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Meditation, Gebet, Selbsterziehung …
Interview mit Gerhard Ertlmaier, Pfarrer der Christengemeinschaft
Wann hat ein Mensch Interesse zu beten oder zu meditieren? Wenn er spürt: „Es gibt noch etwas anderes, das ich bisher nicht kannte, was aber existenziell zu mir gehört.“ Außer dieser äußeren Welt gibt es noch eine andere Welt, und mit der möchte man in Kontakt kommen.
Übungen zur Selbsterziehung sind eine Vorbereitung zur Mediation und helfen aber auch, den Alltag an bestimmten Punkten selbst zu gestalten und nicht allem ausgeliefert zu sein.
Durch diese Aktivitäten knüpft man mit der geistigen Welt eine Art Bewusstseinsnetz, von dem man getragen wird, und manche Schicksalsschläge oder schwierige Aufgaben können ein stückweit leichter bewältigt werden.
Und manche bemerken auf diesem Weg, dass man dadurch als Einzelner für die gesamte Menschheit etwas in Gang setzt …
Gerhard Ertlmaier, geboren 1949 in Inning am Ammersee, ab 1952 München; Volksschule u. hum. Gymnasium München, 1968 Ausbildung zum Filmschnittmeister (Cutter) beim Bayerischen Fernsehen, seit 1974 verheiratet, 3 Kinder, 1978 Umzug nach Hamburg (freiberufliche Tätigkeit beim NDR und Studio Hamburg), 1989 Priesterbildungsstätte der Christengemeinschaft (Hannover), 1992 Priesterweihe in Rostock, 1992 Entsendung nach Lübeck, 1998 nach Heilbronn, 2007 Hamburg-Bergedorf, seit Juni 2009 Lenker der Region Norddeutschland.
Christine Pflug: Was ist Meditation und was ist Gebet?
Gerhard Ertlmaier: Ich würde das zunächst nicht trennen, sondern darauf schauen: Wann hat ein Mensch Interesse zu beten oder zu meditieren? Jemand wurde durch etwas so tief berührt, dass er spürte: Es gibt noch etwas anderes, was ich bisher nicht kannte, das aber existenziell zu mir gehört. Man hatte Berührung mit der geistigen Welt. Das kann durch ein Gespräch, durch die Anthroposophie, eine kultische Handlung oder anderes passieren. Ich habe auch viele Eltern erlebt, die über ihre Kinder zu geistigen Fragen gekommen sind. Man ahnt, dass es außer dieser äußeren Welt noch eine andere Welt gibt, und man will mit dieser weiter in Kontakt kommen.
Gebet hat etwas mit Rhythmus zu tun: Man betet nicht, weil man gerade Lust dazu hat, sondern man macht sich wiederholt die „Nahtstellen“ im Alltag bewusst: wenn man vom Tag in die Nacht geht oder in den Tag erwacht, oder es tritt plötzlich eine Situation ein, die einen im Innersten existentiell berührt.
C. P.: Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen Meditation und Gebet, denn meditieren würde man beispielsweise nicht an diesen Übergängen!?
G. Ertlmaier: Das wäre kein Anlass dazu – auch wenn man bestimmte Tageszeiten zum Meditieren wählen kann. Meditation ist ein Weg – durchaus ein steiniger. Man kann nicht damit beginnen und „kann es“ dann, sondern man muss sich immer wieder neu bemühen. Im Gegensatz zum Gebet zieht man sich bei einer Meditation noch mehr von der Außenwelt zurück und versucht innerlich zur Ruhe zu kommen. Alles, was einen bedrängt, was einen an Gefühlen und Gedanken bewegt, muss man zur Seite stellen. Das ist nicht so einfach!
den Innenraum frei räumen
In der Oberstufe, wenn die Schüler zur Mediation Fragen stellten, machten wir manchmal den Versuch, uns nur auf eine Sache zu konzentrieren. Beispielsweise hatten wir eine Kerze vor uns gestellt und versuchten, fünf Minuten nur allein an diese Kerze zu denken. Da merkt man, wie schwer das fällt.
Das ist aber alles noch keine eigentliche Meditation, sondern eine Vorbereitung. Man versucht den Innenraum frei zu räumen.
Erst in der nächsten Stufe stellt man in diesen leeren Raum etwas hinein; das kann ein Bild, ein Wort, ein Mantram sein – es gibt ganz unterschiedliche Mediationsinhalte. So ein Inhalt kann dann – bildlich gesprochen – wie eine Knospe aufgehen. Aber man darf nicht enttäuscht sein, wenn das nicht passiert; man braucht über lange Zeit Geduld. Entscheidend ist der Vorgang, sich immer wieder auf einen bestimmten Inhalt zu konzentrieren und nicht ein großartiges Erlebnis zu erwarten.
C. P.: Insofern ist der erste Schritt – den Raum frei machen – bei der Meditation und beim Gebet der gleiche. Es gibt bestimmte Meditationen, z. B. Zen, bei denen man durch Beobachten des Atems oder durch Zählen den Raum frei macht, also der leere Raum als solcher das Ziel ist. Wenn man Meditationsinhalte nimmt, z. B. Mantren oder Bilder, man also gleich etwas in diesen Raum hineinstellt, fällt es dann leichter diese innere Ruhe herzustellen?
das Herausdrängen aus der Seele wird dann kein Gewaltakt, sondern ein liebevolles Verabschieden
G. Ertlmaier: Ich glaube nicht. Ich halte es gerade für wichtig, dass der Raum zuerst leer ist. Es wird schwierig, wenn sich die Meditationsinhalte mit dem, was noch in der eigenen Seele herumgeistert, vermischen. Natürlich ist es in der Praxis schwierig, diese Grenze klar zu ziehen.
Es gibt dazu eine spannende Übung: man macht sich erst eine Vorstellung davon, was in etwa alles im augenblicklichen Umkreis lebt, bis zur nächsten Straße, zum nächsten Häuserblock. In einer nächsten Stufe versuche man sich Schritt für Schritt davon zu verabschieden. Dadurch wird das Herausdrängen aus der Seele kein Gewaltakt, sondern ein liebevolles Verabschieden.
C. P.: Gibt es bestimmte Bilder oder Texte, die besonders helfen, die Beziehung zum eigenen höheren Ich zu finden oder kann man genauso gut einen Baum, eine Blume, eine Kerze oder irgendetwas anderes meditieren?
G. Ertlmaier: Natürlich ist es sinnvoll, die Natur so genau zu betrachten, dass sie sich uns ein Stück weit offenbaren kann. Beim Anschauen einer Blume kann man sich in den Prozess hineinversetzen, wie sie gewachsen und geworden ist und versucht dabei den Werdegang einer Pflanze in einer meditativen Betrachtungsweise nachzuvollziehen. Damit versuchen wir ja auch der Wiederkunft Christi im Lebensbereich der Menschen gerecht zu werden, indem der Schöpfer sich seines Geschöpfes aus selbstloser Liebe annimmt, also die geistige Welt die Erdenwelt durchdrungen hat. Und durch die genaue und wiederholte Beobachtung und Wahrnehmung der äußeren Welt schult der Mensch den Blick und bemerkt, dass sich hinter der äußeren, vergänglichen Welt noch eine andere, eine geistige Welt verbirgt und dass das auch in ihm selbst der Fall ist.
Insofern ist beispielsweise eine Pflanzenbetrachtung äußerst sinnvoll, da sie uns damit auch eine Beziehung zu unserem höheren Wesen in uns finden lassen kann.
„Der Gott, der mit uns ist, ist auch der Gott, der uns verlässt.“
Beim Gebet ist genauso die Frage: Für wen tue ich es? Natürlich spielt der spirituelle Egoismus immer eine Rolle, aber man kann auf seinem Weg auch bemerken, dass man als Einzelner für die Menschheit dabei etwas in Gang setzt. Der einzelne Mensch gehört mit der ganzen Menschheit zusammen. Heute stehen wir als einzelne Menschen oft vor der Welt, schauen sie mit Distanz an und überlegen: Ist das wirklich meine Welt? Klimakatastrophen, Krieg, Umweltzerstörung, Terroranschläge – da kann man vieles aufzählen. Hat das, was ich in meinem stillen Kämmerlein mache, mit der Entwicklung und dem Werden der Welt zu tun?
Mir fällt in diesem Zusammenhang immer wieder der Satz von Dietrich Bonhoeffer ein. Kurz bevor er von den Nazis hingerichtet wurde, soll er gesagt haben: „Der Gott, der mit uns ist, ist auch der Gott, der uns verlässt.“ Das scheint ein Widerspruch zu sein. Viele sagen ja auch: Was ist das für ein Gott, der das alles in der Welt zulässt? Aber wenn wir das Christusmysterium wirklich ernst zu nehmen versuchen, dann hat Gott uns alles gegeben: dass die Gottheit nämlich Mensch geworden ist und sich der Schöpfung angenommen hat. Das heißt, dass das Göttliche in uns so lebendig werden kann, dass es in der Welt wirksam wird, natürlich nur, wenn die Menschen das wollen. Man kann nicht mehr verlangen: „Lieber Gott, sorge dafür, dass die Welt gut ist“, sondern er wartet geduldig darauf, dass die Menschen etwas dafür tun, weil er in ihnen ist. Die Gottheit sagt heute nicht mehr „du musst“, sondern der Mensch möge die Kraft in sich finden, selbst Verantwortung für die Zukunft der Menschheit zu übernehmen.
Wenn man sich also im Gebet oder in der Meditation mit den Schöpferkräften, die die Erdenwelt durchdrungen haben, verbindet, hat das für die Zukunft Bedeutung.
C. P.: Man unternimmt also den ersten Schritt. Und wird der von der geistigen Welt aufgegriffen?
ein Gebet oder eine Meditation ist in gewisser Weise ein Zwiegespräch mit der geistigen Welt
G. Ertlmaier: Ich glaube schon. Denn ein Gebet oder eine Meditation ist in gewisser Weise ein Zwiegespräch mit der geistigen Welt. Es gibt Beispiele: eine alleinerziehende Mutter mit mehreren Kindern steht manchmal mit dem Rücken zur Wand und sagt in ihrer Not: „Jetzt kann mir nur der liebe Gott helfen.“ Und viele Menschen erzählen, dass sie in ähnlichen Situationen dann tatsächlich eine Wende oder innere Stärkung erlebt haben.
Wenn es uns gelingt, Gebet oder Meditation regelmäßig in unseren Tagesrhythmus mit hineinzunehmen, können dann auch manche Schicksalsschläge oder schwierige Aufgaben ein stückweit leichter bewältigt werden. Es ist, als ob man mit dieser geistigen Welt ein Bewusstseinsnetz knüpft, und man fällt dann nicht immer durch, sondern wird getragen.
was „nur ich will“
C. P.: Es gibt viele Methoden und Wege zur Selbsterziehung. Sie kommen von Rudolf Steiner oder anderen spirituellen Lehrern, stammen von diversen Gruppierungen, sind in Ratgebern oder ähnlichen Büchern zu lesen, z. B. wie man seine Gedanken kontrolliert, den Willen stärkt, wie man immer wieder eine positive Sichtweise schult, wie man loslassen lernt und vieles mehr. Wenn man das befolgt, was macht man da mit sich?
es kommt darauf an, dass der freie Wille des Menschen geweckt wird
G. Ertlmaier: Ich halte solche Übungen für wichtig, weil wir tagsüber meist so gefordert sind, dass wir uns kaum mehr auf uns selbst besinnen können und etwas machen können, was „nur ich will“. Es gibt die Übungen, zu gewissen Zeitpunkten, die ich selbst bestimme, beispielsweise einen Blumentopf an einen anderen Ort zu stellen oder eine andere zweckfreie Handlung zu vollziehen, die ich nur ausübe, weil ich es so will. Das ist als Vorbereitung für Meditation und Gebet enorm wichtig. Es kommt darauf an, dass der freie Wille des Menschen geweckt wird.
wie wenn mein Engel die Möglichkeit bekommt, mit mir auf meine Taten zu schauen
Eine andere Übung ist, am Abend, bevor man in die Nacht geht, auf den Tag zurück zu schauen – so objektiv wie möglich, ohne sich selbst zu beurteilen. Man wird nach einiger Zeit bemerken, dass zwischen mir und dem, was ich als objektive Bilder mir bewusst vor die Seele stelle, etwas entsteht. Es lässt sich nicht so leicht in Worte fassen. Man könnte es so beschreiben, wie wenn mein Engel die Möglichkeit bekommt, mit mir auf meine Taten zu schauen. Ich stelle nämlich mein Sein des vergangenen Tages so sachlich wie möglich hin, ohne mich selber zu beurteilen, und daraus entwickle ich mit ihm ein Verhältnis zu meinen Taten. Dadurch kann es tagsüber möglich werden, von ihm den inneren Ansporn zu bekommen, bestimmte Dinge zu tun oder auch zu lassen. Im Grunde machen wir bei der freiwilligen Rückschau nichts anderes, als wenn wir uns im Nachtodlichen mit unserem großen Lebenstableau auseinandersetzen. Wenn wir diese Sphäre freiwillig ins Leben hereinholen, kann uns das helfen, unser Leben ein wenig besser zu meistern.
Auch bei solchen Übungen ist eine Regelmäßigkeit wichtig; aber es genügen täglich etwa 5 Minuten.
C. P.: Wenn man irgendeine Übung mehrere Wochen – mindestens vier – gemacht hat, kann sich mehr Ruhe, Distanz zu sich selbst, Gelassenheit oder etwas anderes einstellen. Natürlich ist es immer ein Angang, sich zu einer Übung aufzuraffen, aber wenn man es nicht macht, weiß man genau, dass man versäumt hat, etwas Gutes für sich zu tun. Könnte man sagen, dass man bei der Selbsterziehung schneller Wirkungen erreicht als bei Gebet und Mediation?
G. Ertlmaier: Die Wirkungen zeigen sich insofern, dass manches im Tagesablauf einfacher wird und dass man in sein Leben einen Rhythmus bekommt. Wenn man einmal einen Zyklus von beispielsweise vier Wochen geschafft hat, fällt es womöglich das nächste Mal leichter. Man kann sich ein wenig darüber freuen und bewältigt dann andere Dinge besser.
Aber die Frage ist, wie es dann weitergeht. Ist das dann alles oder möchte ich mich in ein anderes, neues Verhältnis zur Welt setzen?
ich bin also ein Bürger zweier Welten und diese beiden Welten möchte ich wieder miteinander in Beziehung bringen
C. P.: Es ist doch schon viel gewonnen, wenn ich sortierter, gelassener bin, wenn einen der Partner, das Kind, der Chef nicht mehr so nervt, wenn man etwas gefunden hat, mit dem man sich wieder aufbauen kann, z. B. mit einem Hobby, mit Kunst, Bewegung; vielleicht wird man sozial verträglicher oder gesünder. Würde das nicht genügen?
G. Ertlmaier: Wenn man Übungen macht, gestaltet man an bestimmten Punkten den Alltag selbst und ist nicht allem ausgeliefert. Wenn man aber versucht, sich durch Meditation oder Gebet wesensgemäß mit dem zu verbinden, was zu einem gehört, ist das noch mal ein weiterer Schritt. Es gibt noch eine andere Welt, die mit mir persönlich zusammenhängt und ich habe ein Gefühl davon, dass ich hier bin, aber nicht nur von hier bin – ich bin also ein Bürger zweier Welten. Und diese beiden Welten möchte ich wieder miteinander in Beziehung bringen.
es taucht heute ganz offensichtlich die Frage auf, was sich hinter diesen Eckpfeilern verbirgt
Das Leben zwischen Geburt und Tod ist begrenzt, und es taucht heute ganz offensichtlich die Frage auf, was sich hinter diesen Eckpfeilern verbirgt. Ich habe im Unterricht der Oberstufe oft festgestellt, dass beispielsweise Reinkarnation für die meisten Jugendlichen ganz selbstverständlich ist. Es macht für viele Menschen Sinn, dass wir etwas aus der anderen Welt mitbringen, was wir hier auf der Erde suchen und wenn wir das gefunden haben, die Erde wieder etwas anders verlassen.
C. P.: Rudolf Steiner weist bei den Übungen darauf hin, dass sich die Wirkungen an einer anderen Stelle zeigen, als man es vielleicht beabsichtigt hat, nämlich da, wo man am ehesten Schwächen hat. Beispielsweise legt man jeden Abend einen Gegenstand an einen anderen Platz und erinnert am nächsten Morgen, wo man ihn hingetan hat. Man will damit vielleicht das Gedächtnis üben; aber die Wirkung zeigt sich u. U. an einer ganz anderen Stelle. Können Sie das bestätigen?
und dann geschieht ein Wille, von dem wir keine Ahnung haben
G. Ertlmaier: Ja, es kann sich durchaus etwas Neues entwickeln, von dem der Mensch zunächst keine Ahnung hatte. Das hängt nach meinem Erleben unmittelbar mit dem Christusmysterium zusammen: Es lebt etwas in der Welt, von dem man vorher nichts wusste. In unserem normalen Tagesbewusstsein sind wir von der geistigen Welt abgetrennt, und durch solche Übungen kann sich eine völlig neue Beziehung zu ihr ergeben. So ist es auch zu verstehen, dass durch eine frei-willige Tätigkeit plötzlich etwas entsteht, was ich gar nicht gemeint habe. Das passiert beispielsweise auch im ganz Alltäglichen, wenn ich mit Liebe eine Sache mache, die ich sonst nicht gerne mache, beispielsweise Staubsaugen, Abwaschen etc., oder mich einem Menschen zuwende, den ich überhaupt nicht leiden konnte – dann entsteht mitunter auch eine Art Verwandlung.
Die geistige Welt greift unser Bemühen auf, und dann gibt sie das Ihrige dazu. Im „Vaterunser“ heißt es ja auch „ … dein Wille geschehe“; und dann geschieht ein Wille, von dem wir keine Ahnung haben. Wenn wir beten würden, dass etwas Bestimmtes geschehen möge, wissen wir ja nicht, ob das im Schicksal richtig ist. Da kommt man wieder an den Punkt: Werde ich vom Schicksal nur geschlagen oder versuche ich es als das zu mir gehörende anzunehmen, ja es sogar lieb zu haben? In der Rückschau mache ich einen ersten Schritt zu verstehen, dass es das Schicksal gut mit mir meint. Wenn ich es im Nachtodlichen anschaue, werde ich es verstehen müssen, hier kann ich es freiwillig verstehen lernen und mir zu Eigen machen.