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Wo steht die Kunst? Wofür brauchen wir sie?
Beiträge von Tille Barkhoff, Elmar Lampson, Amadeus Templeton, Joachim Heppner, Roswitha Meyer-Wahl, Ulrich Rölfing
Dass die Kunst, bzw. die KünstlerInnen in den letzten eineinhalb Jahren gelitten haben, ist uns allen bekannt. Auch wenn jetzt wieder ein Aufschwung kommt, ist es unsicher, ob das kulturelle Leben weitergehen wird. Die Umsatzeinbußen durch Corona in der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland können sich durch die Absage von zahlreichen Veranstaltungen und der Schließung von Kunst- und Kulturstätten in 2020 bis zu 28 Milliarden Euro belaufen. Wie erleben das die KünstlerInnen selbst, deren Arbeit als nicht systemrelevant eingestuft wird? Und was macht das mit uns als Gesellschaft, wenn wir die Kunst nicht mehr haben?
Sind die Künstler die Corona-Verlierer?
Von Tille Barkhoff, Eurythmistin
„Die Corona-Krise macht den tiefen Spalt im Kulturbetrieb sichtbar, der schon immer zwischen privilegierten, mit festen Verträgen an Institutionen gebundenen Kreativen und der riesigen Gruppe der freiberuflich Beschäftigten klaffte. Das Label „Solo-Selbständige“ berechtigt die meisten im Theater- und Konzertbetrieb tätigen „Freien“ kaum, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, denn die meisten Hilfsprogramme ließen erkennen, dass dem Gesetzgeber die Lebenswirklichkeit dieser großen Gruppe gänzlich unbekannt ist. Zahlreiche privat initiierte Hilfsprojekte versuchen daher, in die Bresche zu springen und den in existentielle Not Geratenen unbürokratisch zu helfen.“ *
Eines davon ist die „KunstNothilfe“, in der ich seit März 2020 mitarbeite. Sie hat sich als Crowdfunding-Plattform gleich zu Beginn der Krise gegründet und ermöglicht jedem, der sich engagieren will, Geld für Künstler zu spenden. Bis jetzt sind dort hunderte von Anträgen eingegangen, die mir/uns einen sehr konkreten Einblick in die Not vieler Künstler gegeben haben. Viele haben ihr Leben lang gearbeitet, konnten dabei aber nie große Rücklagen erwirtschaften. Nun sind sie unverschuldet in Not geraten. Oben habe ich aus einem Artikel der freien Journalistin und Autorin Regine Müller zitiert, den sie nach einem Jahr über die Situation der Künstler verfasst hat. Auch sie arbeitet in der „Kunstnothilfe“ mit und schreibt unter dem Titel „Durchs Raster gefallen“ weiter:
„Das Spektrum der Antragssteller reicht vom Bauchredner und Artisten über die Grafikerin für Programmhefte über Theaterpädagogen, Kostümbildnerinnen bis hin zu MusikerInnen, erlauchten Alte- oder Neue-Musik-Ensembles und freischaffenden SängerInnen und Tänzerinnen, während sich inzwischen immer weniger Bildende KünstlerInnen melden, die ihre Lage offenbar stabilisieren konnten und davon profitieren, dass wenigstens die Galerien irgendwie, wenn auch beschränkt weiterwurschteln können.“*
„Als Voraussetzung für die staatliche Förderung wurde anfangs die Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse verlangt, aber schon in der zweiten Förder-Runde war inzwischen allen aufgefallen, dass es zahlreiche Anträge gab, die nachprüfbar von im Kulturbetrieb äußerst aktiven Menschen gestellt wurden, die aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der KSK sein dürfen, deshalb auch andere, öffentliche Hilfsfonds nicht in Anspruch nehmen können, und ergo gerade besonders der unbürokratischen Hilfe bedürfen. So schrieb eine Performerin in der Begründung für ihren Antrag auf Hilfe: … ‚bin alleinerziehende Mutter eines schwerbehinderten Sohnes. Da ich auf Pflegegelder angewiesen bin, kann ich nicht in die Künstler-sozialkasse.‘ Auch Menschen, die ihre betagten Eltern pflegen, erhalten Gelder aus Pflegekassen und fallen damit aus der Berechtigung für die KSK heraus. Eine große Gruppe derer, denen die Mitgliedschaft in der KSK verwehrt ist, bilden die SchauspielerInnen. Da sie häufig mit Synchron-Jobs oder Film-Drehs für kurze Zeit angestellt werden, können auch sie nicht in die KSK. Ein Schauspieler schrieb: ,Dadurch stehen mir sowohl die Vorteile des Regelmäßig-Angestellt-Seins (regelmäßige Einzahlung in die Arbeitslosenhilfe), als auch durch die Vorteile des Freiberufler-Daseins (der günstigen Kranken- und Pflegeversicherung – KSK) nicht zu. Also erneut falle ich durch jegliches Raster.‘
Darstellende KünstlerInnen sind besonders schwer betroffen durch Corona, da sie nur für bestrittene Auftritte bezahlt werden – was auch für die riesige Schar der Orchesteraushilfen gilt, ohne die kein groß besetztes Symphonie-Konzert und keine Opernaufführung über die Bühne geht, aber auch etwa für die Mitglieder des gut bezahlten Bayreuther Festspielchors, die 2020 keinerlei Ausfallhonorare erhielten. Gleiches gilt für freiberufliche Opern- und TheaterregisseurInnen.
Ein Riesenproblem ist vor allem das Chaos der öffentlichen, einander ausschließenden Hilfsprogramme, viele AntragstellerInnen schildern anschaulich die Verwirrungen und Widersprüche der Programme, bei der viele wiederum durch alle Raster fallen.“*
Seitdem Regine dies geschrieben hat, ist ein halbes Jahr vergangen. Das macht sich bemerkbar. Es scheint so, dass viele Künstler sich langsam arrangiert haben und neue Wege gefunden haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Trotzdem wird die Not, die wir in den Anträgen der Kunstnothilfe sehen, nicht weniger. Eher zeigt sich, dass nach einer so langen Zeit Beträge wie 500,-bis 1000,-Euro nicht mehr helfen. Zu Beginn der Krise haben solche Beträge den Künstlern auch dadurch geholfen, dass sie ihnen Mut gemacht haben durchzuhalten und dass sie sich in Ihrer Not gesehen fühlten. Die lange anhaltende Not und die fehlende Perspektive, wann wieder Normalität in den Kulturbetrieb eintritt, führt aber jetzt dazu, dass immer mehr Künstler ihre Studios, Ensemblearbeit und Kursarbeit aufgeben, um in anderen Bereichen Geld zu verdienen. Vor allem junge Künstler, die gerade ins Berufsleben einsteigen wollten, schaffen es oft nicht mehr, die Hürden zu nehmen, die sich ihnen jetzt stellen. Oder Künstler werden, wegen eines unter anderen Umständen vielleicht gut zu bewältigenden Schicksalsschlags in der Familie, dazu gezwungen, ihre freie künstlerische Tätigkeit aufzugeben.
Das habe ich jetzt auch mehrfach in der Eurythmieszene, in der ich tätig bin, erlebt. Vielversprechende Studienabgänger, die künstlerisch arbeiten wollten, gehen auf Sicherheit und suchen sich andere Aufgaben; kleine Eurythmieensembles lösen sich auf, und die Initiative für das Delphi-Eurythmie-Festival in Hamburg hat ihre Arbeit nach drei Versuchen mit dem dazugehörigen Fundraising, der Programmplanung, der Theatermiete (incl. 20-seitigem Hygienekonzept) jetzt eingestellt. Die Kraft und der Enthusiasmus, ehrenamtlich dafür zu arbeiten schwindet, denn ohne zu wissen, ob bzw. wann und in welchem Rahmen die Veranstaltung wirklich stattfinden kann, will niemand mehr weiterplanen.
Viele Künstler, so auch viele Eurythmisten, versuchen nun durch ONLINE-Projekte, -Kurse, etc. ihre Tätigkeit fortzusetzten und machen in diesem Bereich auch neue, bereichernde Erfahrungen. Aber liegt hier eine wirkliche Alternative für ein lebendiges Kunst- und Kulturleben? Wir sprechen von „analog“ und „digital“, als wären es zwei gleichwertigen Alternativen und verschleiern so im alltäglichen Wortgebrauch, dass das eine das wirkliche Leben, und das andere eine um vieles ärmere Scheinrealität ist. Wo bleiben die Vielschichtigkeit der Sinneserfahrung in der Kunst und die menschliche Begegnung?
Aus diesen Erfahrungen ist mein persönliches Resümee deshalb, dass vor allem die Pluralität, Vielfalt, Lebendigkeit der freien Kunstszene darunter leidet, dass noch kein Ende der Corona-Auflagen und -Einschränkungen abzusehen ist. Die meisten KünstlerInnen haben genug Phantasie und Tatkraft, um neue Wege zu finden, sich in der Not irgendwie „über Wasser zu halten“. Aber wir als Gesellschaft verlieren ihre oft so originelle und ganz individuelle künstlerische Arbeit, die zwar nicht als „gesellschaftsrelevant“ gilt, die unserer Leben aber bunt und liebenswert macht und die den Humus bildet für ein kraftvolles Kulturleben, das von Austausch und Begegnung lebt.
* Der zitierte Text von Regine Müller ist erschienen im Fachmagazin Opernwelt 02/21.
Wozu brauchen wir die Kunst?
Prof. Elmar Lampson, Präsident der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Künstler und Kulturschaffende teilen das Schicksal mit vielen anderen Menschen, deren Arbeitsgebiete nicht zu den vordergründig existenznotwendigen Bereichen der Gesellschaft gehören. Die Erfahrung, in der Pandemie-Situation nicht als „systemrelevant“ angesehen zu werden, war für Viele ein Schock. Als alles geschlossen wurde und das Kulturleben zum Stillstand kam, trat eine bedrohliche Stille im öffentlichen Leben ein. Noch nicht einmal in den Weltkriegen hat es das gegeben. Im Gegenteil, viele Menschen, die den zweiten Weltkrieg erlebt haben, erzählen noch heute von der großen Kraft, die sie durch die Besuche von Konzerten oder anderen Kunstveranstaltungen unter kaum vorstellbaren Bedingungen erhalten haben. Gerade in Zeiten der Not erweist sich oft die elementare Lebenskraft der Kunst.
Selbstverständlich lässt sich die Situation im heutigen Deutschland nicht im Entferntesten mit dem vergleichen, was Menschen in Kriegszeiten erlitten haben oder in vielen Ländern auch gerade jetzt erleiden. Aber das weltweite Verstummen der öffentlichen Kunstveranstaltungen war dennoch ein bislang singuläres Ereignis, dessen Folgen noch gar nicht abzusehen sind.
Es beeindruckt mich in diesen Tagen immer, wenn ich höre, wie beglückt Menschen sind, die nach langer Zeit wieder in einem Konzert waren oder selbst wieder auf der Bühne gestanden sind. Es ist wie der neue Einsatz der Musik nach einer Generalpause. Mit gesteigerter Energie strömt sie weiter. Alles wirkt nach der Unterbrechung farbiger und reicher.
Ich hoffe zutiefst, dass auch die Generalpause des Kulturlebens etwas in unserer Beziehung zur Kunst verändern und erneuern wird. Kunst ist niemals „systemrelevant“ im Sinne der Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten oder geheizten Wohnräumen. Die Kunst ist etwas anderes. Sie kann entstehen, wenn wir innehalten und uns aus den unmittelbaren Zwängen des Alltags herauswinden; wenn wir nicht mehr fragen, was wir brauchen, sondern freiwillig mehr tun, als wir müssen; wenn wir von uns aus der Welt etwas zurückgeben, was wir in unserem Innersten empfinden und was sich nur in Farben, Formen, Geschichten, Szenen, Klängen oder Tönen sagen und gestalten lässt. Ein solcher künstlerischer Zugang zur Welt kann niemals ersetzten, was im realen Leben notwendig ist. Aber die Kunst kann dazu beitragen, die Not zu wenden, indem Sie unseren Blick und unsere Empfindungen weitet und über die oft bedrückenden Tatsachen des Lebens hinausweist.
12 Blickwinkel über die Kunst in ihrem aktuellen Kontext
Ein Beitrag von Amadeus Templeton, Cellist, Kulturmanager und u.a. Mitbegründer von TONALi
Wo die Kunst gerade steht, ist eine spannende, nicht ganz leicht zu beantwortende Frage. Wofür wir die Kunst brauchen, ist hingegen klar: Ohne die Kunst wird das Leben öde und leer.
12 subjektive Blickwinkel auf die Kunst in ihrem aktuellen Kontext mögen das aktivieren, was in uns allen ist – eben Kunst.
Blickwinkel 1: Entfesselte Kunst
Die Kunstszene überdenkt dieser Tage alles Bisherige, befreit sich in Produktionen, Schöpfungen und Wagnissen von ritualisierten, tradierten, überholten Konventionen, Zwängen und Deutungshoheiten. Selten zuvor war vieles mit Blick auf die Zukunft so unklar, wie es heute ist. Was für eine Chance für die Kunst! Not macht erfinderisch! Und wer erfinderisch sein will, darf jetzt tabulos ran an all das, was nach Gestaltung, nach Kunst, nach geistig-schöpferischer Entwicklung sucht, ruft und fragt. In diesem Sinne entfesselt sich gegenwärtig die Kunst, wird frei – wird zum Wind des Wandels, also zur potenziellen Kraft, die es unbedingt braucht, um das zu bewältigen, was als Herausforderung erlebbar ist und vor uns steht.
Blickwinkel 2: Das Ändern leben
Ob sich etwas ändert, hängt ausschließlich von uns ab, also von jedem einzelnen Individuum. Das Ändern zu „leben“, ist die Aufgabe, die uns als Menschheit fordert und voran bringt. Wer etwas ändern will, braucht Utopien, Visionen, Gestaltungsfreude und Mut. Wie aber imaginieren wir das, was aus der Zukunft heraus entsteht – was entstehen will? Wie inspirieren wir uns, um auf sinnhafte, auf zukunftsweisende Ideen zur Lösung sichtbar werdender Herausforderungen zu kommen? Die Künstler sind gefragt, hier ihre Möglichkeiten zu entdecken, da sie ggf. Instrumente gebildet haben, die in den Menschen das künstlerisch-schöpferische Potenzial zu wecken verstehen. Wer, wenn nicht die Künstler können das in Resonanz versetzen, was potenziell alle Individuen in eine weltempfindliche Verbindung bringt? Künstlerische Seelen sind weltempfindliche Seelen. Und eine gesunde Weltempfindlichkeit ist das, was Zukunft schafft.
Blickwinkel 3: Ich tu es, weil ich es kann
Joseph Beuys hat den Begriff der „sozialen Skulptur“ geprägt. Diesen auf die kleinsten Gemeinschaften, auf ganze Stadtteile, auf Demokratien zu projizieren, ist weiterhin spannend, da jedes einzelne Individuum dazu eingeladen ist, eben diese Skulpturen gestalterisch-künstlerisch mitzuprägen. Wer mitgestaltet, bewirkt etwas. Und wer etwas bewirkt, schafft Wirklichkeit. An das gestalterische Potenzial in sich zu glauben, das im Sinne des Gemeinwohls, im Sinne der Weltempfindlichkeit eingebracht werden kann, ist hilfreich, zumal der Mensch schon immer dazu berufen ist, die Welt zu gestalten, statt sie zu ertragen.
Blickwinkel 4: Denn die Kunst kann es
Die Pandemie hat das kulturelle Leben stark eingeschränkt. Der Verlust an Kunst wurde spürbar. Aber was sagt uns die Krise? Wollen wir zurück zu dem, was war? Besinnung tut Not. Wer raus will aus dem Erduldungsmoment – der viele lähmt – kann in die Gestaltung, kann durch künstlerisches bzw. kreativ-schöpferisches Tun das Ändern leben. Und wenn das Ändern keinen Selbstzweck, sondern einen zukunftsvollen Gemeinsinn stärkt, dann entwickelt sich daraus ein freier Weg, der alles kräftigt, alles in Beziehung zueinander bringt, was werden will.
Blickwinkel 5: Wem gehört die Kunst?
Die Kunst gehört im Sinne der „Freiheit im Geistesleben“ bzw. des „L’art pour l’art“ immer sich selbst. Sich selbst genügen reicht aber nicht mehr aus. All das, was in der Kunst Monolog ist, darf dialogischer werden, darf Teilhabe stiftender, offener, unfertiger sein. Es geht vielleicht weniger um das Senden von Botschaften (fertige Bilder, fertige Positionen, fertige Produktionen etc.), als um das Stiften von Anregungen, die zu gemeinschaftsbildenden Initialerlebnissen – also künstlerischen Erfahrungen – führen.
Blickwinkel 6: Künstlerische Handlungsspielräume
Wenn Künstler sich trauen, ihre Werke, ihre Fragen, ihre Positionen nicht mehr bis zu einem Punkt zu bringen, sondern unvollkommen zu lassen, nur bis zu einem Doppelpunkt zu kreieren, so entsteht ein offener Handlungsspielraum, ein „Kunst-Raum“, der gefüllt werden will, der das zu aktivieren sucht, was im Austausch, was in der Vervollkommnung, in der Ergänzung durch das Gegenüber – was im Dialog entsteht.
Blickwinkel 7: Offene Räume, offenes Bewusstsein, geöffnete Sinne
Es könnte so spannend werden, wenn Teilhabe nicht mehr eine Phrase, sondern eine gelebte Praxis wird. Die Gedankenbildung, die bis zu dieser Stelle im Text geführt hat, wird nun nicht mehr fortgeführt. Vielmehr entsteht hier Raum, um das „Angeregte“ selber fortzuschreiben.
Blickwinkel 8:
Blickwinkel 9:
Blickwinkel 10:
Blickwinkel 11:
Blickwinkel 12:
Und ich male dennoch
Von Joachim Heppner, Leiter der Kunstakademie Hamburg, Maler und Illustrator
Die Kunst ist systemirrelevant, denn es geht auch ohne sie. Das hat die Pandemie bewiesen. Warum? Weil unser System auf Rationalität und Funktionalität getrimmt ist und es ums Überleben geht. Das suggerieren uns die Ängste der Pandemie.
Erst kommt das Fressen, dann die Kultur. (In einer Abwandlung der berühmten Redensart nach Bertolt Brecht.) Mit einem vollen Bauch und betäubt von den Medien werden wir schon die Hirngespinste der Kulturschaffenden vergessen.
Und ich male dennoch. Nehme den Pinsel und gebe den Farben einen Freiraum auf der Leinwand. Vielleicht ist es unnütz was ich mache, aber es ist nicht sinnlos. Vielleicht gibt es niemanden, der dieses Bild sehen wird, aber ich habe es leben lassen. Vielleicht trete ich es auch in die Tonne, aber zunächst ist es meine Herzenssehnsucht. Ich werde es immer wieder versuchen.
In den Farben steckt ein Leben, an das der rationale Verstand und das Denken nicht herankommt, das macht sie so geheimnisvoll. Es ist der Versuch aus dem Unbestimmten in die Zukunft zu leben, eine Imagination zu schaffen. Ich erlebe freie seelische Werte als Mensch.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Maßnahmen während der Pandemie sollen uns vor Ansteckung schützen, aber sie infizieren uns mit der Angst vor der Zukunft. Alles, was uns aber als Krise entgegenkommt, ist Ergebnis unseres Handelns aus der Vergangenheit. Zukunft ist das, was wir jetzt neu finden. Und da sehe ich eine große Einfallslosigkeit. Die Pandemie hat uns zu Wissenschaftsgläubigen gemacht. Dieselbe Wissenschaft, die in Produktion und Technik die Probleme geschaffen hat, soll sie jetzt beseitigen.
Nur langsam hinterfragen wir die Werte unserer Gesellschaft. Der Wert des Lebens zum Beispiel. Die Würde des Menschen. Gehört die Kunst nicht dazu? Ist es genug, Wohnung, Essen und Gesundheit zu sichern?
Meine Mutter lebt im Pflegeheim und war fast ein Jahr isoliert. In den Telefonaten sagt sie regelmäßig, sie sei im Gefängnis, ohne dass sie etwas verbrochen habe. Sie versteht die Welt nicht mehr. „Darf man das mit Menschen machen?“ fragt sie. Und dann steht da ein gemaltes Bild von mir an ihrem Fenster. „Weißt du, das hat einen ganz dunklen Himmel und ein Dorf mit weißen Dächern. Die Häuser sind auch ganz dunkel, aber die Fenster haben so ein warmes orangenes Licht. Das sehe ich mir immer wieder an.“ An diesem Bild hält sie sich fest, es gibt ihr Hoffnung und Geborgenheit. Ich hatte es in einem Malkurs mit behinderten Menschen gemalt und ihr ganz unbedarft hingestellt, nicht ahnend, dass es für sie wichtig werden wird. Es ist keine große Kunst, aber ihr eine große Hilfe.
Vielleicht hat uns die Pandemie gelehrt, dass die Kunst Werte schafft, die unverzichtbar zum Menschen dazugehören. In diesem Sinne ist die Kunst eminent systemrelevant. So wie der Schlaf zum Menschen dazugehört, auch wenn er nichts weiter hervorbringt als Erholung. Wie viele Zeit schlafen wir? Wirtschaftlich gesehen eine unproduktive Zeit. Aber aus diesen Tiefen des Lebens schöpfen wir unsere Kraft. Aus diesen Tiefen des unbewussten Lebens schöpft aber die Kunst ihre Inspirationen, um Hoffnung, Werte und Zukunft zu geben. Nehmen wir einer Gesellschaft die Kunst, oder dezimieren wir die Kulturschaffenden, so wird sie wie ein Mensch mit Schlafentzug und mit Schlafstörung, nervös, unausgeglichen und gereizt.
Wenn wir anerkennen, dass Kulturschaffende etwas von Lebensqualität in die Gesellschaft bringen, die zur Erneuerung und Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens notwendig ist, dann müssen wir sagen, sie ist systemrelevant. Sollte eine wohlhabende Gesellschaft sich diese Kultur und die Künstler nicht leisten können? Wie viele Milliarden Euro haben wir zur Unterstützung an die Wirtschaft gezahlt, und womit sind die Künstler abgespeist worden? Ich plädiere dafür, dass man den Kulturschaffenden ein Grundeinkommen ausstellt, wovon sie die Grundbedürfnisse des Lebens bestreiten können. Mögen sie aus ihrem Vermögen der Gesellschaft an Lebenskräften zurückgeben, was diese nötig hat.
Erwachen für die Welt und den Menschen
Von Roswitha Meyer-Wahl, Sprachgestalterin, Schauspielerin, Theaterpädagogin
Die Haltung, die davon gespeist ist, in allen Dingen des Lebens, in jedem Menschen ein Verborgenes schlummernd zu wissen und zudem erfahren zu haben, dass künstlerisches Tun und Aufnehmen in jeglicher Form dieses Verborgene zum Vorschein, zum Leuchten bringen kann, ist mir so selbstverständlich, wie jeden Morgen in meinem Bett aufzuwachen. Es ist der Quell, aus dem heraus ich mit der Sprachgestaltung arbeite.
Durch das Zwiegespräch mit Dichtung, vor allem der Lyrik, betreten wir eine Welt, in der Worte, Sätze, Bilder durch eines Menschen Seele und Geist bereits geformt, verdichtet worden sind. Sie berühren tiefer als nur die Worte selbst es könnten. Wir können die Welt wie durch eine andere Seele erleben. Im Reich der Dichtung begegnen wir der Sprache jenseits der Kommunikationsebene, der Informationsebene, wir betreten ein Feld, in dem sich Wort, Musik und Bild vollkommen vereinen. Ein Stück Welt wird vor uns hingestellt, durch das wir mehr sehen von der Welt, als wir von uns aus sehen könnten. Die Ohren öffnen sich, auf dass sie mehr hören, als sie im Alltag hören können. Ein Vers lebt erst auf, wenn er gesprochen wird. Wie ein Feinschmecker kann der Sprechende in die Substanz der Worte eindringen. Nähe zum Wort entsteht und durch das Wort Nähe zu sich selbst.
Die soziale Zukunft hängt am Einzelnen, an jedem Ich. Der Mensch ist die Quelle aller Sozialität, er ist es auch vor allem durch die Sprache und sein Sprechen. Die Sprechkunst führt ihn an den Ich-Ort.
„Unsere kranken Herzen kranken an dem Abstand, den wir halten.“ (Kate Tempest)
Abstand halten kann es in der Kunst nicht geben, durch die Kunst kann und will der Abstand überwunden werden. Das gilt für den Abstand zur Welt und dem zu uns selbst. Finden den Ich-Ort, den Ort in dem der zweite Mensch in mir erstarken kann für die Gegenwart, das fordert die Zeit und die Kunst von mir, damit ich jeder Zeit offen bin für den schöpferischen Augenblick. Das Menschsein ist „nichts Festes, Gewordenes“, es ist ein Werdendes. Nur da, wo etwas auf dem Weg ist, ist der Mensch Mensch. Kunst treiben heißt schlichtweg Menschwerden. Im künstlerischen Sprechen ist das eine elementare Urerfahrung.
„Soziale Verunsicherung. Es ist genau die richtige Zeit zum Theater machen: Wir sind jetzt umso mehr aufgefordert, den Menschen in seiner sozialen Dimension zu erforschen – uns im Miteinander neu zu entdecken. Kein Weg ist richtig oder falsch. Dass wir neu entdecken, aufbrechen, ist wichtig.“
(Worte einer Studierenden)
„Was sollen wir machen, wie wachen wir auf?
Wir schlafen so fest, nichts kommt an uns ran.“
(Kate Tempest)
Meine Antwort wäre: Ein künstlerisches Bewusstsein, Empfinden und Handeln entwickeln, das würde ein Erwachen für die Welt und den Anderen ermöglichen. Ein offener Weg.
Kunst muss sich gerade jetzt im Konkreten beweisen
von Ulrich Rölfing, Maler und Bildhauer
Die Selbsteinschätzung eines Künstlers ist in der Regel labil, meine wenigstens. Wozu wird Kunst gebraucht? Das entzieht sich weitgehend einer Benennung. Kunst muss ihre Relevanz von Fall zu Fall erweisen.
Durch die fragwürdige Tendenz der Pandemiebekämpfung, uns auf das biologische Überleben zu reduzieren, hatte die Kunst in den letzten anderthalb Jahren einen schweren Stand. Sie musste zurückstehen, wie andere gesellschaftliche Bereiche, teils aus verständlichen und nachvollziehbaren Gründen.
Bei mir wurden Ausstellungen abgesagt oder ins Unbestimmte verschoben. Eine Ausstellung im Natela Iankoshvili Museum in Tiflis/Georgien war für den April 2020 geplant. Alles war organisiert, Förderungen waren eingeworben, Plakate und Einladungen waren gedruckt, dann das Aus. Mein Flug wurde gestrichen, eine Ein- und Ausreise nach Georgien war nicht mehr sinnvoll möglich. Damals war Corona in Georgien noch wenig verbreitet, doch es wurden vorrausschauend Maßnahmen ergriffen, wie in den meisten Ländern. In der Behinderteneinrichtung „Qedeli“ im Osten Georgiens, wo ich im Jahr 2018 Portraits von den Betreuten gemalt hatte, sind im Laufe des Jahres dann sämtliche Bewohner an Covid erkrankt. Glücklicherweise haben alle die Krankheit gut überstanden.
Mangels der Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu treten, war die Coronazeit eine Zeit konzentrierter Produktion. Ich habe künstlerische Projekte weiterverfolgt, die ich schon zuvor begonnen hatte. Und zwei Aufträge haben mich auf trab gehalten.
Besonders herausfordernd war die Arbeit an einer Madonnenfigur für einen geplanten Bildstock in meinem Heimatdorf.
Ich denke, Kunst muss sich gerade jetzt im Konkreten beweisen und ihre Möglichkeiten in jedem Anlauf erneut ausloten.