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„Russland – Herzschlag einer Weltmacht“
Auszüge aus dem Buch von Kai Ehlers, Hamburger Autor und Russlandforscher
„In einer Zeit, in der Ratlosigkeit in der Welt um sich greift, wird es immer wichtiger, nach Kräften Ausschau zu halten, die Zukunft bilden können. Lassen sich solche Kräfte allen Ängsten, Warnungen und Kritiken zum Trotz im heutigen Russland entdecken?“ Mit diesem Anliegen erforscht Kai Ehlers die Situation Russlands, durch Reisen und vor allem Gespräche mit den Menschen, die dort leben. Sein Gesprächspartner in diesem Buch ist der Russe Jefim Berschin, ein Zeitzeuge der sowjetischen Wandlungen der letzten Jahrzehnte. Beide führen in einer Etagenwohnung in einem Moskauer Vorort Dialoge über die nachsowjetische Ära, über Grundmotive russischer Mentalität, Geschichte und Kultur und über die geografische und politische Entwicklung Russlands. Diese Gespräche, sowie ein Briefwechsel und Artikel von Kai Ehlers sind in dem Buch „Russland – Herzschlag einer Weltmacht“ veröffentlicht und geben intime Einblicke in die russische Seele und das Leben in dieser Region.
Auf den folgenden Seiten sind einige Leseproben, unter jeweiligen Überschriften, abgedruckt.
Kai Ehlers, 1944 in Brüx bei Prag geboren, lebt in Hamburg. Er studierte Deutsch, Publizistik, Theaterwissenschaft, beendete aber sein Studium 1968 zugunsten von Gemeinschaftsexperimenten. Ab 1970 war er als politischer Journalist in der außerparlamentarischen Opposition (APO) und ihren Organisationsnachläufern tätig. Seit Mitte der Achtzigerjahre richten sich seine Aktivitäten auf die Sowjetunion beziehungsweise Russland. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema der nachsowjetischen Transformation.
Jefim Berschin, Poet, Schriftsteller, Journalist, Zeitzeuge der nach-sowjetischen Wandlungen. 1951 in Tiraspol geboren, der Hauptstadt der «abtrünnigen» Dnjestr-Republik. 1992 musste er Moskau verlassen, wo er seit 30 Jahren lebte, und kehrte in seine Heimat zurück, als der Krieg zwischen Moldau und Pridnestrowien, der späteren Dnjestr-Republik, ausbrach. Dort wurde er Augenzeuge der blutigen Auseinandersetzungen. Zehn Jahre lang war Jefim Berschin Redakteur der bekannten Moskauer Zeitschrift Literaturnaja Gasjeta, bis sie im Jahre 1998 von Oligarchen übernommen wurde. Als Berichterstatter nahm er am abchasisch-georgischen und danach am tschetschenischen Krieg teil. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Publizist. Das wichtigste Anliegen Jefim Berschins ist jedoch die Poesie. Viele seiner Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Aspekte zur geschichtlichen Entwicklung
Stalins Ordnung hatte dem pluralistischen, adaptiven und integrativen Wesen des russischen Kolonialismus das Korsett eines Imperialismus übergestülpt, in dem Herrschaft über Integration stand. Damit wurde sie dem westlichen Imperialismus ähnlich, nachdem Lenin zuvor noch versucht hatte, in der neuen Sowjetunion eine dem Wesen russischer Vielfalt entsprechende innere Ordnung zu schaffen. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts schien die Chance gekommen, diese willkürliche Ordnung wieder aus ihrer Erstarrung zu lockern. Die Auflösung der Union schien dazu den allgemeinen Startschuss zu geben.
Sehr schnell zeigte sich jedoch, dass eine Neuordnung des sowjetischen Raumes nach den Prinzipien der Souveränität von Völkern, wie sie der westlichen Staatstheorie entsprachen, in der durchmischten eurasischen Realität, in der sich gewachsener russischer Pluralismus und sowjetische, genauer Stalin’sche Gleichmacherei überlagerten, nur in einzelnen Fällen möglich war.
(S. 180/181 „Vorbild Westen?“ Artikel K. Ehlers)
Auflösung des sowjetischen Imperiums
Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst. An seine Stelle ist ein loser Bund eurasischer Staaten getreten, deren Beziehungen untereinander bis heute noch nicht wieder geordnet sind. Kriege in den neuen Grenzgebieten zeugen davon. In der Russischen Föderation, die als größtes Gebiet der ehemaligen UdSSR aus deren Teilung hervorging, setzte sich der Zerfall des eurasischen Imperiums in Form einer Regionalisierung fort, die auch den alten russischen Kern des sowjetischen Imperiums auseinanderzureißen drohte. Die Aufforderung Boris Jelzins: «Nehmt euch so viel Souveränität, wie ihr braucht», mit der er den am Bestand der Sowjetunion festhaltenden Gorbatschow 1990/91 übertrumpfte, wirkte nach der Auflösung der Union auch in der neu definierten Russischen Föderation wie Sauerstoff auf einen Schwelbrand: Reihenweise erklärten Republiken, Kreise, Städte und Dörfer, ja Bezirke in Moskau und anderen Städten Russlands ihre Unabhängigkeit.
Nachdem er mit dem Versprechen, jedem die von ihm gewünschte Souveränität zu überlassen, an die Macht gekommen war, ging Boris Jelzin nach seiner Wahl zum russischen Präsidenten mit Gewalt gegen diese Tendenzen vor. In der «tschetschenischen Frage» führte dies zwischen 1994 und 2006 zu zwei schmutzigen Kriegen, die sich wie Geschwüre in die russische Gesellschaft fraßen. …
Nicht weniger katastrophal wirkte eine zweite Aufforderung Jelzins. Unter der Parole: «Bereichert euch!» unterwarf er das Land per «Schocktherapie» einer allgemeinen Privatisierung bei gleichzeitigem Wegfall jeglicher staatlichen Kontrolle der Wirtschaft. Gewachsene wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge lösten sich auf, ohne dass Neues an deren Stelle gesetzt worden wäre. Beschleunigt durch den Zerfall des Landes in anarchische Inseln führte der versprochene schnelle Übergang zur Marktwirtschaft auf diese Weise in die tiefste Krise der russischen Geschichte, die sich als allgemeine Desintegration gewachsener staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen ausbreitete und das Leben der Menschen, wo sie sich nicht dagegen wehrten, auf Selbsthilfe reduzierte.
Reisen durch das Land glichen zu dieser Zeit einer Fahrt durch die Wüste: Die Auslagen der Geschäfte waren leer, die Städte verfielen, die Bahnhöfe glichen eher Invalidenstationen als Reisezentren. «Altes wird liquidiert, Neues nicht aufgebaut», «wir leben nicht, wir vegetieren», «jeder für sich statt alle für einen», so lauteten die Klagen der Bevölkerung, denen man zu dieser Zeit begegnete. In der sogenannten Provinz fror das Leben ein – Bauruinen und stillgelegte Anlagen, wohin das Auge reichte. …
(S. 22 / 24/ 25 „Die Smuta“ Artikel Kai Ehlers)
Die „Smuta“
Der gesellschaftliche und staatliche Konsens im Land löste sich auf. Russland trat in einen Zustand ein, den viele seiner Bewohner mit der Smuta verglichen, der verwirrten Zeit nach dem Tod Iwans IV., des Schrecklichen, von 1584 bis zur Krönung Michail Romanows 1613. Diese Jahre gelten im kollektiven russischen Gedächtnis als Zeit der schlimmsten, dunkelsten Zustände, in denen Chaos und Irrationalität die Oberhand gewannen.
Ähnliche Zustände, in denen sich jede Ordnung auflöste, weil das Zentrum seine Funktion verlor, traten immer wieder in der russischen Geschichte auf. Andererseits führten solche Zeiten der Verwirrung immer wieder zu Erneuerungen, zu Aufbrüchen, zu neuer Größe Russlands. …
Die immer wieder erfolgte Erneuerung Russlands aus der Smuta erscheint vielen Menschen in Russland unbegreiflich, unbegründbar, mit dem Verstand nicht zu erfassen und wird zugleich als unabweisbar erlebt wie ein Naturgesetz. Wie die Nabe eines Rades über die Speichen untrennbar mit dem Radkranz verbunden ist, so sind die vielfältigen und widersprüchlichen Energien Eurasiens über Russland, über sein Moskauer Zentrum miteinander verbunden und stützen sich gegenseitig. Osten und Westen, Norden und Süden dieses Kontinents sind durch Moskau zu einem Ganzen vermittelt. Im Speichenrad findet Russlands mnogoobrasnost, seine Vielgestaltigkeit, ihr Urbild, wie es am radikalsten von Dostojewski beschrieben wurde: Alles und nichts, Zentralismus und Anarchismus, Väterchen Zar und Mütterchen Russland steigern sich gegenseitig ins Extrem, bekämpfen einander und stützen sich zugleich gegenseitig in großer, liebevoller Verwirrung.
Eine Smuta entsteht, wenn der Zusammenhang zwischen Speichen, Nabe und Radkranz zerfällt und die Einzelteile unverbunden zurückbleiben. Sicher ist nur noch, dass sie zusammengehören, um ein vollständiges Rad zu bilden. So trifft man auch heute, allen Klagen zum Trotz, kaum jemanden, der oder die zurück will in die Zeit vor der großen Wende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre. Selbst die Menschen, die ihren kommunistischen Überzeugungen treu geblieben sind, wollen nicht unter die Herrschaft eines Einparteiensystems zurück. Irgendwie wird es vorangehen. Auch wenn zurzeit niemand weiß wie, wird sich schon jemand finden, der die Teile wieder verbindet, weil es nicht anders sein kann, weil man sich sonst in diesen Grenzenlosigkeiten verliert. Das «Große Russland» mit Moskau als seinem Zentrum «war, ist und wird sein», das ist eine unumstößliche Überzeugung, die jedem, der durch Russland reist oder Russen im Ausland trifft, immer wieder entgegentritt.
(S. 25/26 „Die Smuta“ Artikel von Kai Ehlers)
Die 90-er Jahre
„ … Was es bedeutet, ohne Staat zu leben, das haben wir in den 1990er-Jahren am eigenen Leib erfahren. Auch wenn ein Staat noch so schlecht ist, hat er doch immer noch eine Schutzwirkung. Wenn es keinen Staat gibt, dann ist die Bevölkerung sich selbst überlassen, hat nichts, womit sie sich schützen kann, niemanden, den sie um Hilfe bitten kann, dann lebt der einzelne Mensch allein im Kosmos. Lange kann das nicht gehen. In einer Welt, in der es den Staat gibt – und unsere Welt ist zurzeit noch so eingerichtet, dass der Staat darin eine sehr bedeutende Rolle spielt, vor allem sozial – ist es für den Menschen äußerst schwer, ohne Staat zu leben. Das galt umso mehr für Menschen, die in einem sehr starken Staat lebten, in einem totalitären Staat, der ihnen einerseits keine Freiheit gab, sie andererseits rundum versorgte. Anstelle eines starken, freien, effektiven Staates erhielten wir nun aber einen schlappen, erhielten wir Chaos. Das ist unsere neue Smuta.»
(S. 31 „Die Smuta“ Im Gespräch mit Jefim Berschin)
Gorbatschow
Zur Zeit Gorbatschows Mitte der 1980er-Jahre kam der Terminus tschelowetscheskij faktor, «menschlicher Faktor» oder auch einfach «Faktor Mensch», in der Sowjetunion auf. Schon seit Anfang des Jahrzehnts hatten sich an den Peripherien des Landes Kräfte entwickelt, die auf eine Modernisierung des sowjetischen Lebens hinarbeiteten, während das Zentrum unter dem alternden und kränkelnden Breschnew in Stagnation zu versinken drohte. … Der Parteidoktrin, die auf einem Bündnis von Arbeitern, Bauern und Intelligenz fundierte, wurde ein auf soziologische Untersuchungen gestütztes differenziertes Bild der sozialen Verhältnisse entgegengestellt, das in der Forderung nach Befreiung der persönlichen Initiative mündete.
(S. 43 „Faktor Mensch“ Artikel von Kai Ehlers)
„Faktor Mensch“
Im Aufruf zur Befreiung des «Faktors Mensch» konzentrierte sich die Botschaft all dieser Impulse auf widersprüchliche Weise. Sie hieß: «Schneller, intensiver, qualifizierter, effektiver», aber auch: «Der Mensch an erster Stelle!» Glasnost, also Transparenz, und Demokratie lauteten die Parolen, die in der Sowjetunion auf Plakaten, Banderolen, Stickern, Broschüren und bei Veranstaltungen der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre unters Volk gebracht wurden.
Eine gewaltige Welle des Aufbruchs schwappte über das Land: Religionsfreiheit, Reisefreiheit, Legalisierung des privaten Handels. Die Zahl der Gesetze und Verordnungen, die eine Liberalisierung nach der nächsten sanktionierten, ließ sich nicht mehr mit bloßem Auge überblicken.
Mit dem Privatisierungsprogramm Boris Jelzins ging die sogenannte wilde Privatisierung 1991 in eine von der Regierung angeordnete Entkollektivierung über. Kern des Privatisierungsprogramms war die Auflösung der auf industrielle, agrarische wie wissenschaftliche Betriebskollektive aufgebauten kollektiven Lebensstruktur, die als Haupthindernis für eine Effektivierung und Modernisierung betrachtet wurde.
(S. 46/47 „Faktor Mensch“, Artikel Kai Ehlers)
„Werdet reich“
Jefim holt tief Luft, dann stößt er hervor: «Es ging ein Umdenken vor sich! Werdet reich! – Aber keiner sagte wie. Man gab den Menschen keine Möglichkeiten. Psychologisch waren nur die kleinen Spekulanten bereit, nur die tenewiki, die Vertreter der Schattenwirtschaft, das heißt die Leute, die sich schon vorher mit diesen Fragen beschäftigten. Jetzt eröffneten sie ihre Kioske. Sie produzierten nichts, sie kauften nur, um weiterzuverkaufen. Die anderen trauten sich nicht, weil niemand wusste, wie lange die Reformen halten würden. Vielleicht kommt nach Gorbatschow wieder ein Stalin. Oder es geschieht irgendetwas anderes. Da war eben auch noch das Element der Angst, des Misstrauens. Man hatte den Menschen beigebracht, nichts zu riskieren: Initiative ist strafbar! Das kann ich nicht oft genug wiederholen. Es entstand die einzigartige Situation, dass der Mensch aufhörte, Objekt zu sein, aber nicht Subjekt wurde.»
«Den ‹Faktor Mensch›», fasst Jefim schließlich zusammen und ich spüre, dass ihm noch etwas am Herzen liegt, «erhielten wir in der Gestalt von Spekulanten, Händlern, Banditen und am Ende von Oligarchen. Aber nicht nur das, der Zerfall betraf auch die allgemeinen Lebensbedingungen. Die Möglichkeit, sich innerhalb der Grenzen Russlands zu bewegen, schrumpften von Unendlich auf Null. Das ist eine echte menschliche Tragödie. Viele Russen lebten zudem plötzlich außerhalb der Grenzen Russlands und neben den Russen noch andere, noch viele andere, die sich der russischen Kultur zugehörig fühlten, in der Ukraine, in der Dnjestr-Republik,40 auch in den baltischen Ländern, wo heute auf parlamentarischem Wege quasi faschistische Gesetze verabschiedet werden. …
(S. 54/55 „Faktor Mensch“, im Gespräch mit Jefim)
Nachbarschaftshilfe!?
Andere, wende ich ein, hätten sich umso fester zusammengeschlossen, sich zu Solidargemeinschaften im Netz von Großfamilien, Verwandten, Nachbarschaftshilfen erweitert. Aber Jefim ist sich nicht sicher: «Die einen haben geholfen, die anderen nicht. Vieles hat sich geändert», meint er zögernd. Die Menschen seien schon sehr viel individueller. Das werde besonders in den Städten bemerkbar. «Früher ist man zu Bekannten, zu Freunden gegangen: Hallo, mein Lieber, guten Tag! Komm herein, setz dich! Es gibt Mittag, essen wir! Alles gut, man spricht miteinander. – Aber das hat sich geändert.
Die Menschen haben begonnen zu rechnen. Heute muss man erst anrufen; da gibt es dann vielleicht ein Tässchen Kaffee anstelle des Essens. Dann wird vielleicht ein bisschen geredet; man weiß nicht so recht worüber.»
Also diese Gastfreundschaft, fasst Jefim zusammen, die Brot-und-Salz-Tradition schwinde dahin. Er wolle nicht sagen, dass alles verschwinde; vieles erhalte sich auch, aber in großen Städten weniger als irgendwo in der Provinz: Er verstehe, warum die Menschen sich so veränderten, fügt er nach kurzer Pause hinzu: Geld! – Er verstehe nur eins nicht: Geld zu verdienen sei schwer, aber in Moskau könne man inzwischen gut Geld verdienen. Man müsse hart arbeiten, aber man könne verdienen und mit Geld könne man in Moskau ausgezeichnet leben. «Aber gerade die Menschen, die gut verdienen», schließt Jefim, «geben dir Kaffee und nicht mehr. Früher dachte man nicht ans Geld; wieso war man da nicht so berechnend?» … «Die Menschen dachten nicht über Geld nach», antwortet Jefim, wie aus einem Traum erwachend. «Ich zum Beispiel dachte nicht an Geld. Diese Sphäre hat für mich nicht bestanden. Ich bekam mein kleines Gehalt, ich wusste, dass ich es bekomme. Ich arbeitete, beschäftigte mich mit meinen Dingen, schrieb, lebte. Ja, das Leben war arm, aber ich konnte immer noch ein Fläschchen Wein oder Wodka holen, mit Freunden zu Gesprächen zusammensitzen. Mein Sohn war satt, war gut gekleidet. Wir hatten wenig, aber wir dachten überhaupt nicht über Geld nach. Den Teil des Kopfes, in dem sich das Geld befindet, den gab es bei uns einfach nicht. Das war Freiheit! Heute muss selbst ich, obwohl ich von Natur aus genügsam bin, ständig daran denken: Wie viel habe ich? Wie viel brauche ich dafür, wie viel brauche ich hierfür? Wie viel bleibt mir? Was wird morgen sein? Wie werde ich abgesichert sein? Wenn ich morgen krank werde oder alt oder nicht arbeiten kann, wie werde ich dann leben? Das alles gibt es seit einigen Jahren in meinem Kopf. Und warum das? Heute ist der Mensch schutzlos, kulturlos. Ich kann nur eins sagen: Nach dem ganzen Gerede vom ‹Faktor Mensch› haben wir heute einen Menschen, der keine Bücher mehr liest.»
(S. 58/59/60 „Faktor Mensch“ im Gespräch mit Jefim)
Putin
Tatsache ist, dass Putin Russland an die Quellen seines Reichtums zurückgebracht, die Bevölkerung beruhigt, das Land als aktiven Teilnehmer in die Weltpolitik zurückgeholt und damit seinen Nachfolgern eine Basis für Russlands wiedergewonnene Unabhängigkeit geschaffen hat.
(S. 104 „Labyrinthische Wende“ Artikel Kai Ehlers)
… es kam nur ein Mensch mittlerer Größe, noch dazu nicht gewählt, sondern von Jelzin installiert, Wladimir Putin, der sagte nur einige Sätze, aber die reichten, um zu begreifen, dass da jemand kam, der so denkt, wie auch das Volk denkt. Er sagte, man müsse den Staat wiederherstellen, er sagte, man dürfe sich nicht mehr erniedrigen lassen. Russland habe sein eigenes Interesse und dieses müsse man schützen. Mehr war nicht erforderlich. Vor den Wahlen 2000 gab eine Reihe von Kandidaten; alle trugen ihr Programm vor und machten ihre Versprechungen, wie man es schon seit fünfzehn Jahren gehört hatte. Dieser Mann hatte nicht einmal eine Wahlkampagne nötig.»
… «Er sagte etwas Interessantes – nun gut, lass ihn reden … Aber dann passierte etwas Merkwürdiges: Man nahm ihn an und man liebte ihn. Ja», wiederholt Jefim, «man liebte ihn!»
(S. 110/111 „Restauration oder Entwicklungsland neuen Typs?“ Im Gespräch mit Jefim)
Russisch sein
Russisch sein bedeutet, die Extreme des Landes in sich zu vereinen, durch sich selbst zu versöhnen, zu verbinden oder zu leugnen. Der Drang nach Harmonisierung wächst dabei mit dem Grad der Extreme: Je differenzierter, je vielgestaltiger, je zerrissener das Land, umso größer der Druck, diese Einzelteile zusammenzuhalten. Glaube ist in Russland das durch diese Realität geprägte Wissen um die nicht begründbare, aber unabweislich erlebbare Zusammengehörigkeit der Extreme. Das ist die Kraft, die das große eurasische Rad zusammenhält. Wo der Glaube nicht stark genug ist, verwandelt er sich in Gewalt, verwandelt sich das Bewusstsein, zwischen allem zu leben, in die Überzeugung, über allem zu stehen. Militante Mystiker haben aus dieser Konstellation immer wieder imperiale Missionen Russlands abgeleitet. Realisten sehen in ihr eine Verantwortung.
(S. 237 „Elemente einer neuen Ethik?“ Artikel von Kai Ehlers)
Russland – ein Entwicklungsland neuen Typs
Russland ist heute – zum wiederholten Male – zum «Entwicklungsland» geworden, ein Entwicklungsland neuen Typs allerdings – nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne eines wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch in seiner geistigen Gestalt. Es gibt keine eindeutigen Prioritäten, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum «Kapitalismus» oder (zurück) zum «Sozialismus», zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen.
(S. 221, „Russland – ein Entwicklungsland neuen Typs“ Artikel von Kai Ehlers)
In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin machte den Versuch, den Zentralismus zu modernisieren, nachdem ihn Gorbatschow zur Disposition gestellt und Jelzin ihn ins pluralistische Chaos überführt hat. Putins Stärke war dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegenhandelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, für die die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.
Als Ergebnis vertieft sich die Spaltung in eine marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft nach den Vorstellungen der herrschenden politischen Klasse und eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten besinnt.
(S. 224, „Russland – ein Entwicklungsland neuen Typs“ Artikel von Kai Ehlers)
Impulse für die Zukunft
Das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis der Perestroika, das Gorbatschow sich seinerzeit ganz sicher nicht und Jelzin noch viel weniger träumen ließ und was auch der gegenwärtigen Regierung offensichtlich nur dunkel bewusst ist: Russland lebt heute in einer Symbiose von Tradition und Moderne und kann dies für die Zukunft ausbauen. Ich spreche von der in Russland zu beobachtenden Kombination von Industrie- und Selbstversorgungskultur, von Fremd- und Eigenversorgung. Dabei ist die Selbstversorgungskultur ja nicht nur ein Notbehelf, sondern Ausdruck einer jahrhundertealten, ins Land selbst und in die Kultur seiner Menschen eingeschriebenen Entwicklung. Darin sehe ich die Kraft, Impulse für eine andere als nur konsumorientierte Zukunft zu entwickeln.
Aus all diesen Gründen, lieber Jefim, spreche ich von einem Entwicklungsland neuen Typs. Putins Welt, auch die durch ihn geformte Welt seiner Nachfolger, könnte den Rahmen, gewissermaßen das Schutzschild für ein solches Russland abgeben, wenn genügend Menschen sich trauen, über Putin wie auch seine Nachfolger hinaus das andere, das nicht-konsumistische, das kulturelle Russland zu denken und zu leben.
(S. 281 „Ausgang“ Brief von Kai Ehlers an Jefim)
Alle Abbildungen von Herman Prigann
www.terranova.ws
Alle Abdrucke mit freundlicher Genehmigung des Pforte Verlages
Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Kai Ehlers. 1. Auflage 2009, Pforte Verlag, Dornach. www.pforteverlag.com
ISBN 978-3-85636-213-3