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Wie kann man die „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners heute lesen?
Artikel von Prof. Dr. Michael Kirn, Professor emer. für Öffentliches Recht
Prof. Dr. Michael Kirn, geb. in Ravensburg 1939, Jura- und Philosophiestudium in Tübingen und Berlin (1958-64), Professur an der Helmut Schmidt Universität seit 1974; Begegnung mit der Anthroposophie 1972. Seit 30 Jahren Kurs „Philosophie der Freiheit“ im Rudolf Steiner Haus. Vom Autor ist zuletzt erschienen: „Das Ich in den Strukturen des Daseins. Rudolf Steiner, ‚Die Philosophie der Freiheit‘, 1. Teil, systemisch erläutert“, 2016, Berliner Wissenschaftsverlag
Als die PhdF (Philosophie der Freiheit) 1893 in Berlin erschien, war die Zeit der philosophischen Weltanschauungen schon lange abgelaufen. Aber das Erbe war groß. Aristoteles hatte in seinen Werken so etwas wie ein Grundbuch der realen Welt geschaffen, war jedoch an das geistige Wesen des Menschen nicht wirklich herangekommen. Immanuel Kant hatte es als Hauptaufgabe der Philosophie der Neuzeit auf sich genommen, das menschliche Erkenntnisvermögen neu zu vermessen, aber von da aus kein System mehr zustande gebracht. Hierüber setzten sich die Philosophen des Deutschen Idealismus hinweg. Sie machten sich zu „Meisterdenkern“, indem sie die Endlichkeit des Menschen als Faktor des Daseins ausblendeten, um sich so dem freien Flug der Ideen hingeben zu können. Dass dies ein geistiger Rückflug in ein abgelebtes religiöses Modell war, brachte der Dichter Franz Grillparzer in seinem Distichon „Hegel“ treffend zum Ausdruck: „Möglich, dass du uns lehrst, prophetisch das göttliche Denken; / Aber das menschliche, Freund, richtest du wahrlich zu Grund!“
Aber damit ist die ‚Fallhöhe des Geistes‘ noch nicht hinreichend vermessen, und es ist auch für den heutigen Leser notwendig, einen vorläufigen Begriff davon zu haben, aus welcher Tiefe die Freiheitsphilosophie Steiners sich und uns erhebt.
Ist das ‚menschliche Denken‘, wie Grillparzer meint, durch den Idealismus zugrunde gerichtet worden, oder ist es nicht vielmehr schon längst in andere Dienste getreten? So beschreibt Rudolf Haym in seinen Vorlesungen über Hegel von 1857 die Lage: Dass dieser Stern gesunken ist, zeigt symptomatisch „die Ermattung der Philosophie überhaupt. Dieses Eine große Haus hat falliert (Pleite gemacht), weil dieser ganze Geschäftszweig darniederliegt … Das ist keine Zeit mehr der Systeme, keine Zeit mehr der Dichtung oder Philosophie, eine Zeit stattdessen, in welcher Dank der großen technischen Erfindungen … die Materie selbst lebendig geworden zu sein scheint“. Und das scheint auch Steiner zu bestätigen, indem er in dem Vortrag vom 7.5.1922 (GA 212) über das, was in ihm als „Grundfrage für das Schreiben der PhdF“ gelebt habe: „Wir stehen einfach im technischen Zeitalter. Wir haben, wenn wir nicht laienhaft das Alte fortfaseln, was noch erhalten ist in den Bekenntnissen usw. … keine andere Möglichkeit als uns zu halten an das, was technisch über die Welt gedacht werden kann. … Wir müssen in der geistlosen, mechanischen Welt, die uns die moderne Wissenschaft gegeben hat, den Geist finden.“
Er zeigt nur die Wege, die aus dem Abgrund herausführen.
In seiner Darstellung der PhdF vermeidet Steiner den direkten Blick in diesen Abgrund und zeigt nur die Wege, die aus ihm herausführen. Von dem Leser verlangt er die Bereitschaft, ihm bei der Beobachtung von Phänomenen zu folgen, die er genau beschrieben hat. Darauf spielt das Motto der PhdF an: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. Hier könnte man auch sagen: Die methodische Engführung der Phänomene, die Errungenschaft der modernen Naturwissenschaft, wird auch auf dem Gebiet der seelischen Beobachtung fruchtbar, so nämlich, dass sie auf einem jeweils vom Autor bestimmten Beobachtungsfeld dessen Ortscharakter im Zusammenspiel der Welt-Orte (Wesensglieder) des Menschen offenbart.
Auf einem solchen Gefüge von Orten beruht unmittelbar der Erste Teil der PhdF, der mit „Wissenschaft der Freiheit“ überschrieben ist. Diese sieben Kapitel beziehen sich auf das in der Welt Gegebene als Objekt unseres Erkennens. Ein Freiheitsproblem besteht hier insofern, als wir den Prozess des Erkennens freihalten müssen von retardierenden Rückständen aus unserer kosmischen Herkunft. Der „naive Realismus“, der auf die Frage „Was ist das?“ einfach antwortet: ‚eine Blume‘, ist im Alltag berechtigt. Dort fragen wir nicht weiter: ‚was bin ich in dieser Begegnung?‘. Aber die Summe solcher Begegnungen ist die Quintessenz unserer erkennenden Weltverarbeitung. Indem wir die Intention auf ein Erkenntnisobjekt richten, richten wir uns darin selbst auf, nämlich durch das diesen Vorgang vermittelnde Denken. Hierfür schaltet Steiner einen besonderen Beobachtungsgang ein, nämlich in Kapitel III „Das Denken im Dienste der Weltauffassung“. Er fragt hier nicht primär, wie weit das Denken in der menschlichen Weltverarbeitung reicht, sondern was das Denken ist. Es ist das tragende und ordnende Element im Leben der Welt. Wir können dies aber nicht in der gleichen Weise beobachten, wie die anderen auf unsere ‚Seelenbühne‘ erscheinenden Phänomene, wir müssen die geistigen Bewegungen des Denkens zugleich in unserer Seele selbst produzieren.
der Daseinswert der menschlichen Persönlichkeit
Tatsächlich praktizieren wir diesen komplexen Prozess in unserer alltäglichen Weltverarbeitung, aber ohne Bewusstsein von dessen innerer Reichweite. Wir dürfen uns dasselbe aber auch nicht durch eine blinde Wissenschaftsgläubigkeit verdunkeln lassen. In der Erstausgabe der PhdF von 1893 heißt es: „Alle Wissenschaft wäre nur Befriedigung möglicher Neugierde, wenn sie nicht auf die Erhöhung des Daseinswertes der menschlichen Persönlichkeit hinstrebte“ (jetzt im Zweiten Anhang, Seite 271).
Welche Aufgaben gibt uns die Welt?
Das Streben der Wissenschaft ist auch ein Streben des Menschen selbst, wenn er seine Stellung in der Welt ernst nimmt. Die heutige Populärphilosophie will uns mit der Frage unterhalten: „Warum es die Welt nicht gibt“ (Markus Gabriel). Steiner dagegen fragt, welche Aufgaben uns die Welt gibt. Diese stellen sich nicht nur für unser Erkennen, sondern auch für unser Handeln, und davon handelt der Zweite Teil der PhdF: „Die Wirklichkeit der Freiheit“. Steigert die Moralität der menschlichen Handlung nur den Daseinswert der eigenen Persönlichkeit oder auch den Daseinswert der Welt? Die kosmische Herkunft und die evolutionäre Zukunft sind die Grundrichtungen, die in den beiden Hauptteilen der PhdF zu einem systemischen Ganzen zusammengefügt sind, deren Zusammengehörigkeit als Werk durch ein abschließendes Kapitel in dem ‚Dritten Teil‘ bekräftigt wird.
Steigerung der sozialen Urteilsfähigkeit und der „moralischen Phantasie“
Die PhdF erfasst die Welt in philosophisch-systemischer Weise als „work in progress“. Von daher ist auch der von Steiner hinzugefügte Untertitel „Grundzüge einer modernen Weltanschauung“ zu lesen: Das Werk ist nicht unabhängig von der jeweiligen Zeitenlage. Tatsächlich war dieselbe nach dem Schleudergang des Ersten Weltkrieges nicht mehr dieselbe wie vordem. Entsprechend brachte Steiner die PhdF 1918 in einer runderneuerten Form heraus, wobei er die Zielsetzung für den philosophisch interessierten Leser in einer neuen Vorrede beschrieb. Daneben hatte er aber auch einen praktischen Aspekt im Auge: Durch die Schulung in den Gedankengängen dieser Philosophie konnte die soziale Urteilsfähigkeit und die „moralische Phantasie“ des Menschen gesteigert werden, deren es bedurfte, um die von ihm damals politisch projektierte und propagierte Neuverfassung der Gesellschaft in der „Sozialen Dreigliederung“ nachhaltig mit Leben zu erfüllen.
Nach dem erneuten weltgeschichtlichen Schleudergang, welchen die Menschheit durch die Vernichtungswut des Nationalsozialismus und die Globalisierung des öffentlichen Bewusstseins in den folgenden Jahrzehnten erlebte, ist der Raum für die Entfaltung einer autonomen Kultur (des in der ‚Sozialen Dreigliederung‘ gemeinten „freien Geisteslebens“) eng geworden. Aber auch über diese Enge kann Steiners Freiheitsphilosophie denjenigen hinausheben, der unvoreingenommen auf das Dargestellte hinschaut. Unvoreingenommenheit heißt hier auch, dass wir uns nicht von der politischen Hitze mitreißen lassen, die sich heute an die hier besprochenen Gegenstände knüpft. Die Hitze selbst entsteht in der Neuzeit durch das Erwachen des Ich in der Seele, die sich zuspitzenden Ansprüche der „Bewusstseinsseele“. Hier kann Individualität gelingen, wenn der Mensch sein vom Normalen abweichendes Verhalten (was die Grundfigur des Individuellen ist) in der Erwartung einer verständnisvollen Aufnahme in einen sozialen Zusammenhang hineinstellt. Die Organisation des „freien Geisteslebens“ innerhalb der Dreigliederung des Sozialen Organismus hätte der Entstehung solcher Räume Vorschub geleistet. In diesem Sinn besteht „Kultur“ überhaupt darin, dass neue Ideen, oder eine dem ‚Alten‘ entnommene neue geistige Nuance, von einem dazu bereiten Publikum aufgenommen werden. Dass dieses Vorhaben in Beziehung auf die Rezeption der PhdF schon innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft misslungen ist, brachte Steiner in einem Mitgliedervortrag vom 6.2.1923 (GA 257) drastisch zum Ausdruck: Wenn man die PhdF nicht in dem ihr eigenen Sinn, sondern in einer geistig-traditionell geprägten Erwartungshaltung lese, könne nichts herauskommen als „Konflikt über Konflikt“, was womöglich die Anthroposophie selbst in Verruf bringe.
Im Zweiten Teil der PhdF ist dieses Verhältnis der geistigen Individuation schrittweise durch das entfaltet, was Thomas von Aquin den „guten Willen“ nennt. Auch heute noch wird versucht, in unmittelbarem Anschluss daran Philosophien des Wohlwollens in der menschlichen Weltbeziehung zu erarbeiten (z.B. Robert Spaemann, 1927 – 2018). Aber Steiner kehrt diesen Weg radikal um, was wiederum von uns eine Bereitschaft zur inneren Radikalisierung verlangt. Zwar ist der Sprengstoff der Bewusstseinsseele nicht einfach ‚Da‘, aber er wird in Kapitel IX phänomenologisch genau herausgearbeitet, nämlich bis zur Erscheinungsform der „moralischen Intuition“, die ganz und gar nichts Positives an sich hat. Sie ist vielmehr dem „moralischen Instinkt“ Friedrich Nietzsches verwandt, der das bürgerliche Herdenwesen vor sich hertreibt. Das sehen wir auf Seite 162 bis 173, wo die hauptsächlichen Einwände der „politischen Korrektheit“ gegen die Präpotenz der moralischen Individualität zurückgewiesen werden.
Auf diese Weise kommen Probeläufe sittlicher Prinzipien in Gang.
Aber hilfreich ist dieses Vordringen ins Feurig-Innere nur, wenn wir uns dabei von dem Willen leiten lassen, in einer weltfreundlichen Weise wieder herauszukommen. Das geht nicht ein für allemal, sondern nur durch Bezugnahme auf die jeweils gegebene Handlungssituation. Wer aus der moralischen Intuition heraus handeln will, muss diese in Bilder einkleiden, d.h. seine moralische Phantasie zur Schaffung solcher Bilder einsetzen, durch die er sein Handeln den jeweils Betroffenen verständlich macht. Während das Denken bei der Herausarbeitung der moralischen Intuition kognitiv-analytisch, muss es jetzt, ähnlich wie bei dem Beobachtungsgang in
Kapitel III, imaginativ-produktiv werden. Das gibt dem Kreis der hier Einbezogenen einen besonderen Rang: ‚Einer tut es‘, und der Chor der Mitbetroffenen nimmt es, dem Gehalt zustimmend, auf. Auf diese Weise kommen Probeläufe sittlicher Prinzipien in Gang, so nämlich, dass die letzteren bei nachhaltiger Aufnahme in das Menschheitsbewusstsein zu Elementen der Weltevolution werden.
Wie gehen wir mit den angeborenen Gattungseigentümlichkeiten um?
Eine entsprechende Evolution des individuellen Menschen zu sich selbst wird dann in Kapitel XIV, „Individualität und Gattung“, beschrieben. Hier ist von dem Umgang des geistig strebenden Menschen mit den ihm angeborenen Gattungseigentümlichkeiten („Rasse, Stamm, Volk, Familie, männliches und weibliches Geschlecht“) die Rede. Diese ‚gibt es‘ also, aber nicht an und für sich, sondern im Fokus der Frage, wie wir damit umgehen. Das erscheint als ein geistiges Arbeitsprogramm, das wiederum dem Leser eine nicht geringe gedankliche Anstrengung abfordert. Es ist natürlich einfacher, hier im Sinne der „politischen Korrektheit“ die Alarmglocken schrillen zu lassen: Es gibt keine Rasse und kein angeborenes Geschlecht und wer das trotzdem, in welchem Kontext auch immer, behauptet, ist „Rassist“ oder „Sexist“! Wir lassen das beiseite und blicken stattdessen auf das Arbeitsprogramm in Kapitel XIV, das auch ein Kulturprogramm ist, nämlich in dem Sinn der Kultivierung des Menschenwesens. Die moderne Anthropologie sagt: „Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier“; also ist es unsere Aufgabe, diese Fest-Stellung im Sinne der Freiheit zur Autonomie auszugestalten.
Ein Haupt-Streitpunkt war hier auch schon zu Steiners Zeit die Befreiung der Frau aus ihrer hergebrachten gesellschaftlich-politischen Bevormundung. Die naturalistischen Argumente für diese, idealisiert in Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ sind bekannt, und auch die Schiller-Kritik von Friedrich Gundolf: „In seinem hehren-Jambenton / Wird uns das Ideal gewohn“ weist nur auf den Grund dieser Rollenverteilung hin, die de facto seit dem Beginn der Neuzeit den Frauen zum schweren Nachteil ausschlägt. Dem begegnet Steiner hier mit einer feinen Unterscheidung: „Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen“ (Kap. XIV, Seite 239). Was einer Frau jeweils von Natur als Weiblichkeit angeboren ist und insofern typologisch erfasst werden kann, kann von der einzelnen Frau durch ihre eigene geistige Aktivität umgewandelt, nämlich in eine wahrhaft menschliche Individualität aufgehoben werden.
das Zukunftsträchtige
Der Mensch kann dasjenige, was er an sich als (männliche, weibliche, nationalistische, rassistische usw.) Triebe, Instinkte und Leidenschaften beobachtet, durch das Denken in einen seinem besonderen Wesen entsprechenden Zusammenhang bringen. Also nicht, wie ein alter Schlagertext sagt, „Frau sein und doch frei sein“, sondern: In der geistigen Aufarbeitung meiner Fraulichkeit frei werden. Das wirkt weiter, wenn es in den Wahrnehmungsbereich eines Anderen, zur Beobachtung von nicht schematisiertem Leben Fähigen kommt. Die PhdF selbst ist in diesem Sinn „work in progress“, und sie ist revolutionär, insofern sie die „moralische Phantasie“ aus der Stilkiste der Erbauungsliteratur herausholt und zu einem philosophischen Grundbegriff macht, der sich auch allen politischen Vorspannungen entzieht. So vernahm ich im Rundfunk die Antwort einer Interviewpartnerin auf die Frage, wie sie es mit ihrer Geschlechtsidentität halte: „Zuerst bin ich Mensch. Danach kommt lange nichts. Dann bin ich auch Mutter, berufstätig usw.“ In diesem „es kommt lange nichts“ geschieht gleichwohl etwas, nämlich das Zukunftsträchtige.