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„Waldorf100 – Learn to change the world“ Teil I und II
Interview mit Henning Kullak-Ublick, Vorstand und Sprecher Bund der Freien Waldorfschulen
In zweieinhalb Jahren wird „die Waldorfschule“ 100 Jahre jung! Heute ist diese Pädagogik mit rund 1.100 Waldorfschulen und fast 2.000 Waldorfkindergärten in über 80 Ländern ein weltweiter pädagogischer Impuls. Und es werden nach wie vor mehr! Das anstehende 100-jährige Jubiläum bietet die Chance, den pädagogischen Impuls Rudolf Steiners in einem globalen Austausch weiter zu entwickeln. In welcher Welt werden die Schulkinder leben, wenn sie erwachsen sind? Und wie können wir sie darauf vorbereiten? Wie wird die Waldorfpädagogik heute praktisch umgesetzt, damit sie den Anforderungen der Zeit begegnen kann?
Von jetzt an ziehen sich gemeinschaftsbildende Aktionen über die nächsten Jahre bis September 2019. Alle Aktionen folgen dem gemeinsamen Motto „Waldorf100 – Learn to change the world“.
Interviewpartner: Hennig Kullak-Ublick. Er war 26 Jahre Klassenlehrer an der Flensburger Waldorfschule, die er mit aufgebaut hat. 2004 begann er für den Bund der Freien Waldorfschulen tätig zu werden, 2010 entließ er das letzte Mal eine 8. Klasse in die Oberstufe und ist seitdem hauptberuflich für den Bund der Freien Waldorfschulen und die Internationale Waldorfschulschulbewegung tätig. Seit 2013 leitet er in diesem Rahmen das Büro für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg, zusammen mit 5 weiteren Mitarbeitern. 2015 wurde ihm die Gesamtkoordination für das internationale Projekt Waldorf100 übertragen.
Christine Pflug: Eine Ihrer hauptsächlichen Aufgaben ist derzeit Waldorf100. Was ist der Impuls, der dahintersteht?
Henning Kullak-Ublick: Damit verbinde ich zwei wesentliche Impulse. Der eine ist, dass die Waldorfpädagogik wirklich für die ganze Menschheit da ist, also niemals so etwas wie eine „deutsche“ Pädagogik sein sollte. Sie orientiert sich am Menschen selbst – und der ist weder an eine Nation, Religion noch an eine bestimmte Kultur gebunden, sondern ist auf der ganzen Welt da. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich eine globale Zivilgesellschaft herausgebildet, von der auch die Waldorfschulen ein ganz wichtiger Teil sind, weil sie für eine Pädagogik eintreten, die den sich entwickelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt, statt irgendwelche politischen, ökonomischen oder weltanschaulichen Programme auszuführen. Das ist das verbindende Ideal der Lehrer und Eltern, und das erleben natürlich auch die Kinder.
Eine Pädagogik für unsere globalisierte Welt.
Daraus hat sich eine Art globaler Ethos gebildet, der eben nicht darin besteht, dass alle das Gleiche machen, sondern der das Individuum zum Ausgangspunkt für das Zusammenwirken der Menschen nimmt und daraus neue Formen der Gemeinschaft bildet. Das halte ich in einer Zeit wie der unsrigen, in der sich leider wieder mehr Menschen über die politische, ethnische oder kulturelle Ausgrenzung der „Anderen“ zu definieren versuchen, für sehr bedeutungsvoll. Also der eine wichtige Schwerpunkt ist eine Pädagogik für unsere globalisierte Welt.
C. P.: Ist es auch das, was Steiner vor 100 Jahren damit gewollt hat?
H. Kullak-Ublick: Ja, unbedingt! 1923, vier Jahre nach Gründung der Waldorfschule, sagte er beispielsweise:
„Sie werden gesehen haben, dass es sich wahrhaftig, wenn auch das Waldorfschul-Prinzip einem ganz bestimmten Sprachgebiete entstammt, dabei durchaus nicht um etwas Nationales handelt, sondern um etwas im besten Sinne Internationales, weil Allgemein-Menschliches. Nicht den Angehörigen irgendeiner Klasse, nicht den Angehörigen irgendeiner Nation, nicht den Angehörigen überhaupt irgendeiner Einkapselung, sondern den Menschen mit den breitesten, herzhaftesten menschlichen Interessen wollen wir erziehen.“
C. P.: Was ist der andere Faktor für Waldorf100?
H. Kullak-Ublick: Wenn ein Impuls schon so lange auf der Welt ist, macht er Verwandlungen durch. Die waldorfpädagogische Welt, wie die ganze anthroposophische Welt, war in der ersten Zeit noch stark geprägt von der unmittelbaren Präsenz von Rudolf Steiner – in vieler Hinsicht war das eigentlich eine Glaubensgemeinschaft, auch wenn man das nicht so gerne hört. Das hat unglaubliche Kräfte freigesetzt. Nach dem 2. Weltkrieg kam in Deutschland eine zweite Pionierphase, in der die Waldorfschulen neu aufgebaut wurden. In den 1970er und 80er Jahren gab es dann einen riesigen Gründungs-Boom, an den sich eine Phase der Konsolidierung anschloss, die teilweise auch zu einer Verbürgerlichung führte. „Waldorf“ wurde gewissermaßen als Marke etabliert. Jetzt kommen wir in ein nächstes Stadium, in der wir uns wieder ganz weit für die Zeitsituation und für unsere Welt öffnen müssen, um diese Pädagogik frei verfügbar zu machen. Wir müssen die Ausgangsimpulse noch mal neu befragen unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeiten unserer Zeit. Auch damals war ja der Ausgangspunkt, dass Steiner auf die Nöte der Zeit schaute. In welcher Welt werden die heutigen Schulkinder leben, wenn sie erwachsen sind? Und wie können wir sie darauf vorbereiten? Ohne diese Fragen würden sich die Waldorfschulen vermutlich schnell in gut organisierte, private Nischenschulen auf Copy&Paste-Basis mit einigen folkloristischen Elementen verwandeln. Das wollen wir aber nicht! In der Waldorfpädagogik liegen noch viele unentdeckte Edelsteine! Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie ganz besonders gut für die Herausforderungen unserer Zeit gerüstet ist.
Es gibt rund um den Globus unglaublich viele Menschen, die genau aus dieser Intention heraus tätig sind. Diese Kräfte wollen wir durch das Festival freisetzen und miteinander in Beziehung bringen, denn es gibt wirklich viel zu tun.
Bei den Menschen findet eine Dissoziation statt zwischen dem, was sie denken, fühlen und tun.
C. P.: „Die Nöte der Zeit und die entsprechende Pädagogik für die Kinder.“ Wo sehen Sie konkret die Nöte und was muss pädagogisch geschehen?
H. Kullak-Ublick: Heute können wir überall sehen, was Steiner zu seiner Zeit für unsere Zeit prognostizierte: Bei den Menschen wird eine Dissoziation stattfinden zwischen dem, was sie denken, fühlen und tun. Er beschrieb das als den „Weg der Menschheit über die Schwelle“, und das ist heute eine Tatsache geworden, mit der man bewusst umgehen muss – und kann. Überlässt man die Denk-, Gefühls- und Willenskräfte der Menschen allerdings einfach sich selbst, werden sie zunehmend verwildern: Das Denken wird mechanistisch, das Gefühlsleben verarmt und der Wille wird egoistisch bis brutal. Das kann man mit den bildschaffenden Methoden in der modernen Hirnforschung sogar sichtbar machen. Mit dieser Entwicklung hängt zusammen, dass viele Menschen sich heute sehr einsam fühlen oder ihre Gefühlsleere mit tausend Konsumangeboten wie Filmen, Süßigkeiten, Shopping, Drogen etc. zu überspielen versuchen.
Und auf der Handlungsebene muss man sich nur den entfesselten Kapitalismus anschauen, bei dem sich eine knallharte, kalte Intelligenz mit einem brutalen Egoismus verbindet. Das sind soziale Erscheinungsformen des dissoziierten Menschen.
Sie können sich auch dann auf ihre Kreativität und emotionale Sicherheit verlassen, wenn das Leben schwierig wird.
Deshalb kommt es immer mehr darauf an, die Kinder dazu anzuregen, dass sie ihre Fantasiekräfte und ihre Empathiefähigkeit in das Denken einbringen, ihre Fantasie also zu einem Erkenntnisorgan ausbauen. Wenn Kinder fantasievoll tätig sind und lernen, auf Grundlage eigener Wahrnehmungen Begriffe zu bilden, aktivieren sie ihren Willen im Denken. Aber das gilt auch umgekehrt: Ermutigen wir die jungen Menschen dazu, aus ihren Erkenntnissen persönliche Ideale zu bilden und daraus dann eigene Handlungen abzuleiten, dann lernen sie, ihren Willen mit dem Licht der Erkenntnis zu durchdringen. Und wenn wir mit ihnen üben, ihre Gefühle so differenziert auszubilden, dass sie zu Wahrnehmungsorganen werden, und zwar nicht nur für die eigene Befindlichkeit, sondern für die anderen Menschen, die Natur, die Kunst und überhaupt für die Welt, dann können sie sich auch dann auf ihre Kreativität und emotionale Sicherheit verlassen, wenn das Leben schwierig wird.
Der Lehrer soll ein authentischer Mensch sein.
C. P.: Welche methodisch-didaktischen Elemente hat die Waldorfpädagogik, um das aufzubauen?
H. Kullak-Ublick: Wir sind alle Zeitgenossen und alles, was ich eben an Zeiterscheinungen beschrieben habe, gibt es auch an unseren Schulen. Als Lehrer muss man daher immer bei sich selbst anfangen, was ja sowieso eine Grundidee der Waldorfpädagogik ist: sein Denken verlebendigen, sich ein reiches Empfindungsleben als Basis einer gesunden Urteilskraft aneignen und dann tun, was man als richtig erkennt. Mit anderen Worten: Der Lehrer soll ein authentischer Mensch sein.
Im Unterricht kommt es darauf an, dass die Kinder eine Sache nicht nur vom Ergebnis her lernen, sondern immer den ganzen Weg von der Erfahrung über den kreativen Umgang mit dem Erfahrenen bis zum Bilden eines Begriffes gehen. Im Physikunterricht beispielsweise beobachtet man mit den Schülern erst einmal ganz genau; in einem zweiten Schritt beschreiben sie ebenso genau, was sie wahrgenommen haben und finden dabei heraus, was an einer Beobachtung wichtig oder weniger wichtig war – ohne dabei schon eine Erklärung geliefert zu bekommen. Sie schildern vielmehr, was sie mit den eigenen Sinnen gesehen, gerochen, gehört, gefühlt haben. Erst im dritten Schritt, nachdem sie sogar darüber geschlafen haben, bilden sie aus ihren Beobachtungen und der aus dem Schlaf aufsteigenden Erinnerung den Begriff der Sache. So bekommen sie Vertrauen in ihre eigene Wahrnehmung, in ihr Urteilsvermögen und in ihr Denken. Das ist heute unendlich wichtig.
Bei den praktischen Fächern wie dem Werken mit Holz oder der Handarbeit dreht sich dieser Prozess um: Man muss sich eine Vorstellung davon bilden, wo man hinwill und dann müssen die Hände auch tun, was man gedacht hat. Die Intelligenz der Vorstellung kommt in die Hände und umgekehrt macht die Intelligenz der Hände das Gehirn lebendiger.
Von der indirekten zur direkten Medienpädagogik.
C. P.: Wie geht man mit diesen Grundsätzen mit den heutigen digitalen Medien um? Es ist ein Fakt, dass Jugendliche, und auch Waldorfschüler häufig am Smartphone hängen. Mir wurde berichtet, dass vor einigen Jahren die Kinder bei der Einschulung noch so gemalt haben, dass die Menschen auf dem Boden stehen, heute schweben sie in der Luft. Möglicherweise ist das ein Symptom für den virtuell bedingten Realitätsverlust. Ist das, was Sie geschildert haben schon der Ansatz, um diesen Tendenzen zu begegnen, oder gibt es noch Weiteres?
H. Kullak-Ublick: Wir haben seit einigen Jahren eine intensive Arbeitsgruppe vom Bund der Freien Waldorfschulen zum Thema Medienmündigkeit. Daraus sind inzwischen zwei Broschüren hervorgegangen: „Struwwelpeter 2.0“ und „Struwwelpeter 2.1“, der sich speziell an Eltern wendet. In diesen Readern gibt es eine Übersichtsgrafik, die den Übergang von einer indirekten zur direkten Medienpädagogik veranschaulicht. Die elektronischen Medien sind ja nur ein, allerdings sehr wichtiger Spezialfall aus einer Fülle von Medien, mit denen wir arbeiten und wenn man das genau genug anschaut, kann man da auch eine pädagogisch sehr sinnvolle Reihenfolge erkennen. Wenn ich zum Beispiel einem kleinen Kind eine Geschichte erzähle und später aus einem Buch vorlese und das Kind plötzlich sieht: „Da sind diese sonderbaren Zeichen“, und es ist immer dieselbe Geschichte, dann bekommt es einen Sinn dafür, dass in den geheimnisvollen Zeichen des Mediums „Buch“ Dinge stecken, die zu entdecken sich lohnt. Später kommt es darauf an, dass die Kinder mit verschiedenen Medienträgern Erfahrungen machen, denn nur so können sie deren spezifischen Wirkungen, Vorzüge und Einseitigkeiten einschätzen lernen. Deshalb bin ich auch ein großer Verfechter der Schreibschrift, auch wenn manche heute meinen, man müsse gleich auf Tablets gehen. Nein – die Kinder sollen die Erfahrung machen, Buchstaben schreiben zu können, da stecken sie persönlich mit ihrem Willen drin und sind in der reinen Gestaltung der Form; ihre Hände müssen etwas lernen, was sich der Kopf vorstellt. Ich bin dafür, dass sie das am Anfang sogar mit Wachsstiften machen, weil dabei der Widerstand am größten ist.
Man kann sich also auf ganz viele Arten mit Medien auseinandersetzen.
Man kann sich also auf ganz viele Arten mit Medien auseinandersetzen. Und irgendwann sind selbstverständlich auch die Computer und ihre Ableger angesagt – da beginnt die direkte Medienpädagogik. Wann der richtige Zeitpunkt dafür ist, bedarf sicher noch einiger Diskussion, aber in den vorhin genannten Broschüren haben wir dazu sehr konkrete Vorschläge gemacht. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Schule und die Kindergärten heute zu den letzten Orten gehören, in denen die Kinder wirklich vielfältige „analoge“ Erfahrungen mit der Welt machen können. Deshalb haben wir ja auch vorgeschlagen, den „Digitalpakt“, den unsere Bundesbildungsministerin kürzlich aufgelegt hat, um einen „Analogpakt“ zu ergänzen. Und darüber muss man natürlich auch mit den Eltern sprechen!
Die Waldorfpädagogik hat für eine zeitgemäße Medienpädagogik wegen ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Medienträgern sehr gute Voraussetzungen. Man soll nicht ablehnen, was in der Welt passiert, aber man muss auch nicht jeder Sau, die gerade durchs Dorf getrieben wird, hinterherrennen.
C. P.: Wie gehen Sie dann im entsprechenden Alter der Schüler an die elektronischen Medien heran?
H. Kullak-Ublick: Spätestens in der 6. Klasse muss man mit ihnen über die social media sprechen, damit sie wissen, was das überhaupt ist, wo die Chancen und Gefahren liegen. Ich bin der Meinung, die Schüler sollten auch frühzeitig lernen, die Tastatur zu bedienen, auch wenn man die bald nicht mehr brauchen wird – da hat man wieder das haptische Moment.
Sie sollen lernen, wie man recherchiert, und zwar zuerst mit Büchern: Wie kann ich eine Quellenkritik entwickeln, indem ich mit gedruckten Medien umgehe? Wir haben in Deutschland siebeneinhalb Millionen funktionale Analphabeten, also Menschen, die zwar einen Text lesen können, aber nicht verstehen, was inhaltlich darin vorkommt.
Man muss sie positiv darin bestärken, sich auf ihr eigenes Denken und Erleben zu verlassen.
Wenn man das Recherchieren mit Büchern gemacht hat, sollte man natürlich auch Internet-Recherchen machen. In meiner letzten Klasse haben wir eingeführt, dass wir nach jedem Referat ein Gespräch darüber führten – und die Schüler haben gelernt, das auszuhalten – in dem hinterfragt und auch kritisiert wurde, ob das nun ein authentischer Inhalt war oder ob da Dinge abgekupfert wurden, die man irgendwo gefunden, aber gar nicht verstanden hatte. Und was war das Ergebnis? In kürzester Zeit gab es keine „Wikipedia-Referate“ mehr, bzw. wenn, wurde es sichtbar gemacht. Die Schüler merkten: Es ist viel interessanter, wenn ich etwas Echtes einbringe. Man muss sie positiv darin bestärken, sich auf ihr eigenes Denken und Erleben zu verlassen.
Dazu gehört auch, dass man sich in der 9.- 11. Klasse mit der ganzen Technologie auseinandersetzt, weiß wie ein Schaltkreis, ein Relais, ein Computerchip usw. funktioniert. Später muss man sich auch mit den sozialen Wirkungen des Internets beschäftigen, mit seinen Chancen und den Gefahren. Das kann man in einen sinnvollen Zusammenhang bringen.
Teil 2:
Christine Pflug: Rudolf Steiner hatte damals die Waldorfschule als eine freie Schule gedacht, auf dem Hintergrund eines freien, unabhängigen Geisteslebens. Heute ist es so, dass in den Waldorfschulen von den Schülern immer mehr staatlich verlangte Prüfungen gemacht werden, die Lehrer selbst müssen Prüfungen und Abschlüsse bestehen, die von der EU gefordert werden. Es macht den Eindruck, dass die Waldorfpädagogik immer mehr durch staatliche Normierung eingeschränkt wird. Wie sehen Sie das? Wie gehen die Waldorfschulen mit dieser Ambivalenz um?
Henning Kullak-Ublick: Das Wort Ambivalenz trifft es ganz gut. Man muss bei diesem Thema unterscheiden, was vorauseilender Gehorsam und was Notwendigkeit ist. Wir müssen in dieser Beziehung wieder sehr viel mutiger werden und uns kämpferischer für die Freiheit einsetzen, als das angesichts des grassierenden Standardisierungswahns in der jüngeren Vergangenheit passiert ist. Dieser Trend ist ja nicht nur in Europa, sondern weltweit zu beobachten. Das wird vor allem von der OECD, also einer reinen Wirtschaftsorganisation, vorangetrieben, die Schule, ja Bildung überhaupt unter ein rein ökonomisches Paradigma stellen will. Das Instrument dafür sind die Pisa-Studien. Auch wenn der Anspruch scheinbar ein anderer ist, hat die OECD das schon in den 1960-er Jahren glasklar formuliert „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“
Nachdem die Politik nach dem in mancher Hinsicht ja durchaus notwendigen „PISA-Schock“ gemerkt hat, dass ein staatlich organisiertes Bildungswesen nicht wirklich funktioniert, kam der Ruf „Wir brauchen Freiheit im Bildungswesen“ – aber man konnte mit der Freiheit nichts anfangen, weil man nicht wusste, was das für das Bildungswesen heißt.
C. P.: Und was hat man aus dieser Erkenntnis dann gefolgert?
Freiheit im Bildungswesen.
H. Kullak-Ublick: „Freiheit ja, aber um sie vor Missbrauch zu schützen, führen wir Standards ein, an denen wir regelmäßig messen, ob alles nach Plan läuft.“ Man hat also ein Prinzip aus der industriellen Produktion übernommen, wo es natürlich auch hingehört, aber auf den Menschen angewandt ist das völliger Unsinn. „Output-orientiert“ war das Schlagwort, mit dem diese Mechanisierung verkauft wurde. Inzwischen haben die Standards dazu geführt, dass „Teaching for the test“ schon in den jüngeren Klassen zum Normalfall geworden ist.
C. P.: Und wie würde Freiheit im Bildungswesen idealerweise aussehen?
H. Kullak-Ublick: Zunächst noch ein Wort zum Staat: Der muss darüber wachen, dass Recht und Gesetz auf Basis des Grundgesetzes eingehalten werden, also natürlich auch an den Schulen. Dann muss er sicherstellen, dass alle Kinder Zugang zu einer Schule ihrer Wahl haben. Die inhaltliche Ausgestaltung der Pädagogik muss aber den dafür ausgebildeten Menschen überlassen bleiben, die vor Ort die reale und konkrete Verantwortung haben. Sie kennen die Kinder und ihre Eltern und wissen als hoffentlich wache Zeitgenossen viel besser, was eine konkrete Klasse oder ein einzelner Schüler wirklich brauchen. Pädagogen und Lehrer sind keine Handlungsgehilfen von politischen, ideologischen oder ökonomischen Interessen, sondern dafür verantwortlich, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Fähigkeiten entwickeln und irgendwann selbst die Verantwortung für sich und die Welt übernehmen können. Wenn sie sich mit Universitäten, anderen Schulen oder weiterführenden Ausbildungsstätten auf gemeinsame Standards verständigen, ist das völlig in Ordnung, aber die dürfen nicht von externen Interessengruppen bestimmt werden. Wer Erziehung zur Freiheit will, muss die Freiheit auch gesellschaftlich durchsetzen. Das ist der große Anspruch, mit dem die Waldorfschule 1919 gegründet wurde und der gilt auch heute noch.
C. P.: Wie geht man in der Praxis der Waldorfschulen mit den staatlich geforderten Standards um?
H. Kullak-Ublick: Natürlich muss man im Interesse der Schüler auch Kompromisse machen, denn wenn sie die Schule verlassen, brauchen sie den Zugang zu allen Ausbildungsmöglichkeiten, die ihren Fähigkeiten entsprechen. So lange in Deutschland die staatlichen Abschlüsse verlangt werden, müssen die Schüler sie auch ordentlich machen können.
Unser pädagogisches Ziel, dass sich die Schüler zu freien und sozialen Persönlichkeiten entwickeln, steht dazu überhaupt nicht im Widerspruch.
Allerdings ist es schon eine immense Anforderung an die Lehrer, ihren Unterricht so zu gestalten, dass er die Standards quasi en passant miterledigt, ohne dass sie alles andere dominieren. Dieser Balanceakt ist insbesondere in der Oberstufe nicht einfach, aber ich kenne viele Lehrerinnen und Lehrer, die einen richtig guten, waldorfpädagogisch fundierten Unterricht machen und dabei auch die externen Vorgaben erfüllen. Aber man muss wissen, was man tut, und das ist gleichermaßen eine Frage an die Lehrerbildung wie an die permanente Qualitätsentwicklung innerhalb der eigenen Schule.
Die Strahlkraft einer Idee geht immer von denjenigen aus, denen sie zum Herzensanliegen geworden ist.
C. P.: Was wird von der Waldorfpädagogik auf politischer Ebene gemacht, um diesen Freiheitsimpuls durchzusetzen?
H. Kullak-Ublick: Die Strahlkraft einer Idee geht immer von denjenigen aus, denen sie zum Herzensanliegen geworden ist. Die vielfältigen Anregungen, Ideen und menschenkundlichen Grundlagen, die Rudolf Steiner den Lehrerinnen und Lehrern der ersten Waldorfschule mit auf den Weg gegeben hat, waren nie losgelöst von dem gesellschaftlichen Freiheitsideal, dem sich diese Schule verpflichtet fühlte; sie zeigten vielmehr Wege auf, wie das bis in die pädagogische Praxis hinein wirken und entwickelt werden kann.
Politisch setzen wir uns auf lokaler, Länder- und Bundesebene für die freie Schulwahl der Eltern, für vernünftige staatliche Finanzhilfen und für die größtmögliche curriculare und methodische Freiheit ein. Das ist oft ein Bohren sehr dicker Bretter, aber da hilft nur beharrliche Geduld, ein klares Profil, die Bereitschaft, sich in den Diskurs einzumischen und die Liebe zu dem, was man vertritt. Die bewirkt oft mehr als man denkt …
Waldorf100 ist eine gute Gelegenheit, dafür auch weltweit Aufmerksamkeit zu bekommen. Deshalb haben wir angeregt, dass sich die Waldorf-Kollegien noch einmal ganz neu mit den grundlegenden Vorträgen der Waldorfpädagogik, zugleich aber mit der modernen Erziehungsforschung auseinandersetzen. Wenn wir alle noch einmal neu auf Entdeckungsreise gehen, wird die Freude an der Freiheit mitwachsen!
C. P.: Welche Elemente sind in diesen Vorträgen für den Alltag wichtig?
H. Kullak-Ublick: Sie sind bis heute hochaktuell, weil sie die geistig-seelischen Entwicklungsprozesse der Kinder in ein sehr konkretes Verhältnis zu ihren leiblich-körperlichen Entwicklungsvorgängen setzen. Steiner hat damit eine Blickrichtung eingeführt, die immer den ganzen Menschen mit seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist ins Auge fasst. Das war damals revolutionär und ist es in dieser Konsequenz bis heute. Was bedeutet es für die Gesundheit der Kinder, wenn sie mal ganz konzentriert arbeiten, dann wieder einfach träumend zuhören dürfen? Was macht es mit ihnen, wenn sie die ganze Zeit nur intellektuell angesprochen werden? Was bedeuten Bewegung, was Schlaf, was künstlerische Aktivität?
Aus solchen Fragen und täglichen Beobachtungen entstanden und entstehen all die praktischen und lebendigen Ideen für den Unterricht, die nicht auf „Copy&Paste“ angewiesen sind, sondern aus der pädagogische Phantasie der Lehrerinnen und Lehrer, wie sie den Stoff am besten mit diesen ganz konkreten Kindern bearbeiten können, hervorgehen.
Steiner ging es sowieso immer ums praktische Leben.
Steiner ging es sowieso immer ums praktische Leben. So schlug er beispielsweise vor, man solle schon in der ersten Klasse alle vier Grundrechenarten gleichzeitig einführen. Warum? Weil das dem Leben entspricht. Wenn Anton fünf Gummischnuller für jeweils 10 Cent kaufen und die mit Lisa und Paula teilen will, muss er kräftig rechnen: 5 x 10 Cent = 50 Cent, 5 Gummischnuller geteilt durch 3 geht nicht, also bekommt jeder erst mal einen (5-1-1-1=2); dann geht´s um die Frage, ob er ein Kavalier ist oder wer noch 10 Cent beisteuern kann, damit es wieder 2+1=3, dann 3:3=1 ist, bis alle fröhlich sind.
Das Schreiben leitet man aus einem künstlerischen Umgang mit den Formen her, weil viel darauf ankommt, dass der Wille und das ästhetische Empfinden der Kinder an diesem Vorgang beteiligt sind. Und erst wenn die Kinder eine gewisse Übung im Schreiben haben, geht man zum Lesen über; so haben sie die Anbindung des gesprochenen Wortes an das, was sie tun.
Ein ganz zentrales Element der Waldorfpädagogik ist der sogenannte „Dreischritt“: Bis in die oberen Klassen eignen sich die Schülerinnen und Schüler neue Begriffe an, indem sie erst etwas tun oder bestimmte Phänomene ganz genau beobachten, das dann in eine eigene Form bringen, die auch künstlerisch sein kann, und erst dann gemeinsam nach den Begriff suchen und die abstrakte Erkenntnis der Sache formulieren. Der Weg geht vom Schließen über das Urteilen zum Begriff. (Siehe Teil I des Interviews)
Solche methodischen Hinweise gibt Rudolf Steiner in diesen Vorträgen zuhauf, und es lohnt, sich damit zu beschäftigen. Das Interessante ist, dass die heutige Hirnforschung sehr viele von Steiners über lange Zeit als bloße Behauptungen behandelte Anregungen mit den empirisch bildschaffenden Methoden untermauert.
„Kinderbesprechungen“
Ein wichtiger Punkt sind auch die so genannten „Kinderbesprechungen“, also pädagogische Entwicklungsdialoge, mit denen wir seit langer Zeit gute Erfahrungen gesammelt haben und die ein ganz wesentlicher Teil der Förderung jedes einzelnen Kindes sind. Mit Waldorf100 wollen wir diese Begegnungsebene weiter stärken, indem wir auch die gegenseitige kollegiale Wahrnehmung stärken, beispielsweise über Supervisionen, Intervisionen und ähnliche Instrumente, bei denen wir in der Praxis unserer Waldorfschulen oft einen ziemlichen Nachholbedarf haben. Deshalb empfiehlt der Bund der Freien Waldorfschulen das sog. „Qualitätsverfahren“, über das man auf unserer Webseite mehr erfahren kann.
Damit hat man eine Art von Wettbewerb um bessere Pädagogik geschaffen.
C. P.: Sie sagten bereits, dass in Deutschland das Erziehungswesen Sache der Länder sei. Die Waldorfschulen haben dazu 7 Kernforderungen herausgearbeitet. Können Sie ein Beispiel nennen?
H. Kullak-Ublick: Beispielsweise soll die Finanzierung von Schulen den Schülern folgen. Wenn Eltern oder ältere Schüler sich entscheiden, an eine bestimmte Schule zu gehen, soll die Schule entsprechend finanziert werden; der Bildungsgutschein geht in diese Richtung. Heute müssen Eltern immer noch eine Art Lösegeld bezahlen, wenn sie ihre Kinder auf eine freie Schule schicken wollen, weil der Staat die freien Schulen durch zu geringe Finanzhilfen zwingt, Schulgelder zu erheben. Wenn Eltern sich für eine freie Schule entscheiden, dann müssen die Schulen genau die Mittel bekommen, die ein Schüler kostet. Damit hat man eine Art von Wettbewerb um bessere Pädagogik geschaffen. Wenn es gute Schulen gibt, die viele Schüler bekommen, werden sie Nachahmer finden, und wenn Schulen nichts taugen, müssen sie eben schließen.
In Sidney, Los Angeles, Nairobi, Buenos Aires, Tel Aviv oder Chengdu.
C. P.: Welche Festlichkeiten und Aktionen werden von Waldorf100 initiiert?
H. Kullak-Ublick: Wenn morgens die Sonne aufgeht, wandert sie einmal um die ganze Erde herum; kurz vor ihr singen die Vögel und kurz danach erklingt der Morgenspruch einmal rund um die Welt. Es sind hunderttausende von Kindern, die jeden Tag mit diesem Spruch leben, in Afrika, bei den Indianern, in China – überall! So kam die Idee, auch dieses Festival einmal um den ganzen Globus wandern zu lassen und zwar in jeder Einrichtung, die waldorfpädagogisch arbeitet und auch an zentralen Orten andererseits. In Deutschland wird der Schwerpunkt des Festivals sein, es wird in Berlin im Tempodrom stattfinden, aber wir wünschen uns, dass es genauso in Sidney, Los Angeles, Nairobi, Buenos Aires, Tel Aviv oder Chengdu stattfindet. Die Feierlichkeiten werden große, internationale Monatsfeiern und künstlerische Events sein, die wir per Livestream oder anders miteinander vernetzen. Die vielen Gewänder, in denen die Waldorfpädagogik umherwandelt, sollen sichtbar werden, eine Einheit in der Vielfalt.
An einigen bedeutenden Musikhochschulen zwischen Beijing, Hamburg und San Francisco entstehen Kompositionen eigens für die Schulorchester der Waldorschulen. Auch ein großes Drama-Projekt mit dem Arbeitstitel „Wo ist der Mensch?“ wird unter der künstlerischen Leitung einiger bedeutender Autoren und Schauspieler, die selbst eine Waldorfschule besucht haben, entstehen.
Auch die Schüler rund um die Welt sind herzlich eingeladen, dazu Gedichte oder Essays zu verfassen, von denen wir eine Auswahl veröffentlichen werden.
„Bees&Trees“
Dann gibt es natürlich das Bienenprojekt „Bees&Trees“: Wenn wir die Erde zu einem Ort machen, wo es den Bienen gut geht, wird es auch dem Menschen wieder gut gehen. In der ganzen Welt werden die Schulen Bienen halten. Wir haben dafür sogar einen kleinen Lehrplan ausgearbeitet, der für die ganze Schule Ideen vom Kindergarten bis zum Abitur hat.
Außerdem sind gerade 1,3 Millionen Blanko-Postkarten unterwegs an alle 1.200 Waldorfschulen der Welt, auf die schon die Adressen aller anderen Waldorfschulen aufgedruckt sind. Die Idee ist, dass alle Schüler an der Gestaltung der Postkarte beteiligt sind. Jede Schule kann dann mit den aus aller Welt eintreffenden Postkarten eine Weltkarte bauen. Das schafft ein Weltbewusstsein, das wir heute dringender als je zuvor brauchen.
Noch ein Projekt ist der Staffellauf um die Welt, eine Art von globalem Marathon; die Sportlehrer arbeiten noch an der Konkretisierung.
Jeder noch so kleine Beitrag ist wunderbar!
C. P.: Läuft das jetzt an und geht die nächsten zwei Jahre?
H. Kullak-Ublick: Ja. Wir haben auch schon einen Film produziert „Learn to change the world“, den man im Internet anschauen kann, und er ist bereits weit über 150.000 Mal angeklickt worden. Überall wird nachgefragt, und wir produzieren ihn in immer mehr Sprachen, chinesisch, japanisch, portugiesisch, russisch usw. Natürlich nutzen wir auch die sozialen Medien für diese Idee.
C. P.: Welchen Wunsch hätten Sie?
H. Kullak-Ublick: Jede Schule, jeder Kindergarten sollte Lust bekommen anzufangen. Jeder noch so kleine Beitrag ist wunderbar! Es kommt nicht auf die Größe der eigenen Initiative an, sondern auf die Liebe, die man dabei reinsteckt – und entwickelt. Lassen Sie uns alle die Chance nutzen, unsere Pädagogik zu einem Jungbrunnen werden zu lassen für die ganze Welt!
„Waldorf100 – Learn to change the world“ wird auf der mehrsprachigen Website und in sozialen Netzwerken vorgestellt.
Waldorf 100 – der Film: