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Wie geht es unseren Jugendlichen?
Interview mit Sarah van Hamme, Oberstufenlehrerin und Dozentin
Die Jugendlichen und die Kinder sind diejenigen, die am meisten in der Corona-Zeit gelitten haben. Sogar unser Gesundheitsminister hat sich bei ihnen entschuldigt, dass die Maßnahmen zu drastisch waren. Aber auch andere Themen betreffen besonders diese „woken“, reflektierten, politisch aktiven jungen Menschen. Die „letzte Generation“ macht mit ihren Aktionen auf die Klimakrise aufmerksam. Konventionelle Geschlechtszugehörigkeiten werden infrage gestellt und aufgelöst. Und seit letztem Winter gibt es ChatGPT, das bisherige Unterrichtsmethoden obsolet macht. Herausforderungen auf vielen Ebenen, für die Jungen und auch für die „Alten“!
Interviewpartnerin Sarah van Hamme: Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte, nebenbei arbeitete sie Jahre beim Fernsehen. „Dann wollte ich eigentlich promovieren. Als ich aber im Doktoranden-Kolloquium saß, hatte ich plötzlich die Eingebung, dass ich mit Jugendlichen arbeiten möchte und Lehrerin werden will.“ So begann sie 2012 die Vollzeitausbildung am Waldorfseminar in Hamburg; absolvierte das SPJ in der Steiner Schule Bergstedt, unterrichtete anschließend 8 Jahre in Altona in der Oberstufe Deutsch, Geschichte, Philosophie, auch Sozialkunde, Kunstgeschichte. Seit 2022 ist sie freie Lehrerin mit Gastepochen an verschiedenen Rudolf Steiner Schulen und Dozentin im Waldorfseminar und an der Berufsschule für Erzieher. Neben dem Unterrichten ist sie Künstlerin.
Christine Pflug: Die Kinder und die Jugendlichen haben am meisten unter den Corona-Maßnahmen gelitten. Wie geht es ihnen?
Sarah van Hamme: Es gibt Unterschiede, je nachdem wie alt sie jeweils waren. Ich habe eher mit den Älteren zu tun und habe die Erfahrung, dass bei vielen die Psyche gelitten hat. Gerade diejenigen, die nach dem Lockdown in die Klassen zur Abiturvorbereitung kamen, also die 17- bis 19-jährigen, standen unter massivem Druck. Während der Klausuren ist fast immer jemand zusammengebrochen, hat geweint oder hatte einen Blackout. Der Online Unterricht während der Corona Zeit war eher entspannt, und nun saßen sie in der Profilstufe für das Abi und merkten plötzlich: Es wird ernst. Normalerweise wären sie langsam darauf vorbereitet worden. Außerdem merkten wir schnell, dass bestimmte Methoden über den Online Unterricht nicht so gut vermittelt werden konnten, wie es im Präsenzunterricht der Fall gewesen wäre.
Bei den Jüngeren herrscht eine gewisse Schwermut. Wenn man in jungen Jahren seinen Platz in der Welt finden will und die Welt dann nicht offen steht: Wohin mit meinen Wünschen und Ideen? Kaum ist man bei sich selbst ein wenig angekommen, wird man in so eine schwierige, weltweit bedrohliche Krisensituation geworfen. Das kann bei einigen zu Ängsten und Depressionen führen.
Sie bekommen heute über Social Media viel mehr mit.
C. P.: In den Medien hat man mitbekommen, dass die Kriminalitätsrate unter den Jugendlichen gestiegen ist. (1). Merken Sie davon etwas?
S. van Hamme: Gar nicht, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass es eine außerordentlich nette und empathische Generation ist. Ich kenne allerdings nur Waldorfschüler*Innen, und die haben einen bestimmten Hintergrund, werden meist gefördert und unterstützt. Es gibt da bestimmt einen Unterschied zu Jugendlichen, die nicht das Privileg haben, dies zu erfahren.
Und ich kann es aber verstehen: Die Jugendlichen bekommen von der Gesellschaft bestimmte moralische Werte vermittelt, aber wenn sie sich dann in der Welt umschauen, sehen sie, dass sich viele Erwachsene nicht daran halten. Das bekommen sie heute über Social Media viel mehr mit, als noch vor ein paar Jahren, wo man noch Zeitung lesen musste, um ins Weltgeschehen Einblick zu haben. Es stellt sich dann logischerweise das Gefühl ein: Das ist ja nicht so wichtig, dann kann ich mich auch so verhalten. Wenn man alleine an Trump und Putin denkt – sie begehen Verbrechen an der Menschheit und keiner hält sie auf. Zusätzlich zeigt sich den Jugendlichen immer wieder, welches Desinteresse die Politik an ihnen hat. Das kann zu Wut und Trauer führen, und für manche ist dann der Schritt zu kriminellen Taten nicht mehr so groß.
Wir haben es leider auch vernachlässigt, ausreichend darüber aufzuklären, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist und welche Schwere es im Endeffekt hat, wenn man dort z.B. Nacktbilder oder pornografische Bilder verschickt. Es ist ja auch generell leichter, daher nimmt die Kriminalität unter Jugendlichen hier auch zu (2)
(1) Nach einem deutlichen Rückgang der tatverdächtigen Kinder (unter 14 Jahre) im ersten Corona-Jahr 2020 um 14,0 Prozent war bereits im Berichtsjahr 2021 wieder ein Anstieg zu verzeichnen (+9,7 Prozent auf 68.725). Mit dem erneuten Anstieg im aktuellen Berichtsjahr auf 93.095 tatverdächtige Kinder wird das Niveau von 2019 deutlich überschritten (2019: 72.890 tatverdächtige Kinder; +16,3 Prozent gegenüber 2019). Aus: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/03/pks2022.html
Ebd. (2) Bei der Zunahme von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung jugendpornografischer (+ 32 Prozent) und kinderpornografischer Inhalte (+ 7 Prozent) ist zu sehen, dass vor allem Kinder und Jugendliche ohne Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrundes Bilder in Gruppenchats teilen. Der Anteil der Tatverdächtigen unter 18 Jahren liegt bei 41,1 Prozent. Zur Prävention in diesem Bereich gehört vor allem Bildung, Sensibilisierung und Medienkompetenz, die vermittelt werden muss.
Sie sind sehr reflektiert, politisiert, gemeinschaftsbildend, sie haben eine große Offenheit gegenüber anderen Menschen.
C. P.: Zum Thema „Letzte Generation“: Sind Waldorfschüler*Innen dabei?
S. van Hamme: Ja, und es ist ein wichtiges Thema. Seit den Klimastreiks von „Fridays for Future“ gibt es viele Diskussionen, und es ist den Schüler*Innen extrem wichtig. Ich erlebe die Generation generell als sehr politisch, viel mehr als vorige Generationen. Sie haben auch Ansprüche diesbezüglich an ihre Lehrer*Innen; wenn man beispielsweise nicht gendert, streckt gleich jemand den Finger und ermahnt. Die Generation Z wird ja auch die „woke Generation“ genannt, und das bestätigt sich für mich auch: Sie sind sehr reflektiert, politisiert, gemeinschaftsbildend, sie haben eine große Offenheit gegenüber anderen Menschen. Allerdings ist ihre Situation schwierig: Sie sind in eine Welt hineingeboren, die von ihren Vorfahren zerstörerisch behandelt wurde. Diese Diskrepanz wirft Sinnfragen auf, und ich kann mir auch vorstellen, dass gerade das dazu geführt hat, dass sie mehr reflektieren. Sie sind auch stark in ihrer Fähigkeit zu argumentieren. Die „letzte Generation“ hat zuerst fast ausschließlich mit Argumenten gekämpft, und sie sind nicht nur unheimlich fähig im Argumentieren, sondern haben ja auch die Fakten auf ihrer Seite. Aber wenn niemand auf diese Argumentationsebene eingeht, sondern sie merken, dass hier „ein ganz anderes Spiel gespielt wird“, erzeugt das ein Gefühl der Ohnmacht. Wenn sie die Tatsachen auf ihrer Seite haben, alles gut darlegen können und trotzdem kein Gehör finden, ist es verständlich, dass sie zu anderen Mitteln greifen. Diese Mittel sind ja noch relativ friedlich und kreativ. Vielleicht werden sie ja noch radikaler, denn was sollen sie tun?
Man könnte es als Jugendbewegung bezeichnen
C. P.: Ist der Großteil der Jugendlichen mit dabei?
S. van Hamme: Es sind wenige, die stark aktivistisch sind. Aber ein Großteil sympathisiert mit ihnen und nimmt an kleineren Aktionen teil. Man könnte es als Jugendbewegung bezeichnen, und die ist verbindend.
ChatGPT
C. P.: ChatGPT ist seit Ende letzten Jahres in Benutzung. (3) Man bekommt auf Fragen fertige Texte, jedes Mal einen anderen, und die Antworten sind kompetent. Das eigene Verfassen und das Überprüfen von Texten oder Hausaufgaben sind damit hinfällig. Wie gehen Sie in Schule und Unterricht damit um?
(3) (Generative Pre-trained Transformer) ist ein Prototyp eines Chatbots, also eines textbasierten Dialogsystems als Benutzerschnittstelle, der auf maschinellem Lernen beruht. Den Chatbot entwickelte das US-amerikanische Unternehmen OpenAI, das ihn im November 2022 veröffentlichte. Nachdem ChatGPT am 30. November 2022 für die Öffentlichkeit frei zugänglich geworden war, meldeten sich innerhalb von fünf Tagen eine Million Nutzer an; Als sprachbasierte Anwendung bietet ChatGPT die Möglichkeit zu dialogischem Austausch. ChatGPT kann unter anderem Texte schreiben, die Business-Pläne oder Hausaufgaben für die Schule imitieren sollen. Zum Jahresende 2022 stellten erste mit der Erprobung des Chatbots befasste Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen das bisherige Überprüfungssystem von Lernleistungen mittels Hausaufgaben und Referaten in Frage: So berichtete die Informatikerin Katharina Zweig von der Erfahrung, dass ChatGPT „deutlich besser schreibt als die Mehrzahl meiner Studierenden in den letzten Jahren“. Dieses Problem müsse deutlich angesprochen werden. Die Expertin für die KI-Disziplin des „Natural Language Processing“ an der Fachhochschule Kiel, Doris Weßels, hielt herkömmliche Hausarbeiten nunmehr für obsolet: „Wenn es nur darum geht, Wissen zu reproduzieren und nett neu zu verpacken, ergeben Hausarbeiten keinen Sinn mehr.“ ChatGPT mache das Abfassen solcher Arbeiten fast „zu einer unerträglichen Leichtigkeit“. aus: https://de.wikipedia.org/wiki/ChatGPT
S. v. Hamme: Es gibt sogar einen Brief von Wissenschaftlern, die darum bitten, mit der Entwicklung von ChatGPT und der dazugehörigen KI ein halbes Jahr Pause zu machen, weil sie uns sonst bald überrollt. (4)
(4) Das Future of Life Institute veröffentlichte am 23. März 2023 einen offenen Brief, der zu einer Entwicklungspause für fortgeschrittene Systeme der Künstlichen Intelligenz (KI) aufruft. Innerhalb von 10 Tagen haben fast 1.800 Personen den Brief unterschrieben, darunter Yuval Noah Harari, Elon Musk, Stuart Jonathan Russell und Steve Wozniak. Die Autoren erkennen einen „außer Kontrolle geratenen Wettlauf um die Entwicklung und den Einsatz immer leistungsfähigerer KI-Systeme, die niemand verstehen, vorhersagen oder zuverlässig kontrollieren kann“. Sie sehen darin tiefgreifende Risiken für die Gesellschaft und die Menschheit. Es bestehe die Gefahr, dass Informationskanäle mit Propaganda und Unwahrheiten geflutet und auch erfüllende Jobs wegrationalisiert würden. Sie fragen: „Sollen wir riskieren, die Kontrolle über unsere Zivilisation zu verlieren?“ https://de.wikipedia.org/wiki/ChatGPT
Soweit ich das mitbekomme, sind die Lehrer*Innen seit Corona noch mehr eingespannt, es gibt mehr Aufgaben, mehr Bürokratie, man muss sich um die Jugendlichen mehr kümmern, weil es psychische Probleme gibt. Sicherlich beschäftigen sich einzelne Lehrer*Innen damit, aber im Kollegium ist dafür oft nicht der nötige Raum. Dazu kommt, dass viele Kolleg*Innen nicht digital aufgewachsen sind, und es ist dann zusätzlich schwierig, sich damit auseinanderzusetzen.
C. P.: Aber dann werden die Schüler*innen ja munter ihr Hausaufgaben von ChatGPT machen lassen …
S. van Hamme: Das kann sein. Ich denke, dass es am besten ist, in einem bestimmten Alter ChatGPT bewusst mit in den Unterricht einzubeziehen, zu hinterfragen, analysieren und dann zu schauen, wie man damit arbeiten kann. Außerdem muss man auch sagen, dass manche Schüler*Innen ihren ChatGPT schon die ganze Zeit „zuhause sitzen“ hatten in Form ihrer Eltern. Man könnte es auch so sehen, dass diejenigen, die nicht aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt kommen, durch ChatGPT nun auch eine Hilfestellung haben. Um die Nutzung zu üben, sollte im Unterricht die Fragekompetenz mehr geschärft werden.
Ich persönlich gebe schon lange keine Hausaufgaben mehr auf. Jeder Jugendliche hat zuhause eine unterschiedliche Situation und Möglichkeiten, die Hausaufgaben zu machen. Manche wohnen in einer kleinen Wohnung und haben keine Ruhe, andere bekommen Hilfe von den Eltern. Bei größeren Klassen ist das Kontrollieren und Besprechen der Hausaufgaben so umfangreich, dass es hinderlich ist für den Rest des Unterrichts. Ich komme trotzdem mit meinem Stoff durch. Das geht aber bestimmt nicht in jedem Fach.
Wenn ChatGPT zu einer Umstrukturierung und einem Überdenken des Schulsystems führt, wäre das ein Vorteil. Vielleicht gibt es mehr Raum für freies Arbeiten in der Schule, mit Anwesenheit der Lehrer*Innen für eventuelle Fragen. Es gibt bereits einige Schulen, die Lernzeiten haben. Man ist dann mehr im Kontakt mit den Schüler*innen und hat mehr Übersicht, was da passiert.
Werden sich die Sprachform und der Ausdruck weiterhin verschlechtern?
Ein großes Problem bei ChatGTP ist m. E., dass die Sprachform und der Ausdruck sich weiterhin verschlechtern werden. Dazu gibt es sowieso schon eine Tendenz; vielleicht ist das darauf zurückzuführen, dass weniger Bücher gelesen werden und dass hauptsächlich Kurztexte rezipiert und geschrieben werden. Das ist nicht nur problematisch im Hinblick auf schulische Leistung, sondern auch für die Identitätsbildung, denn Sprache ist das alltägliche Mittel um eine Verbindung von unserem Inneren zur Außenwelt herzustellen – sich „aus-zu-drücken“. Wir befinden uns heute in einer eher audiovisuellen Ära, jeder kann einen Film drehen, Fotos machen; wir haben mehr Werkzeuge dazu. Aber wenn die Sprache als Ausdrucksmittel schwach wird, kann man sich mehr ausgeschlossen und einsam fühlen.
Die Waldorfpädagogik ist für jegliche Art der KI ein gutes Gegenmittel.
Ich denke, dass die Waldorfpädagogik für jegliche Art der KI ein gutes Gegenmittel ist, weil sie von der Methodik her bei der Beobachtung, Wahrnehmung, Anschließen des Eigenen an die Welt ansetzt und das Geistige mitführt. Sie hat verschiedene Mittel, Sprache zu erlernen, z. B. gemeinsam Texte und Gedichte sprechen, einen stärkeren Fokus auf Aufsatzschreiben zu legen etc..
Interessant hingegen ist aber, dass es eine neue Welle des (deutschen) Hip-Hop gibt, welche einen lyrischen, poetischen Umgang mit Sprache prägt. Das lässt mich hoffe, dass die Lust an komplexeren Sprachgebilden nicht verfliegt.
Was wir mit „Mann“ und „Frau“ assoziieren, damit können sich viele nicht mehr verbinden.
C. P.: Es gibt einen Trend unter manchen Jugendlichen, vielleicht auch in unserer Gesellschaft allgemein, dass konventionelle sexuelle Identität aufgelöst wird. Es gibt etliche junge Menschen, die meinen, sie „stecken im falschen Körper“. Beobachten Sie das auch?
S. van Hamme: Auf jeden Fall. Ich würde es aber nicht „im falschen Körper stecken“ nennen, denn jeder Körper ist richtig. Es gibt biologische Geschlechtsmerkmale, aber das Problem ist, was mit diesen Körpermerkmalen assoziiert wird. Was wir mit „Mann“ und „Frau“ assoziieren, damit können sich viele nicht mehr verbinden. Auch spricht man nicht von Geschlechtsumwandlung, sondern von „Geschlechtsanpassung“: Der Körper wird dem empfundenen Geschlecht angepasst.
C. P.: Was bewegt die Jugendlichen, die diese „Geschlechtsanpassung“ anstreben? Das geht von der Einnahme von Hormonen bis zu operativen Eingriffen. Wollen sie nicht festgelegt werden?
S. van Hamme: Es gibt „non-binäre“ Personen, die wollen nicht festgelegt werden. Personen, die transident sind (transgender) schon, weil man da eine binäre Gegenposition erreichen möchte. Die Identifikation mit dem binär anderen Geschlecht beginnt meist schon früh, und wenn dann in der Pubertät die „falschen“ sekundären Geschlechtsmerkmale auftreten, fühlen sich die Personen im eigenen Körper eingeschlossen, da sie nun falsch markiert sind und dadurch von der Außenwelt nicht in ihrer eigentlichen Identität wahrgenommen werden.
Dass es jetzt so virulent ist, kann auch damit zu tun haben, dass es durch die sozialen Medien viel schneller möglich ist, Vorbilder zu finden. Das war vor einigen Jahren nicht so, und viele wussten dann gar nicht, was ihr Problem ist, oder haben sich nicht getraut, ihre wahre Identität zu leben. Es ist nämlich schwer, in sich etwas zu finden, was man nicht vorher im außen gesehen hat.
C. P.: Vorausgesetzt, dass das die Gründe sind … Es lassen sich auch noch andere denken: Beispielsweise könnte es eine vorübergehende Phase sein, eine allgemeine Verunsicherung, die dann auf die Geschlechtlichkeit bezogen wird, oder Kinder und Jugendliche fühlen sich heute insgesamt nicht mehr so zuhause in ihrem Körper und dann schieben sie es auf dieses Thema ….
S. van Hamme: Ich denke auch, dass dieses sich voll und selbstverständlich im eigenen Körper zu inkarnieren nicht mehr so gegeben ist. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es mit dem Wunsch nach Geschlechtsanpassung etwas zu tun hat; das macht man nicht so einfach, man hat da auf verschiedenen Ebenen Schwieriges durchzustehen.
Die Geschlechterrollen sind nicht mehr aktuell, die Kategorien sind überholt, und die Jugendlichen hinterfragen diese deutlich. „Warum soll ein Mädchen so und so sein, ein Junge etwas nicht machen dürfen, weil er ein Junge ist.“ Es geht darum, offener zu sein; Geschlechtszugehörigkeit wird heutzutage mehr als Spektrum begriffen. Und auch viele Menschen, die nicht transident oder non-binär sind, fühlen sich durch die klassischen Geschlechterrollen eingeschränkt und nicht gesehen. Rudolf Steiner hat auch schon gesagt, dass Geschlecht die größte Kategorie ist, die uns daran hindert, den Menschen dahinter zu sehen.
C. P.: Dann wäre das unter diesem Aspekt ein Fortschritt, nämlich mehr auf das Menschliche zu achten?
S. van Hamme: Ja! Das ist doch ein Teil von Freiheit, oder? So sein zu dürfen, wie man ist, und von anderen auch so gesehen zu werden. Ich persönlich glaube, wenn jemand seine Identität selber wählen kann und sich darin sicher fühlt, braucht er auch keine anderen anzugreifen oder zu hassen. Man hat es dann nicht nötig, sich von anderen negativ abzugrenzen.
Sie lassen mich wirklich hoffen!
C. P.: Gibt es für Sie ein Fazit und einen Ausblick bezüglich der jungen Menschen?
S. v. Hamme: Ich erlebe diese Generation als sehr nett, mutig, reflektiert und politisiert. Sie lassen mich wirklich hoffen! Sie können auf einen sehr guten Weg kommen, wenn wir als ältere Generation dafür sorgen, dass sie das bekommen, was sie jetzt brauchen. Das bedeutet zunächst mal, sie ernst zu nehmen. Wir müssen ihnen zudem die Möglichkeit geben sich auszuprobieren, dazu wären auch mehr identitätsbildende Maßnahmen an Schulen sehr hilfreich. Wir dürfen auch in Bezug auf die Sprachbildung nicht locker lassen, und sollten versuchen, Neugierde auch für komplexere Texte und Sprache zu wecken. Das kann auch durch Medien geschehen, die den Jugendlichen näher sind, wie z.B. Hip Hop.
Außerdem sind wir Älteren die letzte Generation, die keine digital Natives sind, d. h. ohne digitale Medien aufgewachsen. Wir sollten überlegen, was wir den Kindern der nächsten Generation mitgeben sollten von unseren Erfahrungen: Alles Analoge, Interesse für das Reale, in der Gegenwart sein, die sinnenhafte Schönheit der Welt. Die medienmagischen Kanäle verzaubern, und es ist wichtig, einen Gegenzauber der Wirklichkeit dazu zu stellen. Im Grunde bietet die Waldorfpädagogik mit ihren künstlerischen, handwerklichen und praktischen Tätigkeiten dafür ein gutes Gegengewicht.
Wir haben verpasst, den Planeten in einem guten Zustand an die nächste Generation zu übergeben, diese Verantwortung sollte jeder Einzelne von uns auf seine Weise tragen und die junge Generation unterstützen.