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„…Zwischen den Zeilen das Unsagbare sagen“ (Rose Ausländer)
Spirituelle Erfahrungen in der modernen Dichtung
Artikel von Maria Schulenburg, Vortragsrednerin
Welche Bedeutung haben Dichter in unserem Leben?
Diese Frage wird jeder Mensch anders beantworten. Doch vielleicht kennen wir alle die Situation: Wir nehmen ein Buch zur Hand und finden plötzlich darin Sätze, die uns zutiefst aus der Seele sprechen – aber niemals hätten wir es so treffend ausdrücken können.
Dichter gelten häufig als Sprachrohr für Zeitströmungen. In Ihnen offenbart sich oftmals früher, was sich an Entwicklungen in der Menschheit ankündigt.
Nur deshalb werden wir von ihren Worten berührt, weil sie uns auf der einen Seite zu neuen „Kontinenten“ führen können, und weil wir auf der anderen Seite spüren, dass wir ihre Erkenntnisse und Impulse auch in uns tragen. Durch die Dichtung lernen wir sie zu verstehen.
Der amerikanische Professor für Psychologie Kenneth Ring erlangte durch eine Nah-Todeserfahrung tiefe Einblicke in die geistige Welt. Er vertrat seither die Überzeugung, dass die Menschheit dabei ist, eine neue Menschheitsstufe zu erringen. Ein Same, so sagt er, der schon immer in den Menschen schlummerte, werde jetzt aufgehen und zum Wachsen gebracht. Dadurch käme es zu neuen Bewusstseinsformen, ja, sogar zu einem kosmischen Bewusstsein. Er spricht von einem neuen Menschen, der im Entstehen ist.
Können wir das nachvollziehen? Bei all der Gewalt, Machtmissbrauch und Zerstörung, die zur Zeit von uns Menschen ausgeht? Aber gehört das nicht dazu, der Blick in den Abgrund, damit etwas Neues aufbrechen und entstehen kann?
Ich möchte meinen Blick in die Welt der Dichtung des 20. und 21.Jahrhunderts lenken und mich auf die Suche machen nach diesem neuen Menschen. Finde ich ihn? Finde ich ihn in ersten Ansätzen?
Dichter gelten ja häufig als Sprachrohr des Zeitgeistes, in ihnen offenbart sich oftmals früher, was sich an Entwicklung in der Menschheit anbahnt.
Bei meiner Suche stoße ich auf Alexander Solschenizyns Buch „ Der erste Kreis der Hölle“.
Es spielt in einem Arbeitslager für Wissenschaftler, ganz materialistisch und marxistisch geprägt.
Wir können erstaunt sein, wenn wir im 42. Kapitel die Überschrift finden: „Die Burg des heiligen Grals“. Der Gefangene Ingenieur Nershin hat in diesem Kapitel ein Gespräch mit einem Maler, der ebenfalls inhaftiert ist. Sie stellen sich die Frage, ob die äußeren Umstände unser Leben prägen, oder ob eine geistige Kraft im Menschen unser Leben bestimmt. Der Maler gibt eine erstaunliche Antwort, er sagt:
… wenn er unerwartet das Bild der Vollkommenheit erblickt
„Von Geburt an liegt im Menschen eine gewisse Wesenheit. Das ist sozusagen der Kern des Menschen. Sein Ich. Und es ist noch nicht bekannt, wer wen formt: Das Leben den Menschen oder die geistige Kraft des Menschen das Leben …. Weil der Mensch etwas hat, zu dem er aufblicken kann, weil er in sich ein Bild der Vollkommenheit trägt, das in seltenen Augenblicken plötzlich aus ihm hervortritt. Vor sein geistiges Auge.“
Der Maler zieht aus einem Versteck ein Bild hervor, das er selbst gemalt hat. Es zeigt Parsifal, tief versunken in den Anblick der Gralsburg, die vor ihm in sonnenstrahlender Helle erscheint.
„Dies ist der Moment, den ich mir besonders lebhaft vorstelle“ sagt der Maler.“ Diesen Augenblick kann jeder Mensch erleben, wenn er unerwartet das Bild der Vollkommenheit erblickt.“
Parsifal, der suchende Mensch im Anblick der Gralsburg. Ist das nicht ein Urbild im Menschen? Das Geheimnis seines höheren Ichs, das noch sehr fern, aber doch einen Augenblick für ihn sichtbar wird?
Auch Franz Kafka findet Metaphern für die unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten, wenn der Mensch bereit ist, immer fortzuschreiten. So schildert er in seiner Erzählung „Fürsprecher“ wie sich immer neue „Türen“ öffnen und wir in immer höhere „Stockwerke“ aufsteigen können.
„Solange Du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf. Unter Deinen steigenden Füßen wachsen sie weiter.“
Niemals stehenbleiben, den Mut haben, sich in immer höhere Regionen der Erkenntnis zu erheben. Das ist seine Forderung. Sie gehen durch das Tal der Sprachlosigkeit.
Ein schönes Bild für den neuen Menschen in uns findet auch Gerd Gaiser in seinem Roman „Der Schlussball“. Im letzten Kapitel sitzt das lahme Mädchen im Rollstuhl an einem braunen Tümpel und beobachtet die braunen Larven, aus denen nach und nach farbenfrohe Libellen ausschlüpfen und sich in die Lüfte erheben. Das Mädchen ist von diesem Vorgang innerlich berührt, weil sie intuitiv spürt, dass es ein Bild darstellt für unsere eigenen Verwandlungsprozesse.
Es gibt eine Reihe von Dichtern des 20. Und 21. Jahrhunderts, die wir als Grenzgänger bezeichnen können, als Schwellenbewohner. Dichter, die durchlässig geworden sind für die übersinnlichen Welten, die oft eigene spirituelle Erfahrungen gemacht haben. Und unabhängig voneinander werden diese Dichter plötzlich von einem schmerzlichen Gefühl der Sprachlosigkeit ergriffen. Sie spüren, für das, was sie nun ausdrücken wollen, gibt es keine Worte. Ihr bisheriges Sprachvermögen reicht nicht aus.
So äußerte Ionesco, der selbst zwei große spirituelle Erlebnisse hatte:
„Das tiefe Erleben hat keine Worte“
Beckett, der immer wieder in seinen Werken das große Nichts umkreist hat, sagte:
„Immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muss, um an die dahinter liegenden Dinge zu kommen.“
Nelly Sachs schrieb:
„Hinter den Lippen Unsagbares wartet“
Rose Ausländer:
„Es heißt zwischen den Zeilen das Unsagbare sagen“
Und schließlich Hilde Domin:
„Das Nicht-Wort ausgespannt zwischen Wort und Wort“
Sie gehen durch das Tal der Sprachlosigkeit. Aber sie verstummen nicht. Sie merken, eine neue Sprache muss gefunden werden. Jeder von ihnen geht auf die Suche, um sich so authentisch wie möglich ausdrücken zu können. Eine neue sprachbildende Kraft entsteht. Sprachschöpfungen, fast kristallin bei Paul Celan, absurd bei Ionesco, Sprachkeime bei Rose Ausländer, fremdartige Wortbilder, Chiffren, halbe Sätze, die sich im Wortlosen verlieren… was zwischen den Worten aufleuchtet.
Dieser Art der Dichtung erfordert von uns Lesern viel Aktivität, ja, fast neue Wahrnehmungsorgane. Wir können uns einlassen auf diese Neuschöpfungen der Sprache, wenn wir meditativ hineinhorchen auf das, was in den Wortbildern und zwischen den Worten als geistige Dimension aufleuchtet. Dann kann es geschehen, dass sich tiefere Seelenschichten öffnen und wir mit den Dichtern über Grenzen gehen.
Jetzt einige ganz konkrete Beispiele:
„Die Schiffsgeschichte“ von Marie-Luise Kaschnitz
Ein Bruder bringt seine Schwester Viola in Amerika zu einem Schiff. Sie will nach Marseille fahren. Als das Schiff abgelegt hat, merkt der Bruder, dass es das falsche Schiff ist, in das die Schwester gestiegen ist. Er versucht Nachforschungen anzustellen, aber niemand weiß etwas über dieses Schiff. Zuerst scheint auf dem Schiff alles einigermaßen normal zuzugehen, doch dann bekommt diese Normalität Risse und versetzt den Leser in eine seltsame Ungewissheit. Irdische Verhältnisse mischen sich mit irrealen Dingen. Wenn die Passagiere fotografiert werden, so sind sie auf dem Foto nicht sichtbar, sondern nur die Schiffsplanken. Das Datum, die Uhrzeit und die Position des Schiffes ist nicht festzustellen, die Uhren werden unaufhörlich vor- und zurückgestellt, der Kalender zeigt mal einen lang vergangenen Tag an und dann wieder einen, der weit in der Zukunft liegt. Die Zeit verliert an Bedeutung. Spätestens da begreift der Leser, dass sich dieses Schiff auf dem Lethe-Strom befindet und die Passagiere von dem Land der Lebenden in das Land des Geistes gebracht werden.
Die Besatzung denkt nicht daran, das Schiff zu navigieren, stattdessen rezitiert sie aus Dantes göttlicher Komödie des Paradieses letzten Gesang.
Es gibt jeden Tag weniger zu essen, bis es schließlich ganz wegfällt.
Viola liegt auf dem Deck und versinkt in den Anblick phantastischer Wolkenlandschaften, sie erlebt eine ewige Weltschöpfung aus Licht und Finsternis und beobachtet den langsamen Übergang in eine kristallene Reinheit der Nacht. Sonnenkegel, Lichtbahnen und Sternenbilder beginnen für sie eine immer größere Rolle zu spielen. „Wer bin ich?“ fragt sie sich “ich weiß es und ich weiß es auch wieder nicht.“ Die Uhren stehen nun still, die Kabinen sind ausgeräumt, das Gepäck verschwunden. Die Passagiere liegen auf den Deckstühlen, eingehüllt in Decken, sie sehen aus wie Kokons. Eines Tages werden diese Kokons in sich zusammenfallen – aber dann sind die Schmetterlinge schon ausgekrochen. In dieser Geschichte löst sich die Seele ganz langsam vom Irdischen, sie geht durch einen Zwischenzustand und macht sich bereit, in die Welt der Ewigkeit einzutreten.
Als zweites Beispiel möchte ich Nelly Sachs nennen. Sie hat, ebenso wie Celan und Rose Ausländer, in der Nazi-Zeit ein typisch jüdisches Schicksal erlitten und Entwurzelung, Hass und Ausgrenzung erfahren. Sieben Jahre lebte sie in Schweden in einer winzig kleinen Wohnung in Dunkelheit und Kälte.
Durch ihre tiefen Leiderlebnisse hat sie eine Lockerung erfahren, der sie reale übersinnliche Erlebnisse verdankt. Wenn sie nachts in ihrer Küche saß, sprachen ihre ermordeten Freunde zu ihr. Diese Erfahrungen sind für sie die Quelle ihrer Gedichte, die immer eine geistige Dimension mit ein- beziehen.
Sie selbst sagt über ihre Dichtung: „Das sind alles Versuche, die dicken Häute des Diesseits zu durchbrechen und hinaus zu gelangen.“ So lässt sie in ihrem „Chor der Toten“ die Verstorbenen selbst zu Wort kommen, eine Art Rückschau auf ihr vergangenes Leben.
Im „Chor der Ungeborenen“ sprechen in zartester Weise die Seelen der noch nicht Verkörperten, die sich anschicken auf die Erde zu kommen. Zauberhaft bildhafte Vergleiche findet sie, um diesen Ungeborenen eine Stimme zu geben. „Wie Tau sinken wir in die Liebe hinein“ so heißt es in diesem Gedicht. „Schmetterlingsgleich“ oder „wie Vogelstimmen“ nennt sie ihre Seelen „wir Morgenduftenden“ so benennen sie sich selbst, „wir kommenden Lichter für Eure Traurigkeit“.
Jedes Neugeborene bringt Licht auf unsere Erde. Auch Rudolf Steiner sprach davon, dass jedes Kind eine Botschaft aus der geistigen Welt mitbringt. In dem folgenden Gedicht begegnet uns sowohl die Welt der Toten, die uns unmittelbar umgibt, als auch die Welt der Ungeborenen, mit denen sich „Göttliches in die Erde einschifft.“
An unseren Hautgrenzen
tastend die Toten
Im Schauer der Geburten
Auferstehung feiernd.
Wortlos gerufen
schifft sich Göttliches ein.
Auch Rose Ausländer erlebte Gefahr und Bedrohung in der Nazizeit. Sie lebte jahrelang sehr dürftig in einem Keller eines Ghettos in Czernowitz und musste Zwangsarbeit schwerster Art leisten, bevor es ihr gelang nach Amerika auszuwandern.
„Schreiben war Leben – Überleben“ sagte sie einmal. Ihre Sprache ist schlicht und klar, ganz zurückgenommen, wirklich Sprachkeime, die sich im Leser entfalten können.
Der Förderer ihrer Gedichte Martin Margul- Sperber charakterisierte sie in einer Rede so: „ Es ist eine geistige Landschaft in ihr, die seelisch erschüttert, ein denkendes Herz, das singt.“ Wie treffend! Ein denkendes Herz, das singt, ganz aus einer inneren Mitte heraus scheinen ihre oftmals erstaunlichen Gedichte geschöpft zu sein. Ganz schlicht kündet sie von den großen Themen unseres Daseins, von den Bereichen jenseits der Schwelle, von Vorgeburtlichen und Nachtodlichem.
In dem folgenden Gedicht „Lauschen“ horcht sie in den Kosmos hinein, erahnt, dass wir Menschen etwas mit dem Kosmos zu tun haben, dass dort etwas aufbewahrt wird, was uns angeht. Aber das Erlauschte ist zart und im Grunde genommen „unsagbar“, es kann nur zwischen den Zeilen aufleuchten. So fährt sie in der 2. Strophe fort:
Sonne, Sterne und Traum
erzählen
was vor deiner Geburt geschah
was nach deinem Tod
sich ereignen wird
Es heißt
sie belauschen
Wiedergeburt
Wenn wir die heutige Dichtung durchstreifen, so stoßen wir immer häufiger auf Schriftsteller, die das Thema der Wiedergeburt in ihre Werke hineinflechten. Sei es Doris Lessing, sei es Abram Terz und viele andere. Hier sei ein kurzes Gedicht von Franz Werfel genannt. Wenn wir es lesen, so spüren wir, dass er es nicht nur theoretisch erörtert, sondern aus einer ahnenden Erkenntnis heraus spricht:
Wo ist…
Ich trage viel in mir
Vergangenheit früherer Leben
Verschüttete Gegenden
Mit leichten Spuren von Sternenstrahlen
Oft bin ich nicht an der Oberfläche
Hinabgetaucht in fremdeigene Gegenden bin ich
Das Leben spielt sich für diese Dichter nicht nur zwischen Geburt und Tod ab, sondern die Grenzen verschieben sich, das Bewusstsein spannt einen größeren Bogen vom Vorgeburtlichen zum Nachtodlichen, zur Wiedergeburt und oftmals ins Kosmische hinein.
die geistige Welt ist unmittelbar im Hier und Jetzt anwesend
Jetzt möchte ich zwei Dichter nennen, bei denen die geistige Welt unmittelbar im Hier und Jetzt anwesend ist. Wir können sie in jedem Augenblick betreten, wenn wir entsprechend vorbereitet sind. In uns finden wir den Eingang zur übersinnlichen Welt.
Eugen Ionesco „Fußgänger der Luft“
Auf der Bühne befindet sich ein Abgrund. Der Schriftsteller Behringer befindet sich gerade in dem Türrahmen seines Hauses, also auf der Schwelle, als dieses durch eine Bombe in die Luft gesprengt wird. Er überlebt und nimmt jetzt wahr, dass es jenseits des Abgrunds eine unsichtbare Wand gibt, hinter der sich eine geistige Welt ausbreitet. Er nennt sie die Ultra- oder Anti-Welt, für die er zwar keine Beweise habe, aber von deren Existenz er überzeugt sei.
Behringer sagt: „Die Anti-Welt… wie soll ich sie erklären? Es gibt keinen Beweis dafür, doch wenn man darüber nachdenkt findet man sie in seinem Denken wieder. Sie ist eine geistige Gewissheit.
Es gibt nicht nur eine Anti-Welt, es gibt mehrere Welten, die ineinander greifen. Sie überschneiden sich, schichten sich übereinander ohne sich zu berühren, denn sie können im selben Raume bestehen.“
die Fähigkeit „in der Luft zu gehen“
Ein wenig später spricht Behringer davon, dass diese Anti-Welt auch die Welt der Toten sei und dass wir die Grenze dorthin leicht überschreiten könnten, wir müssen nur eine bestimmte Fähigkeit erlernen, nämlich die Fähigkeit „in der Luft zu gehen“. Er erlernt diese Fähigkeit, und zwar durch seine Willenskraft und durch die Kraft seiner Gedanken.
Behringer gelangt als Fußgänger der Luft in die Welt auf der anderen Seite der Wand. Aber er sieht dort seltsame und furchterregende Dinge, nicht Licht und Schönheit, wie er vielleicht erwartet hatte, sondern Tiergestalten, gefallene Engel und Erzengel, Zerstörung, Flammen und Eiswüsten.
Aber er steigt höher und immer höher und berichtet anschließend davon:
„Ich war sehr hoch oben, um zu sehen, was in allen Himmelsrichtungen vorgeht… Ich erreichte den First des unsichtbaren Daches, wo Raum und Zeit sich begegnen. Ich berührte ihn mit der Stirn“
Aber dieser Höhe ist er noch nicht gewachsen. So vermag er nur in unzusammenhängenden Worten zu stammeln:
„…Noch ist es nichts…Im Augenblick…ist es noch nichts…noch nicht…im Augenblick…“
Seine Entwicklung muss noch weitergehen. Aber er hat schon die Tür zur übersinnlichen Welt aufgetan. Und wo war diese Tür? In seinem eigenen Denken.
Es gibt noch eine andere Tür, die uns in eine tiefere Daseinsschicht hineinführt. Diese Tür kann sich ganz plötzlich öffnen. Sie befindet sich in der Mitte unseres Herzens. Vielleicht kennen wir alle diese besonderen Augenblicke, die unvermittelt auftauchen können. Die noch lebende Schriftstellerin Heidi Overhage-Baader beschreibt sie in folgendem Gedicht:
Dort, wo Begegnung geschieht
geschieht sie an jenem anderen Ort
der plötzlich hier ist
mitten unter uns
Lichtjahre vorausgeahnt
staunt einer im Auge es Anderen
Ungeteilt blickt es uns an
Regenbögen erhellen
den Iris Achat
mitten unter uns
die „Botschafter“ von weither, von jenseits der Mauer
Eine weitere Dimension in der Dichtung begegnet uns in dem Gedicht „Die Botschafter“ von Hilde Domin. Wie ein Lichtstrahl fällt etwas Kosmisches in den Menschen hinein. Erinnern wir uns daran, dass die Engel auch Boten genannt werden.
Hilde Domin schildert am Anfang ihres Gedichtes, wie die „Botschafter“ von weither kommen, von jenseits der Mauer; wie sie einen weiten Weg zurückgelegt haben, barfuß, das heißt, ohne die Erdenschwere festen Schuhwerks. Warum kommen sie? Warum haben sie diesen weiten Weg auf sich genommen?
um dieses Wort abzugeben.
Einer steht vor dir
in fernen Kleidern
Er bringt das Wort Ich
Er breitet die Arme aus
Er sagt das Wort Ich
Mit diesem trennenden Wort
eben saht ihr euch an
ist er nicht mehr
geht in dir weiter.
Das Ich als Engelsgeschenk, als Gabe der Hierarchien. Dieses Ich trennt mich zwar von anderen Menschen, aber gibt mir die Fähigkeit als Individualität einen ganz eigenen Weg einzuschlagen und mich bewusst mit anderen Individualitäten zu verbinden. Wenn Hilde Domin in einem nachfolgenden Gedicht schreibt:
Über mir
wölb ich den Lichtball
so sehen wir, dass dieses Ich die Fähigkeit hat, selber an seiner Verwandlung zu arbeiten. Dieses Ich ist in der Lage immer „neue Junge zu werfen“ „Neugeburten“ wie es in dem Gedicht weiter heißt. Das ist der schöpferische Mensch, der es schafft „in einer Fruchthülle aus Licht“ zu leben und tätig zu sein.
Wenn wir jetzt zurückblicken auf alle Beispiele, die ich angeführt habe, dann können wir uns doch fragen, was ist das eigentlich, was uns da entgegenkommt? Ist es nicht wie ein Licht aus der geistigen Welt, das in unsere physisch sinnliche Welt hineinbricht? Und das die Dichter erreicht, weil sie durchlässig sind und sich bereit gemacht haben, diese geistige Dimension in ihr Bewusstsein aufzunehmen und sich durch sie zu verwandeln? Und ist das nicht genau das, was Rudolf Steiner das Geist-Selbst nennt? In einem Vortrag beschreibt Rudolf Steiner dieses Geist-Selbst als unseren Genius, der über uns schwebt und dem wir Nacht für Nacht begegnen. In seiner „Theosophie“ benennt er es so: „Das Geist-Selbst ist eine Offenbarung der geistigen Welt innerhalb des Ich“.
Haben die Dichter dieses Geist-Selbst in sich erfahren? Und ist nicht genau das der Vorbote eines neuen Menschen in uns, von dem am Anfang die Rede war? Die Dichter haben Worte für das Neu-Aufbrechende gefunden. Aber es vollzieht sich in uns allen, in aller Stille reift es und bereitet sich vor:
Die Geburt eines neuen Menschen.