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Rituale – Nahrung für die Seele
Interview mit Luke Barr, Pfarrer der Christengemeinschaft
Wir alle haben in unserem Leben Rituale, auf die eine oder andere Weise. Beispielsweise wie wir morgens in den Tag kommen, familiäre Abläufe und Feiern gestalten, und gerade jetzt, in der dunklen Jahreszeit und auf das Ende des Jahres zu, begehen wir viele Rituale. Sie können einen religiösen Charakter haben, können Gewohnheiten sein, sind Brauchtum und Ausdruck verschiedener Kulturen. Diese festen Handlungsabläufe verleihen unserem Leben Struktur, geben uns ein Gefühl der Sicherheit und binden uns an etwas an, das über uns steht.
Interviewpartner: Luke Barr, kommt aus England, und ist seit 8 Jahren als Pfarrer der Christengemeinschaft tätig; zuerst in England, Schottland und seit Dezember 2020 hier in Hamburg. Seine Ausbildung als Pfarrer der Christengemeinschaft hat er in Hamburg absolviert. Vor seiner Tätigkeit als Pfarrer arbeitete er 15 Jahre als Heilpädagoge.
Christine Pflug: Wie bist du auf das Thema „Rituale“ gekommen?
Luke Barr: Als Priester arbeite ich ständig mit christlichen religiösen Ritualen. Gelegentlich geschieht etwas, das einem Einblicke in die eigene Arbeit aus einem Blickwinkel gibt, den man nicht erwartet hatte. Das geschah, als ich vor ein paar Jahren in einem Camphill-Dorf ein Oberufer-Weihnachtsspiel sah. Das Publikum war gebannt, Kinder, Eltern, Großeltern, alle. Einige der Darsteller waren Atheisten, die meisten Agnostiker, und doch waren sie da und nahmen an etwas teil, das über ihre persönliche Einstellung hinausging.
Ich dachte: „Diese Leute würden wahrscheinlich nie in unsere Kirche kommen, aber sie erleben und suchen vielleicht die Essenz dessen, was wir haben, hier in diesem Stück!”
Das Stück war ein Ritual, das eine bestimmte symbolische Botschaft vermittelte, ein Mysterium, das jeder nach eigenem Gutdünken interpretieren konnte. Es hat die Art von Anziehungskraft, die die Kirche nicht haben kann, weil die Beziehung zur Kirche (fälschlicherweise) zu etwas geworden ist, dem wir glauben, Treue schwören zu müssen. Ein echtes Ritual geht jedoch darüber hinaus. Man muss sich nicht unbedingt zu einem bestimmten Glauben bekennen – vielmehr geht es darum, eine Erfahrung zu machen.
Ich würde übrigens behaupten, dass es bei den Ritualen, mit denen ich als Pfarrer arbeite, genau darum geht. Sie sind dazu da, Erfahrungen zu ermöglichen, zu denen wir im Alltag normalerweise keinen Zugang haben.
Das Theater selbst ist aus den Mysterienzentren der antiken Welt hervorgegangen. Sie stammen aus dem dionysischen Kult. Die Tragödie war die ursprüngliche Form des Theaters, die einen Aspekt der menschlichen Existenz darstellte, der dem dionysischen Kult wichtig war: nämlich, dass der Mensch sich seines Leidens im Leben bewusst war. Die Tragödie bedeutet das „Lied der Ziege“ und wurde mit dem Opfercharakter der Ziege in Verbindung gebracht.
Das Theaterstück ist aus dem Ritual entstanden und ist in der Tat eine Metamorphose des Rituals. Wie bei einem Ritual kann der Darsteller nicht von seinem Skript oder seiner Choreographie abweichen. Wenn einer davon abweicht, kann das für die anderen Schauspieler eine Katastrophe sein! Wenn wir ein Ritual durchführen, führen wir es für ein Art ‚Publikum‘ auf, aber wer oder was genau das ist, können wir nicht sagen. Vielleicht nennen wir das ein ‚Geistiges‘. Aber wir haben das Gefühl, dass es irgendwie bezeugt wird.
C. P.: Was ist ein Ritual und welche Merkmale gehören dazu?
L. Barr: Erstens ist es etwas, das von einer starken Form geprägt ist. Das können gesprochene Worte, Musik, Aktionen und der Einsatz einer Reihe von Requisiten sein. Die Form wird vorher bewusst festgelegt, würde ich sagen. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, spontan von der Form abzuweichen. Vielmehr halten wir uns an die Form, wie sie vorher konzipiert wurde – und sehen, was passiert.
Wenn man will, kann man danach die Form ändern, wenn man es noch einmal versuchen will.
die Form macht die Erfahrung möglich, die man dann machen wird
Der Form treu zu bleiben, scheint mir aber wichtig. Und wenn man sich an eine einzige Form halten kann, vorzugsweise einfach und bescheiden, und sie täglich oder wöchentlich rhythmisch wiederholt, dann stellt man fest, dass die Wiederholung nicht langweilig wird, sondern ganz im Gegenteil: wir vertiefen uns; unsere Erfahrungen werden substanzieller.
Die Form macht die Erfahrungen möglich, die man machen wird. Das ist bei allem so. Ich habe eine menschliche Form, mit der ich jeden einzelnen Tag meines Erdendaseins aufwache – und sie ist dazu da, meine Erfahrungen als Mensch auf der Erde zu ermöglichen. Diese starke menschliche Form, die ich trage – und die ich nicht grundlegend ändern kann – ermöglicht es mir, Freiheit auf der Erde zu erleben.
Zweitens: Unser heutiges Bewusstsein ist stark vom Intellekt geprägt. Ich glaube aber, dass das für die Seele nicht besonders nahrhaft ist. Die Seele scheint von anderen Dingen zu leben als von den „Schein-Schätzen“, die der Intellekt bringt. Die Seele lebt von Gefühlen, Beziehungen, Kreativität, Einfühlungsvermögen, Liebe. Sie mag es, dies in Bildern zu erleben, die Nahrung für die Seele sind. Geschichten, insbesondere Märchen, sind solche Nahrung. Das erklärt die Faszination unserer heutigen Zivilisation für Bilder, die durch Kino, Fernsehen und Computer entstanden sind.
Bilder sind Symbole für die Seele, und die Seele kann sie verdauen und mit ihnen leben und arbeiten, wie sie will. Bilder sollten nicht zwingen (z.B. Horrorfilme), sondern uns die Freiheit lassen, unsere eigene Bedeutung in ihnen zu finden.
Das Ritual überlässt es uns, zu erforschen, was wir erleben
Rituelle Handlungen und Worte liefern symbolisches Material für die Seele. Dies ist Nahrung für die Seele. Es sagt uns nicht, was wir denken oder erleben sollen. Das Ritual überlässt es uns, zu erforschen, was wir erleben.
Daher denke ich, dass sie nützliche, wenn auch uralte Werkzeuge sind, die uns helfen zu verstehen, wer wir sind und was wir sind, und uns bei unserer Entwicklung helfen können.
Mir ist etwas aufgefallen, was ein Jungscher Psychologe (Robert Johnstone) vor einigen Jahren geschrieben hat, dass das zunehmende Unwohlsein in der modernen Zivilisation zum Teil auf den Verlust von Ritualen zurückzuführen ist, und dass dies die menschliche Psyche verarmt und sogar extrem krank gemacht hat. Der Kulturphilosoph Byung-Chul Han hat kürzlich auf das, was er das „Verschwinden der Rituale“ nennt, und die katastrophalen Auswirkungen auf die menschliche Kultur aufmerksam gemacht.
Rituale werden seit Tausenden von Jahren von den Menschen praktiziert. Sie sind prähistorisch. Die Quellen des Rituals kennen wir nicht.
Und doch erleben wir die Quelle jedes Mal, wenn wir ein Ritual praktizieren!
Die Ritualisierung einer Erfahrung kann helfen,
diese bewusster zu machen und besser zu verarbeiten
C. P.: Rituale haben also auf den Menschen eine positive Wirkung. Was macht es, dass sie kräftigend oder sogar heilend wirken?
L. Barr: Wir erleben in unserem Alltag so viel, dass es manchmal schwer zu verdauen ist. Diese unverarbeiteten Erfahrungen können uns belasten; sie können sogar krank machen. Die Ritualisierung einer Erfahrung kann helfen, sie bewusster zu machen und besser zu verarbeiten. Sich Zeit zu nehmen, um sie zu verdauen, kann ein heilender Prozess sein. Er kann dazu beitragen, dass wir ganzer werden.
Im christlichen Sinne ist dies mit dem heilenden (oder heiligen) Geist gemeint. Eine bessere Ausrichtung auf den eigenen Geist ist ein wesentlicher Heilungsprozess. Wir heilen den Riss zwischen Seele und Geist, der auseinandergerissen wurde.
Man kann seine Dankbarkeit auch ritualisieren. Das schärft unser Bewusstsein für das Gute in unserem Leben, für die Erfahrungen, für die wir dankbar sind. Das amerikanische Fest „Thanksgiving“ geht darauf zurück, ebenso wie das Erntedankfest.
Das Ritual soll uns helfen, Schwellenereignisse in den richtigen Kontext zu stellen
Jeder, der eine Geburt oder einen Todesfall erlebt hat, weiß, wie überwältigend diese Ereignisse sein können. Wir wissen nicht recht, wie wir sie einordnen sollen. Sie bringen uns an eine Schwelle der Erfahrung, an die wir nicht gewöhnt sind.
Das Ritual soll uns helfen, diese Schwellenereignisse in den richtigen Kontext zu stellen. Es ehrt sie und erkennt ihre Bedeutung an.
Das Ritual (zum Beispiel eine Taufe im christlichen Sinne für eine Geburt oder eine Beerdigung für einen Todesfall) gibt uns Zeit, das Ereignis in Ruhe und Gelassenheit zu erleben. Es verschafft uns einen anderen Zugang, eine andere Perspektive auf das Ereignis.
Das Ereignis, das uns überwältigt hat, kann nun in seinem Kontext erlebt werden, sozusagen in seiner wahren Heimat.
Dabei nehmen wir ein Ereignis aus unserem natürlichen Leben und machen es zu einem kulturellen Ereignis.
Rituale sind unsere Art, Schwellenerfahrungen zu würdigen. Schwellenerfahrungen sind nicht nur Geburten und Todesfälle, sondern auch zum Beispiel die Erfahrung der Pubertät oder die Entscheidung zu heiraten. In der Christengemeinschaft werden diese zu Sakramenten ritualisiert. Aber viele alltägliche Erfahrungen haben einen leichten Schwellencharakter. Wir bemerken das oft nur nicht. Auch dafür ist es sinnvoll, einen ritualisierten Ausdruck zu finden, und auch dafür haben wir in der Christengemeinschaft Sakramente: ‚Beichte‘ und unser zentrales Sakrament, die Menschenweihehandlung.
Indem wir etwas ritualisieren, scheinen wir ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen. In unserer schnelllebigen, flüchtigen modernen Kultur kann dies ein Rettungsanker sein.
Solche Schwellenmomente sind, so würde ich sagen, apokalyptisch. Apokalypse bedeutet wörtlich, dass etwas – wahrscheinlich die Wirklichkeit – offenbart wird.
Wir sind, könnte man sagen, apokalyptische Wesen, Wesen, die sich in der Begegnung mit einer Schwelle wirklich offenbaren. Und dafür brauchen wir besondere Formen, die uns in den richtigen Kontext stellen. Im christlichen Sinne wären das die Sakramente. Rituale können jedoch von jedem ausgeübt werden, wie es jeden Tag auf der ganzen Welt geschieht, ich denke dabei an die Praxis der Weltreligionen, an den Buddhismus, an die Zeremonien des Teetrinkens, die der Orient kultiviert hat, an die Praktiken der Freimaurerei, aber auch an echte kleinere Rituale wie das Tischgebet vor dem Essen oder die Art und Weise, wie man Kinder ins Bett bringt und morgens weckt. Die Art und Weise, wie man das macht, welches Bewusstsein man hat, macht einen entscheidenden Unterschied.
Und sie können leider, wie alles andere auch, missbraucht werden.
Rituale entschleunigen uns
C. P.: Wie wirkt ein Ritual auf die Wesensglieder des Menschen? Was im Menschen wird dabei angesprochen?
L. Barr: Rituale werden wirklich von dem „Ich“, für das „Ich“ gemacht. Sie sind ein Ort, an dem wir das Mysterium des „Ich“ bewusst erleben können. Ich denke, ein Großteil unseres Lebens spielt sich auf einer vorwiegend astralen Ebene ab. Unser ‚Ich‘ sieht oft hilflos zu! Das Ritual erkennt das „Ich“ an und gibt ihm Raum. Es bringt den Astralbereich zum Schweigen, der meiner Meinung nach dankbar ist, dass er in seine Schranken verwiesen wird. Und es wirkt in die tiefe Ebene des Ätherleibes hinein. Rituale verbinden uns wieder mit unserem ätherischen Selbst, mit tief liegenden menschlichen Qualitäten; sie entschleunigen uns, machen uns wieder menschlich.
Die Natur tut dies auch für uns. Deshalb machen wir Spaziergänge, Wanderungen und Einkehrtage in der Natur. Die Verbindung mit den Lebenskräften gibt uns Energie. Rituale können uns so energetisieren wie eine Begegnung mit der Natur.
Ich würde sagen, dass ein Großteil unserer modernen Kultur sich auf einer astralen Ebene abspielt. Wenn man die Mönckebergstraße entlanggeht, empfängt und verarbeitet man ständig Eindrücke, Geräusche, Gesichter, Gesten, Stimmen. Das füttert unser astrales Selbst, und man kann süchtig nach diesen Eindrücken werden.
Der Ätherleib ist langsamer. Er hat das natürliche Tempo der Natur. Er ist ruhiger, berechenbarer. Die Natur kann sich oft „heilig“ und erhaben anfühlen. Caspar David Friedrich wollte dies in seinem Werk zum Ausdruck bringen. In seinen Gemälden vermischen sich Bäume oft mit Türmen von Kathedralen. Die Natur hat eine Affinität zur Religion und ihrem rituellen Leben. Beide nähren den menschlichen Lebensleib und verbinden uns mit dem Erhabenen.
Mir scheint, dass sich viele der menschlichen Interaktionen in unserer gegenwärtigen Weltkrise auf der astralen Ebene abspielen. Ich denke, wir sind aufgefordert, eine zwischenmenschliche Kultur zu entwickeln, die für die Gesundheit des Ätherleibs förderlich ist.
Wenn wir darüber nachdenken, was Steiner „das ätherische Wiedererscheinen Christi“ nennt, können wir mit der Vorstellung leben, dass wir uns diesem Mysterium durch Rituale und die Erfahrungen, die man in ihnen machen kann, nähern können.
Der Unterschied zwischen einer Gewohnheit und einem Ritual
Wir können viele „Rituale“ oder, wie ich es nennen würde, „Pseudo-Rituale“ in unserem Leben haben. Das sind eigentlich Gewohnheiten. Einerseits ist daran nichts auszusetzen: Sie geben uns eine Verlässlichkeit, einen Anker und eine Form in unserem Leben. Aber sie können, wie jeder weiß, auch hinderlich werden und die Oberhand in unserem Leben gewinnen. Der Unterschied zwischen einer Gewohnheit und einem Ritual ist, dass letzteres viel bewusster ausgeführt wird. Man könnte sagen, dass Gewohnheiten unser altes Selbst nähren; Rituale nähren unser zukünftig werdendes Selbst.
Jedes Jahr zu Neujahr sieht man in Deutschland „Dinner for One“. Das ist eine Art Ritual! Eigentlich eine Gewohnheit. Darin lässt Miss Sophie einen glorreichen Teil ihres Lebens wieder aufleben. Sie ist darin gefangen wie eine Nadel, die früher in den alten Schallplatten stecken blieb, auf denen wir Musik hörten! Sie spielt das alte Thema erneut ab. Man hat das Gefühl, dass sie sich nicht davon befreien kann, dass es sie bestimmt und dass es ihr die Möglichkeit zu verwehren scheint, weiterzugehen. Das bringt uns zurück zur Tragödie, unserem Ausgangspunkt! Wir lachen nervös über „Dinner for one“ wegen der Einsamkeit ihrer Tragödie, ein zutiefst menschliches Problem.
einen spirituellen Prozess physisch verwirklichen
Zum Schluss noch ein Wort zum Physischen: Wir erkennen die physische Ebene an, wenn wir ein Ritual durchführen, z. B. indem wir mit den Sinnen etwas sehen, anfassen, riechen etc. Es ist am besten, wenn es körperlich und nicht nur geistig durchgeführt wird. Es geht darum, einen spirituellen Prozess physisch zu verwirklichen. Das Mysterium unserer physischen Existenz ist irgendwie Teil eines jeden Rituals. Das ist eine viel komplexere Frage und letztlich DAS christliche Thema, aber für diese Erläuterung dafür haben wir hier weder Zeit noch Platz!
C. P.: Gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit gibt es viele Rituale, z. B. Laterne gehen an St. Martin, Halloween, Advent mit Kerzen und gerade Weihnachten und Sylvester ist voller Rituale. Was bekommen wir von ihnen?
L. Barr: Die dunkle, kalte Jahreszeit in der nördlichen Hemisphäre ist schwierig für die Seele. Früher ging es um das existenzielle Überleben im Winter. Jetzt geht es eher darum, wie wir innerlich durch die dunkle kalte Jahreszeit kommen.
Dunkelheit und Kälte sind feindlich für die menschliche Existenz. Sie sind nicht unser natürliches Element. Sie können uns an unsere Grenzen bringen. Sie eignen sich deshalb besonders gut als Schwellenzeiten im Jahr.
Das keltische Fest Beltain läutete diese Schwellenzeit des Jahres ein und wurde von vielen Ritualen begleitet. Rituale besänftigten für die antike Seele die Götter, die Wesen auf der anderen Seite der Schwelle. Halloween, Allerseelen und Allerheiligen haben ihren Ursprung in diesen Ritualen der Schwelle.
Heute finden wir, dass die Feste von Advent und Weihnachten uns besonders durch diese dunkle Zeit des Jahres helfen.
Sie wecken Wärme und Licht in uns.
Auf einer tieferen Ebene denke ich, dass die Welt der Nacht unsere Beziehung zum Unbekannten, zum Tod und zur geistigen Welt darstellt. Man denke an Novalis‘ ‚Hymnen an die Nacht‘. Aus diesem Grund ist der Winter die Jahreszeit schlechthin für das rituelle Leben.
Der Sommer ist einfach nicht vergleichbar. Er hat nicht die gleiche tiefe, geheimnisvolle Stimmung. Im Sommer verlieren wir uns in der Natur. Im Winter müssen wir uns nach innen wenden. Und dort finden wir die Anfänge unseres Eintritts in die geistige Welt. Das Symbol des Winters für die Bemühungen der menschlichen Seele, sich der geistigen Welt zu nähern, ist das Licht, und zwar meist eine bescheidene Kerzenflamme. Das Ritual ist eine Möglichkeit, das Licht bewusst zu entzünden und in unserem eigenen Tempo in einen größeren Zusammenhang einzutreten.
C. P.: Hast du Ideen, wie man Menschen oder Gemeinschaften dazu anregen kann, Rituale zu praktizieren?
L. Barr: Ich arbeite, meine ich, mit besonders starken Ritualen, die von Rudolf Steiner vermittelt wurden. Ich würde zunächst einmal jeden, der sich für rituelle Erfahrungen interessiert, ermutigen, Offenheit zu üben und zu schauen, was er in einem solchen Ritual in der Christengemeinschaft erlebt.
Unsere Bewegung bietet starke Rituale an, aber diese können durch eigene Rituale des Einzelnen auf gesunde Weise unterstützt werden. Das war in der Antike der Fall. Jedes Haus hatte seinen eigenen Altar. Aber man opferte auch auf dem Gemeinschaftsaltar im Tempel.
Ich denke, dass ein Ritual von Natur aus etwas Religiöses ist. Es hat eine außergewöhnliche Kraft, so wie es die Religion in der Vergangenheit traditionell hatte. Diese inhärente Kraft kann ambivalent sein: Sie verlangt von uns ein hohes Maß an Bewusstsein und Moral. Ohne diese spielen wir mit dem Feuer.
Ich denke, dass Rituale bei allen „Schwellenereignissen“ im Leben hilfreich sein können. Es hilft, die wichtigen Momente zu markieren, die guten und die schwierigen. Der bewusste Umgang mit ihnen bringt das Beste in uns zum Vorschein. Wir stellen fest, dass wir über Dinge anders denken können, oder über jemanden, der uns vielleicht verletzt hat oder den wir verletzt haben. Rituale haben die Kraft, uns auf eine andere Ebene zu heben, die sich vertraut anfühlt, wie ein geistiges Zuhause.
in eine bewusstere Begegnung mit dem Ereignis treten
Dann wäre die Frage, welches Ereignis ich zu einem Ritual mitbringen muss, wo ich es nicht als etwas erleben kann, das mir passiert oder das mich überwältigt hat (wie z. B. ein Wutanfall), sondern wo ich ihm bewusst begegnen kann, es ehren kann, indem ich es zum Ritual einlade, und die Chance habe, in eine bewusstere Begegnung mit dem Ereignis zu treten. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Tages jemanden getroffen habe und während der Begegnung verärgert oder wütend wurde, kann ich in diesem Moment auf verschiedene Weise reagieren. Vielleicht bedauere ich diese Reaktion oder finde sie unangemessen oder sie wird der Erfahrung nicht gerecht. Später kann ich in das Ritual eintreten, in einem Raum, der vorher physisch vorbereitet wurde, vielleicht mit einem Objekt, das meine Emotion oder die Situation, die ich erlebt habe, repräsentiert. Ich kann diesen Gegenstand ehren, ihn mit Respekt behandeln, Ehrfurcht und Hingabe für ihn empfinden, als ein physisches Symbol für etwas, das ich flüchtig erlebt habe. Vielleicht rezitiere ich in diesem rituellen Moment Worte, die ich von einem spirituellen Autor gefunden habe, oder meine eigenen Worte, die ich vorher geschrieben habe.
danach werde ich eine ganz andere Resonanz haben
Wenn ich das ernst nehme, werde ich danach eine ganz andere Resonanz auf dieses Gefühl oder diese Situation haben. Es hat eine Wandlung durchgemacht. Dass ich das körperlich praktiziert und nicht nur gedacht habe, macht einen großen Unterschied. Wir Menschen sind Erdenwesen, handelnde Wesen, nicht einfach Seelen, die Gedanken haben! Wir sind so erschaffen worden, dass wir Dinge tun können.
Man könnte sagen, dass das Ereignis oder das Gefühl, das ich erlebt habe, ein Archetyp ist, ein geistiges Wesen. Auch wenn wir ihnen im Chaos des Alltags begegnen müssen, wäre es klug, sie zu einem Ritual einzuladen, und sei es noch so klein und bescheiden, wo sie sich angemessen gewürdigt fühlen und wo wir sozusagen das Brot mit ihnen brechen können.