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Traumata
Verletzung – Heilung – neue Ressourcen gewinnen
Interview mit Annette Horster-Schepermann, Traumatherapeutin
Das Wort „Trauma“ wird seit einiger Zeit häufig verwendet. Flucht und Kriege sind häufig Ursachen von Traumatisierungen, aber auch andere Ereignisse führen zu seelischen Verletzungen. Wann aber kann man von einem Trauma sprechen und was sind Traumafolgestörungen? Die heutige Traumatherapie kann diese Verletzungen heilen oder zumindest deutlich lindern. Und: „Wir dürfen uns heute bewusst machen: Wir geben nicht nur unverarbeitete Traumatisierungen, sondern auch deren Überwindung und unsere dabei errungene Ich-Stärke und Resilienz transgenerational an unsere Kinder und zukünftige Generationen weiter!“
Interviewpartnerin: Annette Horster-Schepermann, Studium der Psychologie in den USA und Hamburg. Seither tätig als Psychologin im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst in Eppendorf und in der waldorforientierten Psychotherapeutischen Praxisgemeinschaft Bergstedt. Weiterbildungen in Anthroposophischer Psychotherapie, Familientherapie und Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenen-Traumatherapie, waldorforientierte analytische Kunsttherapeutin, Sterbebegleiterin. Mitbegründerin und fachliche Leitung des Isis-Institutes Hamburg und des Pegasos-Netzwerkes für spirituell erweiterte integrative Traumatherapie. Seit 2022 fachliche Leitung der beiden Weiterbildungsgänge in waldorforientierter Traumapädagogik und Traumatherapie des Isis-Institutes Hamburg (www.isis-institut-hamburg.de), Mitautorin des Lehrbuches für waldorforientierte Trauma- und Notfallpädagogik „Kinder stärken – Zukunft gestalten“, Dozentin zur Pentagramm-Traumaarbeit im Studiengang Notfall- und Traumakunsttherapie an der Alanus-Hochschule in Alfter.
Christine Pflug: Die Begriffe Trauma und Traumatisierung werden in der letzten Zeit häufig benutzt, manchmal habe ich den Eindruck, auch unangemessen und inflationär. Was genau ist ein Trauma?
Annette Horster-Schepermann: Ein Trauma ist eine Verletzung. Ein seelisches Trauma, ein sog. Psychotrauma, ist eine Verletzung der seelischen – und auf körperlicher Ebene auch der neurobiologischen – Integrität.
eine dauerhafte Erschütterung von Selbst – und Weltverständnis
Eine viel rezipierte Definition aus dem 1998 erschienenen „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ des Hamburger Kinderpsychiaters Prof. Dr. Peter Riedesser und seines Kölner Kollegen Prof. Dr. Gottfried Fischer beschreibt ein Trauma als „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst – und Weltverständnis bewirkt“. Hierin enthalten ist der Erlebensaspekt und der Ressourcenaspekt: Ein Ereignis ist erst dann ein Trauma, wenn es auch als solches erlebt wird, und ob es als solches erlebt wird, hängt von individuellen Bewältigungsmöglichkeiten ab, d.h. davon, ob äußere und/oder innere Ressourcen vorhanden sind, welche die Bewältigung des Erlebten möglich machen. Zu unterscheiden ist deshalb zwischen dem potentiell traumatisierenden Ereignis selbst, das umgangssprachlich oft fälschlicherweise als Trauma bezeichnet wird, und den sogenannten Traumafolgen. Denn nicht alle Schock- oder extremen Stresserlebnisse ziehen zwangsläufig und bei jedem Menschen eine länger anhaltende Posttraumatische Belastungsstörung nach sich. Es gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen der modernen Traumaforschung, dass es Menschen gibt, die aufgrund hoher äußerer und/oder innerer Resilienzfaktoren widerstandsfähiger sind als andere. Und das ist wichtig zu beachten, denn von diesen Menschen können wir lernen! Sie entwickeln zwar auch häufig Symptome einer akuten Belastungsreaktion (wie emotionale Betäubung, Bewusstseinseinengung, vegetative Erregung, Flashbacks und Vermeidungsverhalten), überwinden diese aber innerhalb einer überschaubaren Zeit (meist Tage bis Wochen) von selbst wieder. Wichtig ist allerdings, in diesem Zusammenhang zu betonen, dass es selbstverständlich traumatogene Situationen gibt, die praktisch bei allen Betroffenen eine schwere und u. U. auch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung hervorrufen, wie beispielsweise die Situation, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden oder auch anhaltendes Mobbing, insbesondere, wenn dies in der Kindheit erlitten wird. Generell kann man sagen, dass junge Menschen, aber auch Menschen, die in irgendeiner Weise eingeschränkt oder benachteiligt sind, besonders gefährdet sind.
C. P.: Welche Symptome gehören zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung?
A. Horster-Schepermann: Zu den Hauptsymptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung gehören vegetative Übererregung, Nachhallerinnerungen (Flashbacks) und das Vermeiden von sog. Triggern, also allem, was an das Erlittene erinnern und dadurch Flashbacks auslösen könnte. Bei unbehandelten Traumafolgestörungen kommen mit der Zeit in etwa 90 % der Fälle weiter psychische und psychosomatische Folgesymptome hinzu, wie z. B. Ängste, Zwänge, depressive Symptome, psychosomatische Erkrankungen, Suizidgedanken etc. Für die Diagnose ist es definitionsgemäß notwendig, dass die oder der Betroffene zuvor einem extrem bedrohlichen oder schrecklichen Ereignis oder einer Folge solcher Ereignisse ausgesetzt war. Für kleine Kinder kann aber beispielsweise das Verlorengehen in einem Kaufhaus oder ein medizinischer Routineeingriff bereits dieses sog. Situationskriterium erfüllen.
vegetative Unruhe, Schreckhaftigkeit, Neigung zu Flashbacks und Vermeidung von Triggerreizen
C. P.: Durch was entsteht ein Trauma?
A. Horster-Schepermann: Ein Trauma, genauer eine Posttraumatische Belastungsreaktion, entsteht dadurch, dass es – auf Wesensgliederebene gesprochen – zu einer Dissoziation des Wesensgliederzusammenhanges und auf der Ebene der Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens zu einer Dissoziation des harmonischen Zusammenspiels dieser Seelenkräfte kommt und diese Dissoziation sich nicht mit der Zeit von selbst wieder harmonisiert und zurückbildet. Auf neurobiologischer Ebene (die wir aus anthroposophischer Sicht allerdings nicht als ursächliche Ebene, sondern als eine Spiegelung seelisch-geistigen Vorgänge begreifen) kommt es durch ein Traumatisierungserleben zu einem Umschalten in das sog. „neurobiologische Notfallprogramm“, das unter Extremstress in Bruchteilen von Sekunden ausgelöst werden kann. In diesem „Notfallprogramm“ werden alle körperlichen Funktionen auf das blanke Überleben und/oder den Schutz von Angehörigen ausgerichtet. Kampf, Flucht oder Totstellen sind die noch möglichen, reflexartig zur Verfügung stehenden Verhaltensalternativen. Der Preis: Unter Extremstress wird die sog. explizite Verarbeitung des Erlittenen (unter Beteiligung des Großhirns) gehemmt und die traumatischen Bilder werden implizit (in niedereren Gehirnbereichen) gespeichert. Dadurch können sie später durch sog. Triggerreize unterhalb der Bewusstseinsschwelle ausgelöst und als sog. Flashbacks in einer Weise wiedererlebt werden, als würde sich das Trauma im Hier und Jetzt wiederholen, mit allen dazugehörigen Sinnesempfindungen, Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Impulsen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung ist das Zurückschalten aus dem Notfallprogramm misslungen. Die weiterbestehende erhöhte Alarmbereitschaft zeigt sich in vegetativer Unruhe, Schreckhaftigkeit, Neigung zu Flashbacks und Vermeidung von Triggerreizen. Wenn diese Reaktionen mehr als 4 Wochen nach dem traumatisierenden Ereignis immer noch anhalten, ist traumatherapeutische Unterstützung sinnvoll und heutzutage auch recht erfolgreich einsetzbar. Spätestens aber nach einem halben Jahr sollte diese aus heutiger Sicht, wenn möglich, aufgesucht werden, um eine weitere Generalisierung der Symptome zu vermeiden.
Traumatisierung oder Destabilisierung?
C. P.: Könnte man also sagen, dass derzeitige Situationen von Krieg und Flucht zu Traumatisierungen führen, aber dass man bei Corona eher von einer Destabilisierung sprechen würde – natürlich im Allgemeinen?
A. Horster-Schepermann: Ja, ganz allgemein könnte man das vielleicht so sagen. Aber man kann eben grundsätzlich nicht sicher voraussagen, ob ein bestimmtes Belastungsereignis von einem individuellen Menschen als traumatisch erlebt werden wird oder nicht. Die Erfahrungen aus den mittlerweile vielfältigen internationalen notfallpädagogischen Einsätzen der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners zeigen allerdings auch sehr eindrücklich, dass es möglich ist, gerade auch durch ganzheitliche, alle Sinne ansprechende und rhythmisierende waldorforientierte Frühinterventionen, die Wahrscheinlichkeit entscheidend zu erhöhen, dass nach einer erlittenen Traumatisierung keine langanhaltenden Traumafolgestörungen entstehen müssen.
Zur Corona-Pandemie möchte ich noch ergänzen: Meine persönliche Beobachtung ist, dass viele Menschen in der Coronazeit nicht nur durch entwürdigend und/oder gefährlich erlebte medizinische Maßnahmen, eine eigene schwere Erkrankung, den unerwarteten plötzlichen Verlust von Angehörigen, Post-Covid-Syndrome, drohende Impfzwänge, Impffolgen und die Nicht-Anerkennung dieser Folgen von Seiten der Schulmedizin, soziale Isolation, gesellschaftliche Spaltungsprozesse und Spaltungen in den sozialen Bezugsgruppen im näheren Umfeld sowie die Konfrontation mit nicht-akzeptierten/nicht-akzeptierbaren staatlich angeordnete Zwangsmaßnahmen, die ja bis in die Möglichkeiten einer freien Berufsausübung eingegriffen haben, stark herausgefordert waren. Mein Eindruck ist auch, dass die Nachfrage nach psychosozialer Unterstützung und Psychotherapie jetzt, in der Post-Corona-Zeit, auch deshalb so stark angestiegen ist, weil viele Menschen während der Pandemie schlicht mehr zur Ruhe und zu sich selbst gekommen sind und sozusagen zwangsweise das tägliche Hamsterrad verlassen mussten. Ohne die gewohnte Ablenkung und in der Ruhe und Verlangsamung auf sich selbst zurückgeworfen, haben viele Menschen erkannt und erkennen müssen, dass sie alte seelische Wunden mit sich tragen, die nach Anerkennung, Beachtung und Heilung rufen. Und viele wollen nicht einfach so wieder in das Hamsterrad zurück! Sie möchten diese Zäsur in ihrem Leben nutzen und ihr Leben noch einmal neu ergreifen und gestalten!
Eine akute Belastungsreaktion hat keinen Krankheitswert.
C. P.: Was ist der Unterschied zwischen einer akuten Belastungsreaktion (ABR) und Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)?
A. Horster-Schepermann: Eine akute Belastungsreaktion (ABR) ist die Reaktion auf ein außergewöhnliches Belastungsereignis oder eine außergewöhnliche, anhaltende Belastungsphase, bei der die gewohnten Bewältigungsstrategien und Verarbeitungsmechanismen der Betroffenen überfordert sind und/oder nicht mehr greifen. Sie ist aber erstmal keine Störung mit Krankheitswert, sondern eine normale, zu erwartende Reaktion, der erst dann ein sog. Krankheitswert zugeordnet wird, wenn sie sich nicht in einem angemessenen Zeitraum von in der Regel einigen Stunden oder Tagen (bis maximal 4 Wochen) zurückbildet. Von einer PTBS spricht man erst, wenn diese Symptome länger als 4 Wochen anhalten und die auslösende Situation ein traumatisches Ereignis mit einem entsprechenden Schweregrad war. Es kann auch Posttraumatische Belastungsstörungen mit einem verzögerten Beginn geben, bei denen erst nach Monaten, bis Jahren – manchmal auch erst nach Jahrzehnten – nach einem traumatisierenden Ereignis Symptome einer Traumafolgestörung zutage treten.
Stabilisierung und Integrationstechniken
C. P.: Wie ist die Therapie bei einem Trauma, bzw. den Traumafolgestörungen?
A. Horster-Schepermann: Die Therapie bei einer Traumafolgestörung verläuft heute in aufeinanderfolgenden Phasen. Nach einer Phase der äußeren und inneren Stabilisierung, die häufig auch imaginative Elemente einschließt, wird das Erlittene in der Regel noch einmal aktualisiert, d.h. unter Anwendung von sog. Überflutungsschutzmaßnahmen noch einmal in den Blick genommen, um nun nachträglich – in all seinen Aspekten und in bekömmlicherer Art und Weise – in den Erinnerungsstrom der eigenen Lebensgeschichte integriert werden zu können. Um dies zu unterstützen, gibt es heute spezielle, hochwirksame, neurobiologisch fundierte Integrationstechniken, mit deren Hilfe in einem Zustand der therapeutisch unterstützten inneren Gelassenheit noch einmal alle zuvor als überwältigend erlebten, auseinandergerissenen oder abgespaltenen Sinneseindrücke sowie Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Willensimpulse aus der traumatisierenden Situation zusammengetragen und habituiert werden. In der Ohmachtsituation des Traumas entstandene, einschränkende negative Glaubenssätze können sich so wieder in vertrauensvolle, positive Annahmen in Bezug auf sich selbst, die Welt und die Zukunft verwandeln. Bei der von mir in Zusammenarbeit mit einer Reihe von Kolleg*innen in den vergangenen 25 Jahren entwickelten waldorforientierten Pentagramm-Methode haben wir uns darum bemüht, die heute als besonders wirksam anerkannten Integrations-Maßnahmen verschiedener Verfahren in eine ganzheitliche und u.a. auch kindgerecht anwendbare, sowie spirituell erweiterte und waldorforientierte Methode zusammenzuführen. Bei Kindern wird die Distanzierung von dem Erlittenen und die Aktualisierung der erlebten Ohnmacht durch das Einweben der therapeutischen Maßnahmen in Spielsequenzen und Geschichten (mit z.B. Tier-Protagonisten, deren Situation gemeinsam in einer fantasievollen „Heldenreise“ zu einem guten Ende geführt wird) erreicht. Die heute zur Verfügung stehenden hochwirksamen und neurobiologisch fundierten Integrationstechniken werden dabei in altersgemäßer, spielerischer Weise in den Heilungsprozess integriert. Die Kinder können sich dabei mit Unterstützung der Therapeut*in als „Drehbuchautor*innen“ und „Regisseur*innen“ in das Geschehen einbringen und dadurch – anders als in der Ohnmachtssituation des Traumas – wieder als selbstwirksam und erfolgreich handelnd erleben. Auch durch die wohlwollende und im Zweifel parteinehmende Haltung der Therapeut*in – und im besten Fall auch der mit einbezogenen elterlichen und/oder anderen pädagogischen Bezugspersonen – kann der erlittenen Ohnmacht und dem traumatisierenden Ausgeliefertsein nachträglich korrigierend entgegengewirkt werden und die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung können sich Schritt für Schritt wieder zurückbilden.
Traumatisierung über Generationen hinweg?
C. P.: Interessant für uns Deutsche ist ja auch die transgenerationale Traumatisierung, an der wir u.a. wegen des 2. Weltkrieges leiden. Wie zeigt sich das?
A. Horster-Schepermann: Transgenerationale Traumatisierungen können, z. B. kollektiv durch Kriege ausgelöst, über eine oder mehrere folgende Generationen weitergegeben werden. Aber auch andere Traumatisierungen können über Generationen weitergegeben werden. So wissen wir, dass Gewalt und sexualisierte Gewalt in Familien häufig über viele aufeinanderfolgende Generationen besteht und nur mit viel selbstreflexiver oder therapeutisch unterstützter Bewusstseinsarbeit von Seiten der Betroffenen einer Generation unterbrochen werden kann. Hier gebührt den Opfern von Gewalt und sexualisierter Gewalt, die es schaffen, ihre Kinder vor ähnlichen Erfahrungen zu bewahren, großer Respekt. Was hoffnungsvoll stimmen kann, ist die Tatsache, dass wir heute wissen, dass nicht nur Traumatisierungen und ihre Folgen weitergegeben werden können, sondern auch errungene äußere und innere Resilienzfaktoren! Es ist also möglich von dem Teufelskreis transgenerational weitergegebener Traumatisierungen in eine Segensspirale weitergereichter Ressourcenmobilisation und Widerstandsfähigkeit zu gelangen! Wenn man bedenkt, dass die heutige Elterngeneration in einer nie dagewesenen Weise offen dafür ist, für sich und ihre Kinder traumapädagogische und traumapsychotherapeutische Hilfe anzunehmen und wenn man bedenkt, dass wir niemals zuvor so gute, hochwirksame und sehr effiziente traumatherapeutische Methoden hatten, wie wir sie seit einigen Jahrzehnten zunehmend zur Verfügung stellen können, dann kann uns das doch an dieser Stelle wirklich einmal hoffnungsvoll stimmen! Ist das, in der heutigen umkämpften Zeit, nicht ein schöner Gedanke?