Willkommen auf der Seite für Adressen, Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg
Menschen mit besonderen Eigenschaften
100 Jahre anthroposophische Heilpädagogik
Beiträge von Wolfgang Müller und Christopher von Bar
Die anthroposophische Heilpädagogik feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. 1924 hielt Rudolf Steiner vor jungen Menschen den Heilpädagogischen Kurs. Diese jungen Menschen gründeten kurze Zeit später die ersten heilpädagogischen Einrichtungen. Seit dieser Zeit hat sich eine weltweite Bewegung mit über 650 Einrichtungen in 50 Ländern entwickelt! (Heilpädagogik für Kinder und Sozialtherapie für erwachsene Menschen mit Behinderung) „Auch wenn vieles heute sicher anders gesagt werden würde … legt der der heilpädagogische Kurs Grundlagen für die therapeutische und pädagogische Arbeit“ (C. von Bar)
Wie steht die Anthroposophie zu Menschen mit Behinderung?
Beitrag von Wolfgang Müller aus seinem Buch „Nachgefragt: Anthroposophie“ (siehe Hinweis Mai 2024)
Foto: Jens Heisterkamp
Das tiefe Interesse am jeweiligen Individuum, das die Anthroposophie charakterisiert, zeigt sich auch und gerade dort, wo es um Menschen mit bestimmten Einschränkungen oder Behinderungen geht. So forderte Steiner auch – damals ganz ungewöhnlich – einen Namen zu finden, der diese Menschen „nicht gleich abstempelt“. Seine Mitarbeiter sprachen daher von Anfang an von „Seelenpflege-bedürftigen“ Kindern bzw. Erwachsenen und lenkten den Blick weg vom Defizit zum Bedarf.
Bezeichnenderweise erkannte Steiner auch viel früher als andere die Gefahren durch die Eugenik, also durch Programme zu einer genetischen Verbesserung der Menschheit, die damals weithin als progressiv galten. Aus Sicht dieser Eugeniker waren Behinderungen nichts als eine Fehlleistung der Natur, die zu eliminieren war. „Begonnen hat ja nach dieser Richtung Verschiedenes“, sagte Steiner mit Blick auf den großen Eugenik-Kongress in London 1912. Er warnte vor den Folgen, wenn aus solchen Theorien soziale Praxis werde: „Und da wird kaum die erste Hälfte dieses Jahrhunderts zu Ende gehen, ohne dass auf diesen Gebieten dasjenige geschieht, was für den Einsichtigen ein Furchtbares ist.“ So Steiner 1917.
Die anthroposophische Medizin und Heilpädagogik versuchte eine humanere Praxis zu verwirklichen. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Kinderarzt und Anthroposoph Karl König. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er nach dem deutschen Einmarsch 1938 aus Wien fliehen und gründete in Schottland die wegweisende Camphill-Bewegung. Jedes Kind, so König, „ist unser Bruder und Schwester“. „Und wie sehr auch seine Individualität verdeckt sein mag durch viele Schichten des Unvermögens, der Gelähmtheit, von unkontrollierten Gefühlen, wir müssen trotzdem versuchen, durch diese Schichten durchzubrechen, um das Heiligste jedes Menschen zu erreichen…“
Eine filmreife Geschichte ist die des Anthroposophen Hubert Bollig. Er hatte bei Karlsruhe ein Heim für „schwer erziehbare“ Kinder gegründet. Als es mit Kriegsbeginn 1939 geräumt werden musste, konnte er 33 der 40 Kinder bei deren Verwandten unterbringen. Dann begann mit den übrigen sieben eine Odyssee; ohne festen Wohnsitz zog die kleine Gruppe mitten in der Hitlerzeit durch den Schwarzwald und den Bodenseeraum. Als Bollig weitere fünf Kinder in andere Obhut geben konnte, blieben zwei, die durch die T4-Euthanasie-Aktion der Nazis bedroht waren. Für eines davon fand er ein Heim in der sicheren Schweiz. Es blieb der junge Otto Nicolai, mit Down-Syndrom. Für ihn organisierte Bollig ein ärztliches Gutachten, das ihn als unentbehrlichen Helfer für seine gehbehinderte Frau auswies. Bollig musste noch einige Wochen Gestapo-Haft überstehen, kam aber wieder frei. Der bei den Bolligs lebende Junge überlebte die NS-Zeit, er starb 1980.
Heute gibt es, auf viele Länder verteilt, mehr als siebenhundert Einrichtungen der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie. Sie versuchen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern ein menschlich verlässliches, gut strukturiertes, anregungsreiches Zuhause zu bieten, soweit möglich auch mit Einbindung in bestimmte Arbeitsfelder. Und eben getragen von einem Geist, der alle Menschen mit ihren besonderen Eigenschaften in ihrem ureigenen Wesen zu sehen und zu fördern versucht.
Damit gehören diese Einrichtungen zu den kraftvollsten Orten, an denen eine gelebte Humanität erfahrbar wird. Manche Außenstehende, die damit persönlich in Berührung kamen, wurden zu starken Unterstützern des anthroposophischen Impulses, auch mit bedeutenden Stiftungen. Man könnte auch eine Geschichte der Anthroposophie nur unter dem Gesichtspunkt der Dankbarkeit schreiben.
„Menschen mit Assistenzbedarf können den anderen einen Spiegel vorhalten“
Interview mit Christopher v. Bar, Heilpädagoge und Geschäftsführer von Franziskus e.V. in Sülldorf
Foto: privat
Christine Pflug: Was geben diese Menschen mit Assistenzbedarf den anderen, der Gesellschaft?
Christopher von Bar: Zunächst einmal denke ich, dass Menschen mit Assistenzbedarf so individuell sind wie der Rest der Gesellschaft auch. Sie sind sozial und unsozial, fröhlich und traurig, freundlich und abweisend … Menschen mit Assistenzbedarf sind aber auch immer wieder erfrischend offen und direkt. Während ich selbst bei jeder Begegnung bewusst oder unbewusst überlege, wie ich bei dem anderen ankomme, sagt der Mensch mit Assistenzbedarf oft genau dass, was er im Augenblick fühlt! Diese Direktheit kann dem Gegenüber im ersten Augenblick irritieren, kann dann aber, da von Herzen kommend, als ehrliche Rückmeldung erlebt werden. Aber auch auf einer anderen Ebenen können Menschen mit Assistenzbedarf der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten: in einer Gesellschaft in der alles immer schneller, besser, optimierter laufen muss, bilden sie ein Gegengewicht: schaut her, es kann auch ganz anders gehen!
Die Frage für mich ist eigentlich, wie wir Menschen mit Assistenzbedarf sehen und welchen Raum wir ihnen in unserer Gesellschaft geben und einräumen wollen. Aktion Mensch hat Inklusion wie folgt beschrieben: „Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört. Oder anders: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen. Egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast. Zum Beispiel: Kinder mit und ohne Behinderung lernen zusammen in der Schule. Wenn jeder Mensch überall dabei sein kann, am Arbeitsplatz, beim Wohnen oder in der Freizeit: Das ist Inklusion.“
Wenn wir das nicht nur in unseren therapeutischen Gemeinschaften erreichen würden, sondern in kleinen Schritten auch in unserem Umfeld, dann würden wir der beobachtbaren Entsolidarisierung in der Gesellschaft etwas Positives entgegensetzen.
C. P.: Wie hat sich die soziale Arbeit im Laufe der Jahrzehnte entwickelt? Was braucht es für die Zukunft?
Christopher von Bar: Ich arbeite nun seit 46 Jahren in der Heilpädagogik und Sozialtherapie. In dieser Zeit hat sich das Bild des Menschen mit Behinderung immer wieder gewandelt und weiterentwickelt. Die anthroposophische Arbeit mit Menschen mit Handicap war bis in die 1980 Jahr fortschrittlich und innovativ. In ganz Deutschland und weltweit haben sich Dorfgemeinschaften gegründet, in denen Menschen mit und ohne Handicap zusammenlebten. Dann habe ich aber die Wahrnehmung, dass in vielen anthroposophischen Einrichtungen und Gemeinschaften eine Weiterentwicklung stagnierte oder ausgeblieben ist. Eine Fokussierung auf die Selbstwirksamkeit und Individualisierung wurde in vielen Einrichtungen als Widerspruch zur Gemeinschaftsbildung empfunden, und von daher hat man eher versucht sie zu verhindern als zu fördern. Andere Träger wie z. B. die Lebenshilfe betonten die Individualisierung intensiv, weil der Gemeinschaftsgedanke nicht in ihrem Fokus stand. In den letzten Jahren, auch noch einmal impulsiert durch die UN-Behindertenrechts-Konvention, gab es aber deutliche und gute Entwicklungsschritte. Insbesondere unser Bundesverband Anthropoi hat Menschen mit Assistenzbedarf eine immer stärkere Stimme gegeben. So sind die Menschen mit Assistenzbedarf in fast allen Gremien des Verbandes als Selbstvertreter:innen mit dabei.
Es bleibt aber weiterhin eine lebendige Gratwanderung, auf der einen Seite die Menschen mit Assistenzbedarf in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, auf der anderen Seite die Gemeinschaft zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Das Jahr 2024 ist für alle anthroposophischen heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Gemeinschaften ein besonderes Festjahr und gibt die Möglichkeit zu einer Retrospektive! Denn vom 25. Juni bis 7. Juli 1924 hat Rudolf Steiner vor einer kleinen Gruppe von Menschen 12 Fachvorträge in Dornach/Schweiz gehalten. Dabei standen menschenkundliche und medizinische Fragestellungen im Vordergrund. Die Vorträge bilden die Grundlage, aus der sich eine weltweite Bewegung mit 650 Einrichtungen in 50 Ländern entwickelt hat!
Auch wenn vieles heute sicher anders gesagt werden würde, der heilpädagogische Kurs vermittelt keine Rezepte, sondern legt Grundlagen für die therapeutische und pädagogische Arbeit. Wie vielfältig diese Impulse aufgegriffen wurden, sehen wir an der Vielzahl der unterschiedlichen Einrichtungen und Gemeinschaften in der ganzen Welt, ob in Pakistan, Südafrika, Neuseeland oder Amerika, überall gibt es Frühfördereinrichtungen, Schulen, Berufsschulen, verschiedenste Wohnprojekte und Gemeinschaften für ältere Menschen mit Assistenzbedarf. Der damalige Impuls von Steiner ist immer noch lebendig und führt zu neuen Formen in der Begleitung von Menschen mit Assistenzbedarf.