern und Zerrissenheit auch in uns wahr nehmen und Heilung suchen, indem verloren gegangenes gesucht und zusammen geführt werden kann. Wir sind nicht die Heilenden, wir sind Vermittelnde des heilenden Wortes.
Zu einem 1. internationalen Treffen in Hamburg im September laden Erzähler ohne Grenzen ein. Dort wird Laura Simms, eine der drei Gründerinnen der Healing Story Alliance, ihre Erfahrungen teilen zusammen mit anderen, die seit Jahren im heilenden-heilsamen Erzählen aktiv sind. Auch nicht erfahrene Erzählerinnen und Erzähler sind willkommen, damit das Netz der Aktiven wachsen kann. Die Ströme der Flüchtlinge machen uns Sorgen, und es wird darum gehen, sich gegenseitig zu stärken und anzuregen, wie aus unserer Erfahrung und Ethik heraus den Menschen in ihrer Situation praktisch begegnet werden kann.
Auskunft und Anmeldung:
oder 0049-171-8506863
www.erzaehler-ohne-grenzen.de
www.micaela-sauber.de